Rund ums Glas |
von Anne Pöttgen In den sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts entstand in Gerresheim eine der ersten modernen Glashütten. Der Beginn war allerdings bescheiden: Zwölf Glasmacher begannen ihre Arbeit in vier Hüttenhäusern mit je vier Glasöfen. Natürlich brachten sie ihre Familien mit und der Besitzer der Glashütte, Ferdinand Heye, baute für sie die ersten Werkswohnungen, denen alsbald ganze Siedlungen folgten: die „Altstadt“, die „Neustadt“, die Siedlungen „Neubau“ und „Nachtigall“ und einige andere. Der poetische Name „Nachtigall“ für die doch sehr einfache Siedlung stammt von einem Forsthaus, das in der Nähe stand. Die Arbeiter und ihre Familien wohnten mietfrei, um ihrem „Wandertrieb“ entgegen zu wirken. Wenn ihnen irgendetwas nicht passte, pflegten sie nämlich ihre Siebensachen zu packen und mit ihrer Familie weiter zu ziehen. Um das Jahr 1900 waren es bereits 1.252 Wohnungen in acht Siedlungen. Flickenteppich Aus einem Flickenteppich von sprachlichen Minderheiten entstand in Neugerresheim, dem Unteren Gerresheim, wie es heute heißt, die gemeinsame Sprache einer größeren Minderheit, der „Hötter“. Ihr Hötter Platt war die Sprache der „aufe Hütte“ beschäftigten Glasmacher und ihrer Familien. Diese Sprache, die allerdings nicht einheitlich in allen Familien gesprochen wurde, sondern je nach Herkunft Abweichungen hatte, ist im europäischen Sprachraum einmalig. Heute wird sie nur noch von einigen wenigen, meist älteren Leuten gesprochen. Die Glasmacher stammten vorwiegend aus dem Osten: Brandenburg, Pommern, West- und Ostpreußen, aber auch aus Russland, Polen, dem Baltikum und Böhmen und Mähren. Sie arbeiteten und wohnten in enger Gemeinschaft und mussten sich miteinander verständigen. Abseits Zwischen dem alten Gerresheim mit seiner schönen mittelalterlichen Stiftskirche und dem neuen Ortsteil lagen nicht nur zwei Kilometer Wegstrecke durch unbebaute Felder und Wiesen sondern „Welten“. Hier die gut katholischen Bürger dort die meist evangelischen Glasarbeiter. Auch politisch hatten die Arbeiter, die erst einmal über ihren Glasarbeiterbund ihre Arbeitsbedingungen auskämpfen mussten, eine andere Einstellung als ihre Nachbarn. Das geschichtsträchtige Gerresheim hatte 1861 gerade einmal um die 1.558 Einwohner. Im Jahr 1908, kurz vor seiner Eingemeindung nach Düsseldorf, waren es bereits 15.396. Der Hauptanteil daran lag bei den Glasmachern und ihren Familien. Seit hundert Jahren sind die „Hötter“ nicht nur Gerresheimer sondern auch Düsseldorfer. Trotzdem halten auch heute noch die alten Familien zusammen. Seit Jahren werden Erinnerungen gesammelt, Texte und Fotos bilden inzwischen ein privates Archiv, zu dem auch eine CD mit persönlichen Erinnerungen gehört. Glasmacher Glasmacher waren Eigenbrötler, immer schon. In früheren Zeiten zogen sie mit ihrem Hüttenmeister, wohin sie gerufen wurden. Voraussetzung für das Glasmachen waren Rohstoffvorkommen und Waldreichtum. Das Glasgemenge bestand aus Sand, Pottasche und Kalkstein. Die „Öfen“ waren dreiteilig: unten der Feuerofen, in der Mitte die Gefäße mit dem Glasgemenge, die Häfen und oben der Kühlofen zum Abkühlen der fertigen Waren. Mit den Bauern in den umliegenden Dörfern hatten sie wenig Kontakt, sie hielten selbst Ziegen, Schweine und Kühe, die im Wald weiden durften. Allein im Weserbergland gibt es Reste von hunderten von verlassenen Glasbläserplätzen. Denn nach erledigter Arbeit, meist wenn alles Holz verbrannt war, zogen sie weiter. Industrialisierung Diese Methode des Glasmachens wurde bis ins 19. Jahrhundert beibehalten. Irgendwann wurde statt des Holzes die Steinkohle zum Glasschmelzen eingesetzt und die Produktion wurde umfangreicher. Aber auch am Ende des 19. Jahrhunderts zogen die Glasmacher noch von Ort zu Ort. So erzählt jemand, der selbst seit 1954 bei der Gerresheimer Glashütte beschäftigt war, dass seine Großeltern aus dem Böhmerwald stammten, dann über Masuren und andere Orte nach Gerresheim gelangten. Die 12 Geschwister seines Vaters hatten die unterschiedlichsten Geburtsorte in ihren Papieren. Nur acht Stunden Arbeit, bessere Arbeitsbedingungen, freie Wohnung und Feuerung, das waren die Lockmittel für die Glasmacher aus dem Osten. Fast die ganze Belegschaft einer Glashütte in Tilsit machte sich per Eisenbahn auf den Weg nach Westen. Der Zug der Trecker war aus Wagen vierter Klasse zusammengestellt, ohne Wasch-, noch Schlaf- noch Sitzgelegenheiten. Acht Tage dauerte die Fahrt in den Goldenen Westen. Links Glashütte Gernheim im Weserbergland Hötter Platt , Sprechprobe, nach unten scrollen Private Erinnerungen Zum Teil aus Texten und Erzählungen von O. Reichmann und A. Heyer |
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