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Geschichte der Zahlen
                                  von Lore Wagener
Was unsere materiellen Güter „wert" sind, beschreiben wir mit Zahlen und Maßen. Aber unsere Zahlen waren nicht von Anfang an da. Sie haben vielmehr eine uralte Entwicklungsgeschichte.

Finger und Zehen
Zahlen und Zählsysteme zu erfinden, war gewiss ein Geniestreich der Menschheit. Forscher vermuten, dass schon in Urzeiten ein gewisses Gefühl für Mengen da war, denn die Urvölker haben auch ohne Nachzählen bemerken können, dass Tiere aus ihren Herden fehlten oder zugelaufen waren. Sie hatten sogar schon eine Art Buchführung. Im Gebiet der heutigen Tschechei fand man einen 20 000 Jahre alten Wolfsknochen mit 55 systematisch angeordneten Kerben. Er könnte etwa von einem Jäger stammen, der damit Buch über seine Jagderfolge führte. Bald entdeckten die Menschen auch, dass sie selbst praktische Zählhilfen hatten: ihre Finger und ihre Zehen. Und mit Kieselsteinen lernten sie das Rechnen. Dazu schichteten sie Kieselsteine auf kleine Haufen. Darauf weist noch heute das Wort „Kalkül" hin, denn das lateinische Wort „calculus" bedeutet „kleiner Kieselstein". Später nahmen sie diese für ihre  erste Rechenmaschine, den  Abakus.

Zahlensysteme der Frühzeit

Finger und Zehen hatten einen entscheidenden Einfluss auf die Zählsysteme der frühen Kulturen. Griechen, Mayas und Chinesen benutzten die natürliche Gliederung, die sich durch die fünf Finger einer Hand ergibt. Die zehn Finger beider Hände nahmen die Ägypter und zunächst auch die Babylonier und Sumerer als Basis. Kelten und Azteken nahmen noch die Zehen hinzu und hatten so eine 20er.Stufung in ihrem Zahlensystem. Dies macht sich noch heute beim englischen Pfund mit seinen 20 Schillingen bemerkbar. Auswirkungen bis in die heutige Zeit hat auch die 60er Stufung der Sumerer und Babylonier, das Sexagesimalsystem. Warum es entstand, weiß man nicht so genau. Diese Kulturen haben jedenfalls das Jahr in 360 Tage, den Kreis in 360 Grade und die Stunden in jeweils 60 Minuten und die Minute in 60 Sekunden eingeteilt. Es gab aber auch einige alte Kulturen mit einem 12er System, das noch bis ins 19. Jahrhundert hinein einige Maße und Gewichte, wie Zoll Dutzend oder Fuß, bestimmte.

Zahlen und Buchstaben

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griechisches Zahlenalphabet

In die Entwicklung der frühen Schriftzeichen wurden auch die Zahlen einbezogen. So entstanden die Zahlenalphabete der Araber, Hebräer oder der Syrer. Auch die altgriechischen Schriftzeichen sind zugleich Zahlzeichen. Es gab dort zwei Zählweisen, deren Gebrauch schon in der Ilias belegt ist.
Eine besondere Entdeckung war die Null als Zahl. Sie wurde gleich drei Mal erfunden: von den Babyloniern, den Mayas und den Indern. Eigentlich ist diese Null gar keine Zahl, sondern beziffert das Nichts, gleichzeitig aber verzehnfacht sie jede vor ihr stehende Zahl.
Ein weiterer Geniestreich der Babylonier war die Erfindung der ältesten bekannten Stellenwertschrift. Das ist die Zahlschrift, bei der jede Stelle einer Zahl einer Potenz der benutzten Basis entspricht. So verändert zum Beispiel eine Drei ihren Wert, je nachdem, ob sie an erster, zweiter oder dritter Stelle einer Zahl steht, sie bedeutet dann zum Beispiel drei, dreißig oder dreihundert.

Die römischen Zahlen
römischer Abakus
römischer Abakus

Die alten Römer verwendeten ein separates Zahlensystem unter anderem mit den Zahlzeichen M, D, C, L, X, V, I. Das sieht zunächst recht einfach aus, denn wenn man die Symbole kennt, dann erfasst man mit einem Blick die Größe der dargestellten Zahl. Das Rechnen ist mit diesem System aber sehr umständlich. Man kann das leicht erkennen, wenn man versucht, größere römische Zahlen schriftlich zu addieren. Kompliziertere Rechenoperationen wären damit kaum möglich gewesen. Die haben die Römer lieber mit ihrem speziell römischen Abakus gemacht. Historiker meinen, dies sei vermutlich eine Erklärung dafür, dass die ansonsten hochstehende Kultur der Römer keine Entdeckungen in Physik, Mathematik oder Astronomie hervorgebracht hat.
In Europa wurde das Römische Zahlensystem bis ins 15. Jahrhundert verwendet.  Heute ist es noch für die Nummerierung von Herrschernamen oder von Buch-Kapiteln gebräuchlich.

Die arabischen Zahlen
Allen vorgenannten Zahlensystemen war letztlich gemeinsam, dass die Rechenoperationen mit vielen Zerlegungs- und Zusammenfassungsregeln arbeiteten und somit viel Zeit in Anspruch nahmen. Die „Rechenkünstler" waren wegen dieser schwierigen Prozesse hoch angesehen. Der Durchbruch zu einem praktischeren System gelang schließlich den indischen Mathematikern und Astronomen. Sie entwickelten ein Dezimalsystem, das wir im Prinzip noch heute haben. Es ist ein Stellenwert-System mit den zehn Ziffern 0 bis 9, für das sie praktikable Regeln schufen. Es ermöglicht alle erdenklichen Rechenoperationen, auch schwierige astronomische Berechnungen. Die bei uns so genannten arabischen Zahlen stammen also in Wahrheit aus Indien. Ziffern heißen sie nach dem arabischen sifr, Leere, Nichts.
Die Weiterentwicklung der Mathematik, der Arithmetik, aber auch des mathematisch- naturwissenschaftlichen Denkens in der Neuzeit wäre ohne dieses System nicht möglich gewesen.

Der Weg ins Abendland
al Chwarizmi-Denkmal
al Chwarizmi-Denkmal

Die Anfänge dieses indischen Systems werden auf etwa 400 n. Chr. datiert. Es entwickelte sich rasch und so dauerte es nicht lange, bis die Inder damit arbeiteten. Um 600 n. Chr. hat der indische Gelehrte Brahamagupta, der das Observatorium in Ujjain (im indischen Bundesstaat Madhya) leitete, das System in seinen astronomischen Schriften dargestellt-. Diese wurden im 9. Jahrhundert n. Chr in Bagdad von dem persischen Gelehrten al Chwarizmi ins Arabische übersetzt und später von ägyptischen Mathematikern, wie Abū Kāmil, weiter entwickelt. Das System verbreitete sich im gesamten arabischen Raum bis hin zum spanischen al Andalus. Der Franzose Gerbert de Aurillac, der spätere Papst Sylvester II., lernte es um 967 n. Chr. in Spanien kennen. Mitte des 12. Jahrhunderts wurden die Schriften von al Chwarizmi in der Übersetzerschule von Toledo von dem englischen Arabisten Robert of Chester und dem italienischen Kirchenmann Gherhardo da Cremona ins Lateinische übertragen.

Das Erbe der Antike
Liber Abaci
Liber Abaci

Gherhardo da Cremona hat mit fast 70 Übersetzungen wesentlich dazu beigetragen, dass wichtige Werke sowohl der antiken griechischen als auch der mittelalterlichen arabischen Philosophie und Wissenschaft in der lateinischen Welt bekannt wurden. Seine Übersetzungen übten nachhaltigen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung in Europa aus.
Aber auch auf anderen Wegen kamen Europäer mit den arabischen Schriften in Berührung, zum Beispiel auf ihren Kreuzzügen oder durch ihre Handelskontakte im Mittelmeerraum. Dort sammelte zum Beispiel der Italiener Leonardo da Pisa, auch Fibonacci genannt, etwa um 1200 n. Chr. den Stoff für seine grundlegende lateinische Schrift „Liber abaci". Sein Werk fußte auf den Schriften des Abū Kāmil. Fibonacci entwickelte darüber hinaus eine für das Mittelalter einzigartige Synthese aus kaufmännischem Rechnen, traditioneller griechisch-lateinischer Arithmetik und arabisch-indischer Mathematik und war damit seiner Zeit voraus.

Die Bewahrer
Bewahrer und Träger des von den Arabern übernommenen antiken Kulturerbes wurden zunächst die europäischen Kloster- und Kathedralschulen, die Schulen der beiden großen Bettelorden und die Universitäten. Diese Institutionen sorgten für die Abschrift, Kommentierung und Verbreitung der antiken Schriften und überprüften sie auch nach der damaligen scholastischen Lehrmeinung.
Kirche und Obrigkeit standen den fremdländischen Zahlzeichen zunächst misstrauisch gegenüber, wie eine Episode zeigt, die sich in Florenz zutrug. Dort gab es 1299 n. Chr. einen Erlass, der es den Kaufleuten und Bankhäusern verbot, in der Buchführung die fremden Ziffern zu verwenden, da „die Null den Betrügern Tür und Tor öffne". Bald darauf jedoch begannen die florentinischen Kaufleute wieder, die praktischen arabischen Ziffern in den Kontobüchern zu verwenden, und es wurden sogar allgemein verständliche Rechenbücher über das neue System in italienischer Sprache verfasst.

Adam Ries
Adam Riese
Adam Riese

Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der neuen Zahlen in Deutschland spielten die sogenannten Rechenmeister. Sie gehörten zu einem Berufsstand, der sich damals bildete, um alle Bürger mit dem neuen System vertraut zu machen. Die Rechenmeister unterhielten oft eigene Rechenschulen, in denen man gegen Bezahlung die neuen Methoden erlernen konnte. Sie schrieben über ihr Thema häufig volksnahe „Rechenbüchlein", die übrigens zu den frühesten Druckerzeugnissen gehörten. Einer der bekanntesten Autoren dieser Rechenbüchlein war der Bergbaubeamte Adam Ries (1492 - 1559) aus dem Erzgebirge, der „sprichwörtliche" Adam Riese.

Links
Die arabischen Zahlen

Rechenhilfsmittel

Der Rechenmeister Adam Riese

Georg Ifrah; Universalgeschichte der Zahlen
 

 
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