von Sibylle Sättler
Das Hinunterschrauben des Substantivs „Mäßigkeit" zum
Adjektiv „mäßig" reißt keinen vom Hocker; im Gegenteil verführt das Urteil
„mäßig" eher zum Gähnen, und das auch noch in Verbindung mit „Tugend"!
Von Tugenden
und Kardinaltugenden
Den Ursprung aller Theorien zu den Tugenden findet man in der Antike bei den
Philosophen Platon und Aristoteles. Gerechtigkeit (iusticia), Tapferkeit
(fortitudo), Weisheit (sapientia) und Mäßigkeit (temperantia) werden zu den
vier Kardinaltugenden erhoben. Das Christentum fügte diesen später die drei
„Theologischen Tugenden" Glaube, Hoffnung, Liebe" hinzu.
Neben den vorgenannten haben das Thema „Tugenden" sämtliche Philosophen bis zu Kant,
Fichte, Hegel und Schopenhauer behandelt. Einer der vielen Kernsätze (Kant)
lautet: „Tugend ist die moralische Stärke des Menschen in Befolgung seiner
Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich
aus der Denkungsart hervorgehen soll." Bei Schopenhauer allerdings beruht die
Tugend auf Erkenntnis und Intuition und ist nicht vermittelbar.
Aristoteles
Bei näherem Hinsehen werden Tugenden also durchaus interessant. Denn Sinn und
Zweck aller Tugend-Theorien ist das Streben des Menschen nach einem guten und
möglichst glücklichen Leben, „nach Vervollkommnung seiner Natur gemäß seinen
Anlagen, um in Harmonie mit sich selbst zu leben". Wer möchte das nicht?
Neben den vier Kardinaltugenden des Verstandes erlangen bei Aristoteles
folgende Charakter-Tugenden größte Wichtigkeit: Freigebigkeit,
Hilfsbereitschaft, Seelengröße, Sanftmut, Wahrhaftigkeit, Höflichkeit und
Einfühlsamkeit. Doch die Kardinaltugend der Weisheit steht an erster Stelle.
Durch die geistige Beschäftigung mit philosophischen Fragen erreicht der Mensch
größtes Glück.
Die Kardinaltugend „Mäßigkeit"
Temperantia; Edward Burne-Jones
Der Begriff „Mäßigkeit" ist heute ungewöhnlich. Geläufige Synonyme sind
Mäßigung, Maß, das rechte Maß oder Maßhalten (Ludwig Erhards Appell 1965). Im
Kanon der Tugenden nimmt die der Mäßigkeit eine besondere Stellung ein. Im
Verbund mit den übrigen Tugenden bringt die Mäßigkeit jede Einzelne zu höchster
Vollkommenheit, ohne sie bleiben die Tugenden stumpf und leblos, denn,
missverstanden, können sie ohne das rechte Maß zu ihren jeweiligen Extremen
führen. Dabei kann, vorübergehend, ein Ausschlag zu dem einen oder anderen
Extrem hin durchaus reizvoll sein. Wichtig auf Dauer ist aber, die Balance zu
halten. Unter gleichen äußeren Bedingungen macht die Persönlichkeit des
Menschen hier den Unterschied.
Angewandte Tugend der Mäßigkeit
Auf irgendeine Weise haben wir alle, ob bewusst oder nicht, mit der Umsetzung
der Tugend der Mäßigkeit im täglichen Leben zu tun. Bei allem Handeln muss das
rechte Maß austariert werden. Die Mäßigkeit hält die Mitte zwischen den Polen Übertreibung
und Mangel. So kann die Tugend der Tapferkeit (ohne Mäßigkeit) in ihre Extreme ausarten:
in Tollkühnheit oder Feigheit. Essen ohne Maß kann im gegensätzlichen Extrem führen
zu Völlerei oder, wie leider heute oft in unserer Wohlstandsgesellschaft praktiziert,
zu Nahrungsverweigerung mit Untergewicht zur Folge bis im äußersten Fall zum
Tode. Die Beweggründe für Letzteres wie auch für das Trinken von Alkohol im
Übermaß müssen außen vor bleiben, bringt Alkohol doch, im rechten Maß genossen,
geistige Anregung und Vergnügen.
Sprachlich bedeutet jeder „Ismus" (Beispiel Alkoholismus) eine Zuspitzung in
Richtung Zuviel.
Weniger ist mehr
"Haben Sie noch mehr Schmuck zu Hause?" ist eine legitime Frage an eine Frau,
die ihren Schmuck im Übermaß zur Schau stellt.
Ein Zuviel an Arbeitseinsatz kann einen Menschen zum Workaholic machen, den
Gegenpol stellt ein phlegmatischer oder desinteressierter Mitarbeiter dar.
Deutschland verzeichnet nach wie vor einen hohen Exportüberschuss, dem zu wenig
Importe gegenüberstehen, was einem Ungleichgewicht in der Handelsbilanz entspricht.
Ein weiteres Ungleichgewicht besteht in der zu geringen Inlandsnachfrage und
dem ausgeprägten Sparwillen auf der anderen Seite. Gern wird in diesem
Zusammenhang „Tschoppen" (lautsprachlich) als glücklich machend propagiert. Der
uns von der Werbung gern eingeredete Bedarf an immer neuen Gegenständen kann zu
Überfluss auf der einen und Überschuldung auf der anderen Seite führen.
Die Unmäßigkeit
Die Devise „schneller, effektiver, ertragreicher" wird uns gern als bestimmender
Faktor für unser Leben vorgegaukelt. Sie trägt bei zur Unmäßigkeit in unserer
Ellenbogen-Gesellschaft, angefangen beim Kampf um den Arbeitsplatz und endend
beim allein zählenden „Shareholder-Value" einer Aktiengesellschaft. Die
Finanzkrise aus dem Jahre 2009 demonstriert ein Verhalten der Geldgier
ohnegleichen. Unternehmergewinne steigen wieder, das Geld wird aber nicht in
den Betrieb investiert, sondern in Investment Fonds angelegt.
Die Katastrophe der Love-Parade vom 24. Juli 2010 in Duisburg stellt zu
unserem großen Entsetzen ein Paradebeispiel verhängnisvollen Ineinanderspielens
von „Gier und Größenwahn" (Rheinische Post, 23. 7. 2011) dar. Jeder, der
die Örtlichkeiten in Augenschein nahm, hätte vor einer solchen Veranstaltung
gewarnt, und gewarnt wurde durchaus vorher!
Der Kampf gegen die Unmäßigkeit
Die Industrienationen nehmen die Ressourcen unseres Planeten im Übermaß für
sich in Anspruch. Sie lassen damit die Bedürfnisse der Staaten der Dritten Welt
und die nachfolgender Generationen außer Acht. Wir leben im Überfluss, in den
Ländern am Horn von Afrika leiden zurzeit eine halbe Million Kinder unter der
Dürre. In vielen Teilen der Welt wird gehungert, Medikamente für heilbare
Krankheiten gibt es zu wenig, das Existenzminimum ist für viele Menschen nicht
erreichbar.
Die Erkenntnis ist, dass nur durch den Abbau von Privilegien oder durch unseren
Verzicht auf „Zuviel" der Kampf um mehr Ausgewogenheit in der Welt gewonnen
werden kann. Wahrscheinlich erfolgt dieser Abbau nicht freiwillig, sondern muss
mühsam erkämpft werden.
Wege der Selbstbeschränkung
Die European Business School legt Wert darauf, ihre Absolventen nicht nur mit dem
Handelsnotwendigen vertraut zu machen, sondern genauso mit den moralischen
Maßstäben ihres Handelns. Man denkt an den ehrbaren Kaufmann.
Die Bereitwilligkeit zu Besinnung und Selbstbeschränkung kann zur Besserung
führen. Fangen wir mit dem Verzicht bei uns an. Hat man nicht längst erkannt,
dass Glück nur individuell erreicht werden kann? Dass man sich darum mühen
muss? Es kommt weder angeflogen, noch kann jemand anders uns vorsagen, wo für
uns das Glück liegt. Aber wie stolz kann der sein, dem es gelungen ist, seinen
inneren Schweinehund zu besiegen! Es bleibt der Vorsatz des ernstlichen
Bemühens, aber auch die Gewissheit: Die Mühe lohnt sich! Aristoteles sei Dank!
Und mit Goethe, Faust II: „Wer immer strebend sich bemüht, den wollen wir
erlösen."
Links
http://www.zeno.org/Kirchner-Michaelis-1907/A/Tugend
http://www.textlog.de/33455.html
Photo von Edward Burne-Jones 1872
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