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„Vom Wert des Menschen“
                                      von Erdmute Dietmann-Beckert
Diesen Titel trägt eine Dauerausstellung in Gießen im Zentrums für Soziale Psychiatrie.
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Sie befindet sich im Kellergeschoß von Haus 10. Fünfzehn Schautafeln informieren über die Geschichte der Heil-und Pflegeanstalt von 1911-1945.

Der Ort
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Rechts und links der Allee stehen etwas versteckt zwischen den Bäumen die verschiedenen Pavillons. Ich betrete Haus 10, die Psychosomatik. In der ehemaligen Patienten-Caféteria im Untergeschoss, finde ich fünfzehn Tafeln und Pulte mit Ordnern. Die Wände der kreuzförmig angelegten Räume sind weiß angestrichen. Neonröhren verstärken das Tageslicht, das durch die kleinen Fenster fällt. Mit dem Klappstuhl in der Hand gehe ich von einer Station zur anderen. Auf den Schautafeln wird stichwortartig ein erster Überblick vermittelt. Auf den Pulten daneben liegen Ordner mit Texten, Bildern, Zeichnungen und Kopien von Originaldokumenten. Die einzelnen Blätter sind mit Folien geschützt. Die Ordner bieten die Möglichkeit, mit weiteren Texten oder Bildern ergänzt zu werden. An manchen Stationen sind zum Thema passende Gegenstände in Vitrinen ausgestellt.

Geschichte des Zentrums
Am südöstlichen Rand der Universitätsstadt Gießen wird kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Heil-und Pflegeanstalt, genannt Irrenanstalt, errichtet. Diese Klinik umfasst 440 Betten. Hier sollen akute Krankheitsbilder behandelt werden. Die Patienten werden von Ärzten oder der Polizei eingewiesen. Die Ärzte der Anstalt haben die Möglichkeit sich fortzubilden. Sie erhalten einen Beamtenstatus. Sie müssen mit dem Regime des Kaiserreichs übereinstimmen und dürfen nicht Mitglied der Sozialdemokratischen Partei sein.
Für die Kosten der Unterbringung müssen die Patienten aufkommen. Teilweise zahlen auch Krankenkassen oder Armenverbände. Die Patienten, die in der Klinik mitarbeiten, haben keinen Anspruch auf Bezahlung. Diese Regelung wird erst 1952 abgeschafft.
In der Weimarer Republik werden Reformen eingeleitet. Aber schon 1932 ist es damit zu Ende.
Während des Zweiten Weltkriegs dient die Klinik auch als Reservelazarett für die SS.
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Therapien
Männer und Frauen leben in getrennten Häusern. Sie werden nicht gemeinsam behandelt. Die Therapieformen ändern sich mit der herrschenden Politik. Während des Ersten Weltkriegs werden Soldaten, sogenannte Kriegszitterer, mit Elektroschocks behandelt. Siegmund Freud hat das kritisiert. Psychisch kranke Menschen sollen mit psychischen Mitteln geheilt werden.
Ab 1920 werden den kranken Menschen Sport und leichte Arbeit verordnet. Psychisch-somatisch Kranke erhalten auch eine Kur.
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Mit Beginn der Nazi-Diktatur setzt die „Rassenhygiene" ein und die Erbkrankheiten werden erforscht. Die Ärzte beziehen sich auf Charles Darwin und definieren die Menschen nach den „Gesetzmäßigkeiten der Vererbungslehre". Sie folgern daraus, dass, "minderwertiges" Erbgut nicht weitergegeben werden darf. Noch werden die Patienten vor der Sterilisation gefragt. Allgemein wird psychisch kranken Menschen, behinderten und auf Sozialhilfe angewiesenen zunehmend das Recht auf Leben abgesprochen.

Die Klinik im NS-Staat
Ab 1933 gewinnt der Begriff gesundes Erbgut an Bedeutung. Die Nazi-Ideologie fordert, dass „schädliches Erbgut" ausgemerzt wird. Patienten werden ohne Einverständnis sterilisiert. Die Pflegesätze der 3. Klasse werden von täglich 3,50 Reichsmark 1932, bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs auf 1,80 Reichsmark gekürzt. Damit werden die Essensrationen kleiner.
Pfleger und Pflegerinnen werden entlassen, ausgenommen sind „Altparteigenossen". Die Klinik ist zunehmend überbelegt.
Wohin eine Überbelegung und weniger zu essen führen können, zeigt die Krankenakte der Marie Bertha H.
1930 „läppische Demenz"
1936 „zeitweise" gewalttätig,
1940 schizophren, unsauber und unrein
1941 heißt es „von Weilmünster nach Hadamar verlegt".
Weilmünster gilt als Zwischenstation, bevor die Patienten zur Vergasung transportiert werden.

Euthanasie - Rassenhygiene

Auf privatem Briefpapier erteilt Hitler am 1. September 1939 die Ermächtigung, „unheilbar Kranken" den Gnadentod zu „gewähren". Viele Ärztinnen, Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger sind Parteigenossen. Sie sind über die „rassenhygienischen" Zugriffe informiert. Sie sorgen mit der Kürzung der Pflegegelder für eine Verschlechterung der Lebensbedingungen. Sie sind indirekte Helfer bei der Organisation der Euthanasiemorde. Unter dem Tarnnamen „Aktion T4", - er steht für einen Erlass aus Haus Nr. 4 im Berliner Tiergarten, - werden Patienten und Patientinnen in die Mordanstalt Brandenburg verlegt. Die Diagnose heißt, wie oben gezeigt: schizophren, schwachsinnig. Zur verordneten Medizin gehören auch Drogen, die eine Starre des Leibes, genannt „Katatonie", bewirken. Auch Phantasiediagnosen wie Idiotie, Imbezillität werden genannt.

Sammelanstalt Gießen
Die Klinik in Gießen wird zum Sammelort für geisteskranke Menschen. Hier werden Deportationen vorbereitet. Die Dokumentation berichtet unter dem 25. September 1940:
106 Patienten und Patientinnen aus Hessen werden nach Gießen gebracht und von dort zusammen mit 20 jüdischen Kranken nach Polen und in die Gaskammern der „Mordanstalt Brandenburg" verlegt.
Von Januar 1940 bis August 1941 werden 70.273 Menschen aus dem Reichsgebiet und Österreich getötet.

Das Schicksal der behinderten Jenny
Die jüdischen Patienten und Patientinnen werden in zweifacher Hinsicht verfolgt, als Kranke und als Jüdinnen und Juden.
Jenny wird 1885 in der Judengasse von Windecken geboren. Der Vater ist Stoffhändler. Jenny besucht von 1892 bis 1899 die Volksschule. Während der Grippeepidemie von 1915 erkrankt Jenny an einer Hirnhautentzündung, die für sie schwere bleibende Folgen hat. Sie wird in die Landesheilanstalt Marburg eingeliefert. Die Eltern sterben 1919. Jenny bleibt 25 Jahre in der Anstalt, bis sie 1940 mit 55 Jahren zwangsweise nach Gießen verlegt wird. Am 1. Oktober 1940 wird sie mit anderen jüdischen Geisteskranken nach Brandenburg verschleppt und vergast. Die Sterbeurkunde nennt als Sterbeort „Cholm", ein Phantasieort. Ihre beiden Brüder sind bereits 1937 aus Deutschland geflohen.

Schlussgedanken

Am Ende meines Rundgangs frage ich mich, warum die Ausstellung Vom Wert des Menschen heißt. Darf ein Menschenleben als unwert bezeichnet werden und darum vernichtet werden? Die Antwort ist: „Nein"! Das Leben eines Menschen ist immer wertvoll, auch wenn es von einer vermeintlichen Norm von Intellektualität abweicht.
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Heute ist die Klinik in der schönen Parkanlage ein Ort, wo sich kranke Menschen wohlfühlen dürfen.


Links
Die Klinik

Euthanasie und Gnadentod

Aus dem Rundbrief



 
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