von Annemarie Werning
Mit den Veränderungen durch Beruf und Familie
verändern sich auch viele Werte und Lebenseinstellungen im Laufe des Lebens.
Wie es bei meiner Freundin war, die ich kürzlich besuchen durfte, will ich hier
beschreiben.
Wiedersehen
nach langer Zeit
Der Kootenay See
Jetzt, nach 40 Jahren, habe ich meine Schulfreundin wieder
getroffen. Sie hatte mich in ihr Haus nach Kanada eingeladen. Im Alter von 30
Jahren sind sie, ihr Mann und die beiden drei und sechs Jahre alten Kinder von
Frankfurt nach Toronto - mit 2,5 Millionen Einwohnern
die größte Stadt Kanadas - gezogen. Schon damals habe ich - aus einer
Beamtenfamilie stammend und selbst im Staatsdienst - sie wegen ihres Mutes zum
Neuanfang bewundert. Die Kinder sprachen bald fließend englisch. Für die Eltern
dauerte es etwas länger, doch schließlich war das geschafft. Es stellte sich
beruflicher Erfolg ein. Die Kinder wurden selbstständig. Doch vor zehn Jahren zogen
sie einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben, beendeten ihre
Berufstätigkeit und verkauften ihr Haus in Toronto. Sie kamen nach Deutschland,
arbeiteten einige Jahre hier, auch um ihre Rentenansprüche aufzubessern. Doch
dann sehnten sie sich nach den Weiten Kanadas und zu ihren Kindern und
Enkelkindern zurück.
Aufbruch in ein neues Leben
Braunbär
Zurück in Kanada kauften sie zunächst ein Wohnmobil. Ihr Ziel war es, sich
in einer landschaftlich reizvollen Gegend niederzulassen. Sie suchten ein
Grundstück, auf dem sie selbst wohnen, aber auch noch Zimmer an Touristen
vermieten konnten. Auf der Suche nach ihrem Traumhaus fuhren sie durch die
Bundesstaaten Alberta und Britisch Kolumbien bis an die Küste des Pazifischen
Ozeans. Dort verliebten sie sich in eine unbewohnte, zum Kauf angebotene kleine
Insel. Aber zu jedem Einkauf und Arztbesuch auf eine Fähre angewiesen zu sein,
schreckte sie doch ab. Es dauerte ein halbes Jahr, in dem sie unzählige
Grundstücke im Westen Kanadas besichtigten, bis sie ihr Traumhaus am Ufer des
Kootenay-Sees in den West-Kootenays im Selkirk-Gebirge gefunden hatten. Dorthin
war ich eingeladen.
Fahrt vom Flugplatz zum Haus
Wapiti am Straßenrand
Ich war bis Calgary geflogen und habe die Gelegenheit genutzt, auf dem Weg zu
meinen Gastgebern durch die kanadischen Rocky Mountains nach Westen zu fahren.
Die weiten Wälder, schneebedeckten Berge und tiefen Seen und reißenden Flüsse
waren beeindruckend. Ein Wapiti spazierte neben der Straße, ein Elch weidete friedlich
am Berghang, Schwarzbären labten sich am Straßenrand an Waldfrüchten. Häuser,
Autos und Menschen gab es nur selten.
Schließlich kam ich zu dem Dorf, in dem meine nun auch schon 70-jährige
Schulfreundin sich mit ihrem Mann niedergelassen hat. Das Dorf zählt 1200
Einwohner. Die Häuser stehen aber nicht wie bei unseren Dörfern gehäuft um ein
Zentrum herum. Lediglich eine Tankstelle, ein kleiner Laden, ein Restaurant
bilden das Zentrum neben einer Fähranlegestelle. Alle anderen Häuser liegen
weit verstreut an einem Hang oder am Ufer eines riesigen Sees. Es gibt
Sammelbriefkästen, zu denen man fahren muss, um die Post abzuholen.
Die Lage des Hauses
Das Dorf versteckt im Wald,
Oben auf dem Berg fand ich das Haus meiner Freundin. Der Ausblick war
umwerfend. Zu Füßen des Hangs erstreckte sich der tiefblaue See, in der Ferne
ragten schneebedeckte Berge in die Höhe.
Ihr Grundstück war riesig. Die ersten Jahre, in denen sie dort wohnten, hatten
sie mit der Renovierung des Holzhauses verbracht. In Eigenarbeit haben sie
einen Anbau errichtet, den sie für Feriengäste hergerichtet haben. Jetzt steht
die Bepflanzung des weiteren Grundstücks an. Dazu hat meine Freundin Hunderte
von Blumen in Töpfen vorgezogen, die jetzt in den Garten gepflanzt werden.
Wie ist ihr Alltag?
Sammelbriefkästen
Jetzt im Sommer ist ihr Tag mit Gartenarbeiten ausgefüllt. Der Computer und das
Telefon stellen den Zugang zur Außenwelt und zu ihren rund 1000 km entfernt
lebenden Kindern her. Die Kreisstadt ist 35 km entfernt, sie hat knapp
zehntausend Einwohner und ist in 40 Minuten mit dem Auto zu erreichen. Dort
findet man einen Supermarkt und sogar einen Bio-Laden, der deutsches
Sauerteigbrot verkauft. Es gibt auch Ärzte, aber kein Krankenhaus. Kulturelle
Angebote gibt es in ihrem Dorf nicht.
Dafür umso mehr Natur.
Schwarzbär
Rehe laufen abends im Garten umher, meine Freundin wurde auch schon von einem
Schwarzbären überrascht, der sich in ihre Garage verirrt hatte. Im Winter fand
sie auch einmal die Spuren eines Berglöwen im Schnee. Freude machen im Winter
die zahlreichen Vögel, die ihre Futterstelle aufsuchen. Hin und wieder findet
ihr Mann ein angefahrenes Reh am Straßengraben. Es wird dann mitgenommen, zu
Hause gehäutet und fachgerecht zerlegt. Auch während meines Besuchs gab es
leckeres Wildbret. Ja, vor dem Winter gilt es, Holz zu hacken, denn geheizt
wird vorwiegend mit einem Kamin.
Frage nach der Zukunft
Blick von der Terrasse
Natürlich habe ich sie gefragt, wie sie ihr Leben bewältigen will, wenn sich
alters- oder krankheitsbedingte körperliche Gebrechen einstellen. Ich bekam zur
Antwort: „Warum soll ich mir darüber jetzt Gedanken machen. Kommt Zeit, kommt
Rat."
Ich bewundere den Mut, mit dem sie sich trotz ihres Alters auf ein neues Leben
eingelassen hat, ohne ihre Kinder und ohne Freunde in der Nähe, mit allen
Mühen, die ein Leben auf dem Land mit sich bringt. Besonders ihre Gelassenheit
beim Gedanken an mögliche Veränderung bewundere ich.
Alle Bilder Annemarie Werning
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