von Uwe Bartholl
„Deutschland,
Vaterland, wir kommen schon ...". So zog ich marschierend und singend
dreizehnjährig 1944 als Pimpf durch meine Heimatstadt. Das Attentat auf Hitler
war missglückt. Die Botschaft war eindeutig: Hitler sollte den Endsieg
herbeiführen. Auf uns, Deutschlands Zukunft, war Verlass.
Der Zusammenbruch
1945 lag dann alles in Schutt und Asche, woran ich geglaubt hatte, wofür es
sich lohnte, zu leben: für den Führer, für die mir eingepflanzten Ideale, die
in völliger Hingabe an das große Ziel gipfelten: Deutschland über alles. Was
war mit meinen Vorbildern aus der NS-Jugendliteratur, dem Hitlerjungen Quex
oder Schlageter? Das ganze Sterben für Führer, Volk und Vaterland umsonst? Es
gab keine Zukunft. -
Doch zurück an den Beginn von erinnerten Wertsetzungen.
Mein frühes Elternhaus
Ein Riesengarten umgab das Haus mit den vielen Zimmern für uns und Elfriede,
das Dienstmädchen und Wilhelm, der für Garten und Autos zuständig war. Uns
kannte jeder in der Kleinstadt. Wir waren wer. Und deshalb stand gutes Benehmen
oben an. „Was sollen die Leute von uns denken, wenn Du nicht richtig grüßt,
wenn Du so unordentlich rumläufst, wenn Du vorlaut bist, wenn Du ...". Vor allem
hatte ich zu gehorchen, bei Tisch nur zu reden, wenn ich gefragt war, ... Gutes
Benehmen verschaffte mir Anerkennung. Und der galten meine ganzen
Anstrengungen.
Vieles war bei uns so anders als bei meinem Freund, Ewald Lechner, der mit
seinen Eltern in einer Kellerwohnung wohnte, und dessen Vater
Telegrafenarbeiter war, eine Arbeitsstelle, die er Adolf Hitler zu verdanken
hatte. Ewald hatte nicht einmal ein eigenes Zimmer. Und mit dem guten Benehmen
war das hier auch nicht so streng.
„Musst Du immer mit Ewald spielen?"
Unter der Hakenkreuzfahne
Fahnenappell auf dem Schulhof mit Nationalhymne und Horst-Wessel-Lied. In der
Fibel und wo es nur ging, überall war von den großen Taten verdienter Kämpfer
die Rede und von deren Opfermut. Ihnen nachzueifern, dazu war ich auf der Welt.
„Du bist nichts, Dein Volk ist alles!" Dem Großen und Ganzen mit allen Kräften
zu dienen, dafür galt es, sich in der Schule anzustrengen.
Hitlers Jugend
Mein Braunhemd, Foto privat
Mit Stolz zog ich mit 10 Jahren als Pimpf das Braunhemd an. Exerzieren und
Marschieren mit den dazugehörenden Liedern wurden eingeübt, so wie in
Schulungsstunden nationalsozialistisches Gedankengut. Wir waren Deutschlands
Zukunft. Und dass wir es waren, erlebten wir auf den Großveranstaltungen, wo
Hitlerjugend und Pimpfe und Fahnen das Stadtbild bestimmten. An der
Entschlossenheit, mit dem totalen Krieg den Endsieg herbeizuführen, gab es
keinen Zweifel. Der Feind, der auf so schändliche Weise Hamburg und andere
Städte brennen ließ, ihn galt es zu vernichten.
Ohne Zukunft
Die vollgestopften Straßen mit den Flüchtlingstrecks, das Elend, das ich bei
Hilfsdiensten zu Gesicht bekam, die Zwangseinquartierung von Flüchtlingen bei
uns, die Nachrichten von den Fronten: Konnte es da noch einen Endsieg geben?
Doch zum Grübeln war nicht viel Zeit. Überall war tatkräftige Hilfe gefordert.
Für andere da sein, das wollte ich ja. Doch dann der 8. Mai: Deutschland
kapituliert bedingungslos. Es war die Stunde Null.
In der Familie wuchs die helfende Mitsorge rasant. Nachkriegszeit und Insolvenz
hatten die Wohlstandsbasis gründlich zerstört. Ich war der Zweitälteste von
jetzt acht Geschwistern. Verantwortliche Aufgaben in Haus und Garten waren zu
erledigen, immer war kein Geld vorhanden, der Strom wurde abgedreht. Um uns
herum erblühte das Wirtschaftswunderland. Wie sollte das weitergehen?
Mein spätes Elternhaus
Es gab eine Heldin. Das war meine Mutter. Sie hielt zu meinem Vater und stellte
sich den Herausforderungen. Durch die NS-Zeit hindurch hatte sie ihren Glauben,
dass Gott keinen ins Bodenlose fallen lässt, bewahrt. Mit erstaunlichem Mut
packte sie jeden neuen Tag an, einfallsreich zauberte sie aus dem Nichts das
Besondere, das Geburtstage und Feste heraushob, machte den Sonntag zu einem Sonntag,
und ließ sich von denen, die wollten, zum Gottesdienst begleiten. Durch
Vorlesen und Spielen mit der ganzen Familie waren die sonntäglichen Nachmittage
gekennzeichnet,
Alle Geschwister, Foto privat
Ausdruck des erstrebten Familienempfindens. Immer war ich Teil von
Gemeinschaft. Ich fand einfach keinen Schlüssel zu mir selbst. Durch
Konfirmandenunterricht und Konfirmation schien sich da eine neue Dimension zu
öffnen.
Das Eigene
Die Mitsorge um die Familie blieb mir lange erhalten. Das schlechte Gewissen,
Eigenes zu wollen und auch durchzusetzen begleitete mich durch die Schulzeit
bis ins Studium hinein. Im Marquis Posa im Don Carlos fand ich wieder mein
Vorbild, sich einer Idee bedingungslos zu verschreiben: „Geben Sie Gedankenfreiheit,
Sir!" Das galt auch für mich, mir das Eigene zu erkämpfen im Umfeld der
Anpassungsrealität von Familie und dem bisher geprägten
Gemeinschaftsbewusstsein. Es lohnte, sich für Freiheit und Liberalismus
einzusetzen und sich um geistige Werte zu bemühen. Mit dem Wort zu streiten war
eine Disziplin, die ich erlernen wollte. Die eigene Meinung zu bilden und zu
hinterfragen wurde zu einem Grundanliegen. Das, was Kant als moralischen
Imperativ forderte, war ein Gradmesser der eigenen Verantwortung und Prüfstand
für Umsetzungen in die Tat. Was wiederum vor Gott zu verantworten ist. Daran
arbeitete ich mich ab.
Fazit
Das ist mein Weg geblieben bis heute, Denken und Tun an Werten auszurichten.
Das Tagesgeschehen, Literatur, wissenschaftliche Erkenntnisse, die vielseitigen
Möglichkeiten der Informationsbeschaffung, sie sind das Universum, in dem ich
Denkstationen, Foto privat
umherirre und doch immer wieder fündig werde, neu oder anders zu sehen und zu
denken und zu bewerten. Wichtige Anstöße erhalte ich aus Gesprächen, aus der
Wochenzeitung „Die Zeit" solange ich denken kann, von den Philosophen und von
„Scobel" auf 3SAT und dem philosophischen Radio von WDR5. Einige Werte haben
sich durch die Zeit als unverbrüchlich erwiesen, einige haben in der Werteskala
den Platz getauscht. Andere wiederum haben sich gewandelt oder sind verdrängt
worden. Immer wieder fordern Ereignisse zum Überdenken auf, wie jüngst die
Entscheidung zur gesetzlichen Regelung der pränatalen Implantationsdiagnostik
oder alles das, was unter Sterbehilfe diskutiert wird. Wie würde ich
entscheiden? Das bleibt die Frage aller Wertefragen und die Frage nach den
Werten, die ich lebe.
Links
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Bilder zur nationalsozialistischen Erziehung
Kant für Anfänger
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