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LernCafe
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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Alzeimer Angehörigen Initiative
(Druckversion)


Sylvia Krusemark
E-Mail: sylvia.krusemark@web.de

Alzheimer
"Ich glaube, ich habe Alzheimer" ist ein häufiger Ausruf, wenn man gerade wieder mal vergessen hat, wohin man heute morgen den Autoschlüssel gelegt hat. Daß Alzheimer also mit Vergeßlichkeit zu tun hat, weiß jede(r). Daß die Krankheit aber durch Eiweißablagerungen im Gehirn innerhalb von durchschnittlich 8 Jahren viel mehr zerstört, wissen vor allem die, die es miterleben müssen oder mußten.

Hilfe suchen
"Denen helfen, die keine Zeit haben, Hilfe zu suchen": Auf dem Leidensweg bis hin zur völligen Demenz sind die Angehörigen eines Alzheimerkranken unglaublichen Belastungen ausgesetzt.
Sie müssen nicht nur zusehen, wie ein geliebter Mensch sich fast bis zur Unkenntlichkeit in seiner Persönlichkeit verändert. Gleichzeitig sind sie oft der Hauptanker, an dem der Kranke sich festhält. Dazu kommen oft noch die anderen Angehörigen, die genauso verunsichert sind und um Hilfe suchen. Und das alles oft noch unter der riesigen Pflegebelastung, die durch den Verlauf der Krankheit entsteht. Der Kranke braucht manchmal alle verfügbare Zeit und Kraft des Pflegenden auf. Was wäre ein Weg, um solchen Angehörigen Zutritt zum Austausch mit anderen Betroffenen zu bieten? Noch dazu in ländlichen Gebieten, wo es meist keine Selbsthilfegruppen gibt?

Lösung im Netz
Eine Antwort bietet die Internet - Selbsthilfegruppe der Alzheimer Angehörigen - Initiative e.v.Den Mitgliedern des Vereins steht neben den Angeboten vor Ort (in Berlin), den Beratungsstellen, Gesprächsgruppen, Wochenendseminaren und dem umfangreichen Hilfsangebot auch eine virtuelle Selbsthilfegruppe offen. Hier tauschen sich über 1oo pflegende Angehörige und 10 Fachkräfte über die geschlossene Mailingliste AlzFor-L aus. Die Briefe werden über einen Verteiler an alle Mitglieder der Gruppe versandt - rund um die Uhr. Ob akuter "Hilferuf" oder Fragen im Betreuungsrecht - innerhalb von Stunden sind meist Antworten da.

Rund um die Uhr
Wie zum Beispiel die nächtliche Anfrage:
"... Hier geht im Augenblick alles drunter und drüber. Ich weiß einfach nicht weiter, in mir ist alles Chaos, aber schon das Schreiben hilft etwas.
Bloß, wie handeln wir weiter? Sollen wir ihm den Reisepass geben? Und wenn der dann weg ist? Sie müssen Sonntag nach Hause fahren, Montag hat er einen Termin beim Arzt. Und wenn er sich jetzt nicht beruhigt, und seine Medizin nicht nimmt? ..." 
Die Antworten kamen prompt und reichten von 
"Läßt sich die Tablette vielleicht in einem Schokoriegel verstecken? Kannst Du auch eine "(Schlaf-)Tablette" (Smartie) nehmen?" 
bis zu 
"Kannst Du vielleicht verduften und den Rest Deinem Mann überlassen? Der könnte ihn dann von Mann zu Mann auf einer ganz anderen Ebene ansprechen. Wenn dein Vater immer dominant war, wird er sich auch nicht gerne etwas von einer Frau sagen lassen". 

Weltweite Unterstützung
Welche Frage auch immer auftaucht, sei es konkret wie die Bearbeitung eines Rentenantrags oder so persönlich und belastend wie in diesem Beispiel, das Netz der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung funktioniert - weltweit. Es gibt sogar Mitglieder, die sich aus Chile einloggen. Bis zu 20.Mails erscheinen täglich auf der Mailingliste.
Entstanden ist sie - im August 1998 durch das - auch zuerst virtuelle - Treffen von zwei Männern mit einer Vision. Werner Saumweber, der selbst vier Jahre lang seine an Alzheimer erkrankte Mutter gepflegt hatte, stellte seine Erfahrungen zusammen mit umfangreichem, von ihm gesammeltem Informationsmaterial ins Netz. 

Anfänge
Gabriele Steininger, Mitglied der ersten Stunde und Hauptverantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit der Mailingliste, erzählt: " Als ich im Frühjahr 1998 per Internet Hilfe für die extremen Verhaltensauffälligkeiten meiner ebenfalls an Alzheimer erkrankten Schwiegermutter suchte, waren seine deutschsprachigen Seiten (mit einer Suchmaschine problemlos zu finden) fast die einzigen, die mir in meiner Not weiterhalfen." 
Aber seine Ziele greifen weiter: Er will eine Informations - und Austauschplattform für Angehörige von Alzheimerkranken nach amerikanischem Vorbild ins Netz stellen. Aber monatelang sucht er vergeblich nach tatkräftigen und computerkundigen Mithelfern. Dann stößt Jochen Wagner, Mathematiker und Mitstreiter in der von seiner Frau gegründeten Alzheimer Angehörigen - Initiative e.V. auf die Seiten.

Visionen
Er nimmt den Kontakt auf und bietet seine Hilfe an. Zusammen verwirklichen Sie Schritt für Schritt zuerst die Informationsplattform im März 1998 (siehe unseren Bericht im Kapitel "Webangebote"), dann im nächsten Zug die Mailingliste. 
Schon nach einem Jahr zählte die virtuelle Selbsthilfegruppe 77 Mitglieder zwischen 22 und 70 Jahren. 
Nicht nur pflegende Kinder oder Ehepartner, auch Enkelkinder und andere betroffene Verwandte oder Bekannte suchen und finden - oder geben - inzwischen Rat und Hilfe. Oder reden sich online einmal vor Betroffenen von der Seele, was nicht Betroffene nicht verstehen würden.

Hilfe für alle
Trotzdem Sie sich nicht täglich und unmittelbar mit der Pflege und Nähe konfrontiert sind, brauchen auch nicht pflegende Angehörige Hilfe, um die Situation zu verarbeiten.
Eine Tochter schreibt:
"Ich für meine Person, fahre nach jedem Besuch daheim wieder weg und lasse meine Eltern wenigstens räumlich hinter mir, was ich natürlich nicht von meinem Kopf und Herzen sagen kann", 
Auch die stillen Nutzer der Liste gibt es, die sich gar nicht zu Wort melden. Trotzdem profitieren auch sie von der Selbsthilfegruppe.
"Hallo, liebe Leute im Forum, seit einigen Monaten sind wir als ´heimliche Mitleser´ hier im Forum dabei. Und das mit zunehmend schlechtem Gewissen, weil wir sehr davon profitieren, ohne selbst etwas beizutragen. Auf diesem Wege also erst einmal herzlichen Dank an alle, die ihre Krankengeschichte niederschreiben und zugänglich machen. Die Ärzte haben uns mit der Diagnose Alzheimer für unsere Mutter total allein gelassen. Niemand wollte uns aufklären, wie diese Krankheit fortschreitet, was auf uns zukommt

Hilfe für Kranke
Durch den Austausch werden nicht nur die Angehörigen entlastet, nicht nur Ihnen wird geholfen. Ihre steigende Kompetenz im Umgang mit und ihr wachsendes Verständnis für "ihren" Kranken hilft diesem und seiner gesamten Umgebung.
Der Sohn eines Erkrankten schreibt: 
"Alle Beiträge sind wichtig und heute habe ich gemerkt, dass meine Stellung zur Krankheit meines Vaters sich im Laufe der letzten Wochen geändert hat. Ich kann ihn jetzt besser verstehen und lerne mit ihm umzugehen. Früher stellte ich ihm noch Gegenfragen, aber jetzt folge ich seiner Unterhaltung, auch wenn er schnell von einem Thema ins andere geht und wieder zurück und verschiedenes mischt. Also danke für all das, was ich bisher über die Liste erfahren habe!" 

Ohne Umwege
Ohne Umwege, ohne den eventuell zu pflegenden Kranken alleine zu lassen, nutzen die Angehörigen den Rückhalt ihrer Gruppe dann, wann es Ihnen persönlich möglich ist und wenn sie ihn am meisten brauchen. Im Gegensatz zu konventionellen Selbsthilfegruppen, die sich nur in wöchentlichen Abständen treffen können, bietet das Netz den unschätzbaren Vorteil der Verfügbarkeit zu jeder Zeit. Ein Mitglied schreibt:
"... ein Vorteil dieses Forums ist, dass man wirklich sehr schnell von wohlmeinenden Menschen guten Rat erfährt - ob er nun richtig ist, ist eine andere Sache - das muss man dann doch selbst abwägen und entscheiden. Aber der wohlmeinende Rat ist unwahrscheinlich schnell da. So schnell wie es vor einigen Jahren nicht denkbar gewesen wäre". 

Nähe im Netz
Doch fehlt nicht manchem hier schlussendlich doch das persönliche Gegenüber? Auf den Internetseiten des AlzheimerForums steht darüber folgendes:
Internetseiten der Mailingliste steht darüber folgendes: "Manche der Themen laufen über mehrere Tage oder Wochen und regen so sehr zum Nachdenken an, dass sie in persönlich besuchten Gruppen gar nicht ausdiskutiert werden könnten. Unter anderem deshalb, weil sie so unter die Haut gehen, dass es manchem peinlich wäre, sie vor anderen auszubreiten. Trotzdem fehlen dem einen oder anderen die Gesichter der Anwesenden, während andere gut damit zurecht kommen, dass sie sich nicht Auge in Auge mit Fremden unterhalten müssen."
Zudem haben sich über die Liste auch schon Freundschaften gebildet, Telefonnummern werden über Privatmails ausgetauscht... die Nähe im Netz zieht ihre Kreise auch über das Netz hinaus.