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Salutogenese-Logethopathie
(Selbstheilungsexerzitien)
(Druckversion)
Karl-Christoph Kuhn
Salutogenese?!
Gespräch mit einer Patientin, Bäuerin, 72 Jahre. Sie brachte einen 70 Hektar
Hof alleine über die Kriegszeit und Zeit danach. Ihr Bruder war im Krieg
gefallen. Setzt ihre ganze Kraft, Existenz in den Dienst des Hofes, bis hin zur
Partnerwahl. Der gewünschte Erbe übernimmt den Hof in neuer "Rentabilitätsmentalität"
den Betrieb nach seinen Bedingungen -schuldenfrei und finanziell durch
Baugrundstücke abgepolstert. Die Schwiegertochter identifiziert sich nicht mit
dem Hof. "Der Zug, mich einzubringen, ist abgefahren." Die alte Bäuerin
wird beschnitten in der Restzuständigkeit. Die Dienste, die sie noch übernimmt,
erfahren keine Würdigung, Es erscheint eher als Therapie, sie noch auf dem Hof
tätig sein zu lassen. Es entstehen Konflikte zur Schwiegertochter, ihr Leben
wird verzwecklicht für den laufenden Betrieb.
"Inneres" Kraftpotential
Mit schweren Erkrankungen erfährt sie eine Auszeit im Krankenhaus. Zurück auf dem Hof, als verkannte, verzwecklichte Person, geht die aufgetankte Kraft rasch wieder verloren. Ein Schimmer ihrer Kraft und Vitalität war in der Zeit im Krankenhaus wieder sichtbar geworden. Die medizinische Unterstützung, Versorgung, Operation diente ihr dabei als legitimer Schutz-("Urlaubs")Raum. In Urlaub gefahren war sie kein einziges Mal in ihrem Leben. Die Krankheitssituation, die Besuche der Verwandten außerhalb des "Hofbezugskreises", die Zuwendung im Krankenhaus, gab ihr einen Zugriff auf ihr eigenes "inneres" Kraftpotential. Salutogenetische Perspektive oder "selbstheilungsorientierte" Perspektive interessiert sich für diese Kraft- und Gesundheitsquellen.
Legitimation heutiger Medizin
Die Legitimation heutiger Medizin ist durch die Ökonomisierung und Technologisierung ihrer Heilmethode, sowie die Verobjektivierung der kranken Person (als Symptom-/Reparatur-/ Forschungs-Objekt, als Fall-Pauschale.. ) fraglich geworden. Ne ben einer mangelnden medizinethischen Ausbildung und Berufsorientierung tragen dazu u.a. bei: der Patient ggf. durch seinen (noch) unmündigen Versorgungsanspruch an die Ärzte, ein mangelnd subsidiäres und politisch überkommenes Versorgungs-Sozialsystem und eine gesellschaftliche Ästethisierung der Menschenwürde, die den kranken Menschen von seinem normalen kommunikativen Lebensfeld in der Gesellschaft isoliert und entfremdet.
Dadurch und nicht zuletzt veranlaßt durch die aktuellen politischen Gesundheitsreformen und Sparzwänge wächst das Verständnis für ein neues medizinisches Legitimations- und Behandlungsmuster (Paradigma), erhebt sich der Ruf nach einer (Re-)Humanisierung und einem Paradigmenwechsel in der Medizin.
Mittelpunkt oder Mittel
In Parallele zum ähnlich entsubjektivierten Leistungsparadigma in der Wirtschaft geht es also auch in der Medizin um die Grundfrage: Ist der Mensch "Mittelpunkt" oder ist er "Mittel Punkt(.)" (O.Neuberger). Ist Gesundheit der Betriebsstoff für ein effektiv funktionierendes Produktionsmittel "Mensch", ein Kapital, das sich aufzehren kann, oder ein in jedem Augenblick erzeugtes Lebenspotential.
Dieser Ruf nach einer neuen Medizin mündet derzeit über raschend einhellig in das Konzept der Salutogenese nach Aaron Antonovsky. Der 1994 verstorbene israelische Medizinsoziologe Antonovsky verstand unter Salutogenese, die Frage nach den Entwicklungsbedingungen für Gesundheit beim einzelnen Subjekt. Diese stellte er der herrschenden Pathologie, der Frage nach der spezifischen Ursache für ein typisiertes (weitgehend sub jektunabhängiges Krankheits- und Behandlungsschema (in Dichotomie zu Gesundheit), gegenüber.
"Kohärenz"
Antonovsky bringt das Subjekt zur Geltung, indem er den Kohärenzsinn (sense of coherense) des Menschen zum Ausgang seines Gesundheitspotentials macht. Dieser Kohärenzsinn liegt vor, wenn dem Menschen gegenüber den allgegenwärtigen Stressoren ausreichende Widerstandspotentiale (resources of resistance) zur Verfügung stehen. Ausreichende Widerstandspotentiale zeigen sich darin, daß der Mensch sein Leben hinreichend begreifbar (comprehensibility), bewältigbar (managibility) und lohnend/ sinnvoll (meaningfullness) hält im Blick auf sein körperliches, interpersonales und affektiv-kognitives Erleben. Diese ausreichend vorhandenen Quellen von Widerstandsfähigkeit bewirken den salutogenetischen Prozeß auf allen biopsychosozialen
Ebenen.
Potentiale
Diese Potentiale entdeckte Antonovski, indem er z.B. bei Jüdinnen, die den Holocaust überlebt hatten, deren Anpassung an die Menopause untersuchte. Er konzentrierte sich dabei auf die Salutogenese der 29 %, bei denen sich die Anpassung an die Wechseljahre völlig normalisiert hatte (nicht auf die 61%, die seine Hypothese bestätigten, daß einschneidende vergangene Lebensereignisse die aktuelle Anpassungsfähigkeit beeinträchtigen): "Ich möchte mich auf die erstaunliche Minderheit der gut Angepaßten konzentrieren. Woher haben diese Frauen, die so viel Schlimmes erlebt haben, die Kraft genommen, sich auf die neue Lebensphase einzustellen?" (1)
Dies war seine neue salutogenetische Fragestellung.
Erweiterte Perspektiven
Damit kommt Antonovsky das Verdienst zu, das bisher symptomkasuistisch verengte Reparaturmedizin-Schema auf sein medizinisch-soziologisches Symptomschema (Kohärenzsinn) geweitet und die subjektiven Gesundheitspotentiale als neue Berufsaufgabe des Arztes (Salutogenese) ausgewiesen zu haben. Die Salutogenese erschließt ein neues Art-Patient- und Therapieverständnis und erfordert schon in der Anamnese eine erweiterte Gesprächs- und Fragebefähigung des Arztes. Bei Antonovsky tritt allerdings immer noch das soziomedizinische Subjekt-Schema zur Behandlung der Person in den Mittelpunkt, dominiert also noch die (soziomedizinisch verdienstvoll differenzierte) Funktionalmedizin, noch nicht das mündige Selbst und das Vertrauen in die "eigene Kraft" (3). Dies mag aus seinem lebensgeschichtlich bedingten Menschenpessimismus verständlich sein, der ja zugleich mit der Geschichte unserer Funktionalmedizin eng verbunden ist.
Paradigmenwechsel
Hier knüpft der "LogEthoPathie"-Weg (Hilfe zur Selbstentwicklung/-heilung in der Ganzheit des menschlichen Logos-Ethos-Pathos-Wesens) des Verfassers an. Der wiss. Terminus "Logethopathie" (LEP) wird dabei gleichbedeutend mit dem Begriff "Selbstheilungs-Exerzitien" (SEHE)gebraucht (5). LEP/SEHE versucht eine entscheidende Weiterführung im Sinne eines Paradigma-Entwurfes "von unten". D.h. aus langjährig auch über die gängige "Medizin" hinaus hochheilsam erfahrener Kopfsorge (Logos), Leib-/ Verhaltenssorge (Ethos) und Seel-/Gemütssorge (Pathos) als mündig-ganzheitliche Hilfe zur Selbstheilung zielt sie den Entwurf eines medizinethisch und -methodisch neu tragfähigen Paradigmas unter dem Anspruch der Menschenwürde oder den Paradigmenwechsel von der Funktional- zur Personalmedizin
an.
Der eigene Arzt
Anders ausgedrückt: Der Medizin ist in wissenschaftskombinatorischer (theologisch-/philosophisch-ethischer und anthropologisch-psychologischer) Partnerschaft bleibend die Ausbildung eines menschgemäß-subsidiären Paradigmas aufgegeben, das den Heilungsprozeß im mündigen Arzt-Patient-Beziehungs- und Gesprächsprozeß von vorneherein, schon im ersten Anamnese-Gespräch beginnen läßt. Auf diese Dringlichkeit weist speziell auch eine verdienstvolle Studie einer Gruppe "Forschenden Lernens" beim ZAWiW hin, die unter anderem ergab, daß 91% der Befragten wünschen "daß der Arzt sich ihre Meinung über ihre Beschwerden anhört" und 1/3 "sich vom Doktor nicht verstanden" fühlen (4).
Die Personalmedizin im Sinne der Logethopathie zielt darauf ab, den Patienten weitmöglichst als sein eigener Arzt zu befähigen und seine Selbstheilungs-Kräfte auf der Vernunft-, Körper- und Gefühlssprachebene zu unterstützen.
Personale Priorität
Die Anerkennung der Leistungsfähigkeit der gängigen, eher symptom-funktionalen
Medizin wird dadurch nicht geschmälert, soweit sie sich nicht zum Selbstzweck
überhebt. Vielmehr wird diese zugunsten einer neuen, personalen Priorität in
Dienst genommen. Als entsprechende Basisinstrumente dienen dabei die Erkenntnis
selbstzwecklicher Menschenwürde i.S.I.Kants/ Art.I GG bzw. krank machender
Verzwecklichungen, Körper-Selbstkontrolle und Verfassungsoptimierung durch
Zwerchfallatmung im täglichen Bewegungsrhythmus (ergänzt z.B. durch gezielt
entspannende Schulterpressur), sowie Erhöhung des Selbstwohlempfindens durch
selbstsuggestiv-optimistische "Lebensbild"-Entwicklung.
Vorbilder
D.h. auch als Arzt(-Patient) dem Patienten(-Arzt) ganzheitlich selbstwach, lern- und zuhörfähig primär zu assistieren und den Patienten (nur) subsidiär - soweit ihm selbst nicht (noch nicht/ nicht mehr) möglich - medizinisch-therapeutisch zu versorgen.
Vorbildliche Vorgänge und Vorgänger könnten je zu ihrem Teil z.B. der Schritt vom priesterlichen Seelenverwalter zum "Seelenarzt" (J.S.Drey) oder vom Leidenswissen zur Leidensweisheit/Pathosophie (V.v.Weizsäcker), vom Gesundheit-"Haben" zum Gesund-"Sein" (i.S.E.Fromms) oder vom Befund zum Befinden/Verhalten (S.Häußler) sein.
Anmerkungen & Links
(1) Maoz B., Salutogenese-Geschichte und Wirkung einer Idee, in: Schüffel W., Brucks U., Johnen R., Köllner V., Lamprecht F., Schyder U., Handbuch der Salutogenese- Konzepte und Praxis, Wiesbaden 1998, 13.
(2,3) Einführung, in: ebd., 4.
(4) Ergebnis aus dem Projekt "Arzt-Patienten-Beziehungen"; mehr dazu unter http://www.uni-ulm.de/LiLL/3.0/D/medicine1/index.html
(5) Kuhn K.-C., Salutogenese und Anamnese-Logethopathie,in:
Doc..2(2001)7-15.-Kuhn K.-C., Übersinnliche Phänomene..,
ZAWiW Bd.6, Bielefeld 1998, 194-215.- Auer A., Nächsten-
liebe als Therapeutikum, in:Schweizerische Ärztezeitung Bd.64,1983, 1248-2155.
Selbsttest & Literatur
Zur Illustration des dargestellten salutogenetischen Ansatzes finden Sie in der
Online-Version einen "Selbsttest zur persönlichen "Selbstheilungsausrichtung"".
Zur weiteren Vertiefung in den vorgestellten Ansatz finden Sie in der
Online-Version einen längeren Beitrag zum Thema im pdf-Format (Karl-Christoph Kuhn: Salutogenese und Anamnese-"Logethopathie": Zu ganzheitlich- selbstheilungsorientierter Entwicklung und Konzeption des Allgemeinmedizinischen Forschungsbereiches "Salutogenese und kommunikative Verantwortung" (SkV) an der Universität Ulm; Erfordert den Acrobat Reader, der auf vielen
PCs bereits vorinstalliert ist).