LernCafe 13 vom 15. Dezember 2001: "Städte & Regionen"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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Mein Rendezvous mit einem Platz
Erfahrungen beim "Forschenden Lernen"
(Druckversion)
Jutta Gotthardt
E-Mail: JGotthar@t-online.de
Einführung
Von Mai 1995 bis zur Fertigstellung einer Broschüre über Geschichte und Wandel des Willy-Brandt-Platzes in Ulm 1997 nahm ich an einer Gruppe forschenden Lernens teil, die sich diesen Aspekt der Ulmer Stadtgeschichte zum Thema gemacht hatte. Meine Motivation, an der Arbeitsgruppe teilzunehmen, war der Wunsch, gemeinsam mit anderen Menschen in meiner Lebensphase zusammen zu arbeiten und unbekannte Forschungsmethoden kennenzulernen und zu erproben.
Findungsphase
Es zeigte sich, daß in der "Europa-Gruppe", die vom Zentrum für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Ulm (ZAWiW) initiiert worden war, die thematischen Vorstellungen auseinander gingen und deshalb eine Weiterarbeit in kleineren Gruppen erforderlich wurde. Abgesehen davon ist von der Arbeit in Kleingruppen eine höhere Effektivität zu erwarten. Es gab unterschiedliche Prioritäten aber auch gemeinsames Erkenntnisinteresse, doch die Fülle des Materials schien uns zu erdrücken. Zum Fernziel "europäischer Bezug" fehlte die Konkretisierung. Alles, was recherchiert wurde schien wichtig, kaum jemand wollte seine Ergebnisse einer Selektion unterziehen oder "auf Eis legen". Es war der mühsame Prozess, eine Fragestellung zu entwickeln, diese Phase erinnerte an einen Geburtsvorgang.
Geburtshilfe
Dann kam die wissenschaftliche Betreuerin Dr. Eva Saalfrank zu uns, die "Geburtshilfe" leistete. Sie hatte nur eines im Sinn: das Kind. Erstmal bekam es einen Namen: Willy-Brandt-Platz, die übrige "Verwandtschaft" - die anderen Straßennamen - wurden weitgehend unwichtig. Wir "Pflegemütter und -väter" hatten uns um das Kind und dessen Betreuung zu kümmern. Das war für mich eines der Schlüsselerlebnisse: die radikale Eingrenzung der tatsächlichen Themenstellung. Der sprödeste und graueste Platz Ulms - eigentlich nur ein trister Verkehrsknotenpunkt - schien uns anfangs wenig verlockend als Forschungsobjekt. Im Laufe der nächsten Monate lernte ich, dieses weniger schöne Kind zu mögen, d.h. allmählich die interessanten und schätzenswerten Seiten unseres Forschungsgegenstandes zu erkennen. Er stellte sich mit der Zeit als lebendiger, teilweise sogar liebenswerter Lebensbereich dar.
Zeitbedarf
Auch eine konkrete Zielsetzung ergab sich aus der praktischen Konfrontation mit dem Platz: es galt die geschichtliche Entwicklung sowie die heutige Lebenssituation herauszuarbeiten, zu hinterfragen und darzustellen. Dabei war - wie es treffend heißt - der Weg das Ziel unserer Aktivitäten. Der Zeitaufwand für die Forschungsvorgänge erwies sich als beträchtlich: wir waren zwar freiwillig und "ehrenamtlich" am Werk, trotzdem traten für die meisten TeilnehmerInnen oft familiäre oder andere Verpflichtungen in den Hintergrund. Dies darf nicht als Klage verstanden werden, sondern eher als Hinweis auf die Erkenntnis, daß Forschungsarbeit nicht "so nebenbei" schnell mal erledigt werden kann. Die Bereitschaft, Zeit und Energie einzusetzen, sollten die "HobbyforscherInnen" mitbringen! Erfolgserlebnisse und spannende Entdeckungen und Begegnungen sind das lohnende Ergebnis.
Recherchearbeit
Jede von uns übernahm erneut Recherchierungsaufgaben, und es öffneten sich ungeahnte Forschungskanäle! Wir erlebten, daß unsere Ansprechpartner - ob im Stadtarchiv, bei den Firmen, bei den Zeitungen, bei Ämtern, bei Geschäftsleuten, bei Privatpersonen - freundlich und geduldig Auskunft gaben, auch weiterführende Informationen vermittelten. Neben den Treffen mit der Gruppe wurden nun die Archivarbeit, Befragungen ("Interviews") und die Auswertung hochinteressante Erfahrungen. Mit einigen Arbeitsmethoden, wie Recherchen in Archiven, in Literatur, bei Firmen und Institutionen, bei anderen Ansprechpartnern, war ich durch meine Berufstätigkeit vertraut. Neu war für mich die Interviewarbeit mit Menschen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Die überaus freundliche Reaktion der meisten Ansprechpartner half, gelegentliche Scheu, mit einem Mikrofon auf jemand Fremden zuzugehen, zu überwinden. Auf diese Art Arbeitsweisen aus anderen Berufsfeldern kennenzulernen war ein beeindruckender Aspekt.
Auswertungsarbeit
Eine Fülle von neuen Fakten erweiterte unseren Gesichtskreis: Vorgänge der Stadtgeschichte, Verwaltungsstrukturen, die Industrialisierung und Elektrifizierung in ihren Anfängen, die vielfältigen Beziehungen zu Europa usw. Es fand ein deutlicher Lernzuwachs von Sachwissen statt. Das wiederum verstärkte unsere Neugier und das Interesse weiter zu machen. Die Auswertung der Recherchen war ein weiterer Arbeitsgang. Das Erfahrene und Erforschte in eine Form zu bringen, die das Wesentliche aussagt und für Außenstehende verständlich ist, das war die Aufgabe. Das heißt: auswählen, zusammenfassen, strukturieren, beschreiben und gegebenenfalls erläutern, als laufende Hausaufgabe z.B. für die Dokumentation und Broschüre.
Zusammenarbeit
Eine ganz besondere Erfahrung war für mich das Geschehen in der Arbeitsgruppe selbst. Obwohl der "Background" jedes Gruppenmitgliedes in diesem Alter vom Leben abgerundet ist und die Persönlichkeiten unterschiedlich geprägt sind, gab es eine ergiebige gemeinsame Ebene und manche freundschaftliche Begegnung. Zusammenarbeit, Verständnis füreinander, Kooperation, gelegentliches Konkurrenzverhalten, Selbstdarstellung einzelner Gruppenmitglieder, Einstellung zum Leistungsprinzip der Berufsgesellschaft, alles in allem: die Gruppendynamik war faszinierend und aufschlußreich. Ich hatte nicht gedacht, daß in unserem Alter so viel Engagement und Kreativität entwickelt werden könnten. So gab es auch den Lernprozess "des einen vom anderen".
Auslese
Überraschend war für uns die Aufforderung, das Gesamtthema bis zur Herbstakademie ´96 des ZAWiW in einer Ausstellung zu präsentieren und in einer Broschüre zu dokumentieren. Nun lief der Zeitdruck neben uns her. Arbeit und Engagement verdichteten sich. Als Leitfaden für die Ausstellung erwies sich die historische Chronologie. Die Aufgliederung der Themenbereiche ergab 13 Schautafeln. Das Vorgehen konzentrierte sich noch einmal auf Recherchen, nun vorwiegend auf Interviews und Archivforschung. Ungefähr zwei Monate vor Ausstellungsbeginn ging es um die Entwürfe der praktischen Gestaltung und um die Aufbereitung des gesamten Materials. Um eine spannende Verdichtung zu erreichen, mußten wir uns in der schwierigen Kunst des Weglassens üben. Für manchen von uns hieß das, auf hart erarbeitete Rechercheergebnisse, zumindest in der Ausstellung, zu verzichten.
Gestaltung
Die Auseinandersetzung mit dem Ausprobieren, Vergrößern, Verkleinern, Rauf- und Runtersetzen, Kürzen, Kopieren, Neuschreiben etc. machte aus unserem Arbeitsraum eine chaotische Idylle! Als altersspezifisch darf eine schnellere Ermüdbarkeit als in jüngeren Jahren genannt werden. Insbesondere bei den intensiven Aktionen zur praktischen Erstellung der Schautafeln unserer Ausstellung: tägliches konzentriertes Arbeiten mit ungewohnter Materie über mehr als zwei Wochen, das erforderte Ausdauer und körperliche Kondition! Es waren Pausen angesagt. Dann war es endlich so weit: Das Aufhängen der Tafeln an der Uni gleich neben dem Eingang zur Mensa war ein Kinderspiel. Nicht jede AG hat das Erlebnis, das Ergebnis ihrer Anstrengungen so umgesetzt zu sehen. Wir haben es darum sehr genossen, mit dieser Ausstellung unsere ureigenste Arbeit greifbar vor uns zu haben und sie zeigen zu dürfen. Ein tolles Gefühl, nun unser gemeinsames Werk sichtbar - und wie ich meine sehr gelungen - vor uns zu sehen!!!
Fazit
Meine Erwartungen an das Projekt haben sich erfüllt, teilweise wurden sie sogar übertroffen. Der Lernprozess in der Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Platzes, mit seinem heutigen Umfeld und mit uns selbst hat uns für die Zukunft zu weiteren Initiativen angeregt.
Als wichtig erwies sich auch die Begleitung der Gruppe durch eine Mitarbeiterin des ZAWiW. Unsere Betreuerin zog den "roten Faden" durch unsere gemeinsame Zeit. Sie hat es verstanden, im richtigen Moment den richtigen Anstoß zu geben. Aber sie hat uns auch den notwendigen Freiraum gelassen und das selbständige Vorgehen gefördert.
"Forschendes Lernen" bedeutet für mich konzentriertes Arbeiten, den Dingen auf den Grund gehen und die Freiheit, Spaß daran zu haben!
Links
Projektgruppe "Willy Brandt Platz"
http://www.uni-ulm.de/LiLL/3.0/D/3.3willybrandtmehr.html