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LernCafe 16 vom 16. März. 2002: "Sprache: Deutsch"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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„Unwort des Jahres“ – eine Anregung zu mehr Sprachkritik
(Druckversion)

Horst Dieter Schlosser
E-Mail: schlosser@lingua.uni-frankfurt.de 

Sprache
Das menschliche Leben besteht zu einem erstaunlichen Teil aus Sprache. Das meiste, was wir wissen, haben wir aus Informationen, die uns sprachlich vermittelt wurden. Selbst Gefühle und Stimmungen machen wir uns – und sei es nur im Selbstgespräch – in sprachlicher Fassung bewusst. Im Kontakt mit anderen erfahren wir aber auch, dass Sprache zu sehr verschiedenen Zwecken eingesetzt werden kann: um Sympathie oder Antipathie zu äußern, um uns über etwas aufzuklären oder um uns etwas zu verheimlichen... Erst recht, was uns Hörfunk, Fernsehen, Zeitungen oder Bücher vermitteln, lässt Rückschlüsse auf sehr verschiedene Absichten der Sprecher oder Schreiber zu. Sprache (nicht nur das beschriebene Papier) ist sehr geduldig, und wir tun gut daran, nicht alles zu glauben, was man uns vorsetzt.

Wortvorrat
Nun sollte man freilich nicht hinter jeder Äußerung von Menschen, deren Charakter man noch nicht kennt, Lug und Trug wittern. Und manches, was sich im Nachhinein als schief oder falsch formuliert herausstellt, ist ohne böse Absicht geäußert worden. Wir alle gehen mit einem begrenzten Vorrat an Wörtern und Wendungen um. Schon darin liegt das Risiko, dass man den Dingen, die wir beschreiben oder kommentieren, sprachlich nicht immer gerecht wird. Gerade bei politischen, aber auch bei wissenschaftlichen Themen, die unser Leben bestimmen, kann dieses Risiko sehr hoch sein. Wenn man beispielsweise die Tatsache, dass es in unserer Altersstatistik immer mehr ältere als jüngere Menschen gibt, mit dem Wort „Rentnerschwemme“ umschreibt, wie vor einigen Jahren geschehen, dann hängt man dem Sachverhalt etwas Bedrohliches an; „Schwemme“ – das klingt nach Naturkatastrophe.

Benennungen
Vorsicht ist immer geboten, wenn für einen Tatbestand oder Sachverhalt mehrere Benennungen zur Verfügung stehen und dann in einer öffentlichen Verlautbarung mehr oder weniger absichtlich das Wort gewählt wird, das dem Gegenstand am wenigsten gerecht wird. Sogar erklärte Absicht war z.B. im Spiel, als sich unsere Volksverteter 1994 (wieder einmal) höhere Bezüge genehmigten und das nicht etwa „Diätenerhöhung“, sondern „Diätenanpassung“ nannten – als dächte man ernsthaft daran, diese Bezüge auch einmal zu mindern (wofür dann „Anpassung“ als Oberbegriff durchaus gerechtfertigt wäre). Die politische Propaganda arbeitet wie die kommerzielle Werbung sehr gern mit derlei verbalen Verschleierungen des tatsächlich Gemeinten.

Propagandaformeln
Aber auch die ausdrückliche Verniedlichung und Beschönigung von höchst unangenehmen Dingen hat seit eh und je in privater wie öffentlicher Sprache Konjunktur. In der großen Politik braucht man sich nur an zwei Propagandaformeln aus den Balkankriegen der jüngsten Vergangenheit zu erinnern: Massenvertreibungen, -morde und -vergewaltigungen wurden als „ethnische Säuberungen“ hochstilisiert (wer hätte etwas gegen Hygiene!) und die oft tödlichen Fehltreffer der NATO im Kosovokrieg wurden mit dem verharmlosenden Begriff „Kollateralschaden“ (= Randschaden) heruntergespielt. Besonders peinlich aber war es, dass man den Terroristen von Taliban und El Qaeda die blasphemische Selbstbezeichnung „Gotteskrieger“ zubilligte, wie umgekehrt der amerikanische Rachefeldzug als „Kreuzzug“ gelten sollte. 

Aktion „Unwort“
Diesen und ähnlichen sprachlichen Fehlgriffen, die ein extremes Missverhältnis von Wort und Sache offenbaren, geht seit 1991 eine sprachkritische Aktion nach, die jährlich ein „Unwort des Jahres“ vorstellt. Eine sechsköpfige Jury aus sprachwissenschaftlichen Fachleuten und Sprachpraktikern, v.a. Journalisten und Schriftstellern, ruft jährlich alle Deutschsprachigen auf, Vorschläge für ein solches „Unwort“ zu machen, d.h. besonders auffällige Beispiele sprachlichen Fehlverhaltens zu nennen. Dabei sind inzwischen in mehr als 16.000 Zusendungen über 8.000 verschiedene Vorschläge unterbreitet worden; Jahr für Jahr beteiligen sich also durchschnittlich rd. 1.400 Personen aus dem In- und Ausland, und zwar aus allen Bevölkerungsschichten an dieser Aktion.

Sprachgebrauch
Das bedeutet, dass jedermann und nicht nur einige selbsternannte Sprachkritiker den öffentlichen Sprachgebrauch eines Jahres kritisch durchmustern können. Die Auswahl aus der Masse von Vorschlägen fällt dann allerdings nicht gerade leicht, zumal ja jeweils nur ein Wort oder eine mehrteilige Benennung die Negativauszeichnung „Unwort des Jahres“ erhalten soll (allerdings nennt die Jury meist noch einige weitere Sprachschöpfungen als besonders kritikwürdig). Entscheidendes Kriterium ist jeweils ein besonders krasses Missverhältnis zwischen Wort und bezeichneter Sache. Die in manchen Vorschlägen erkennbare Verwechslung von Sache und Wort hat dabei natürlich keine Chance. Wer etwa Krieg und Terror ablehnt, sollte das nicht durch eine Kritik an den Wörtern „Krieg“ und „Terror“ zum Ausdruck bringen, die das Gemeinte sehr wohl zutreffend bezeichnen. 

Juroren
Es mag zunächst anmaßend erscheinen, dass eine kleine Gruppe von Juroren jeweils einen bestimmten sprachlichen Fehlgriff zum schlimmsten eines ganzen Jahres erklärt. Dazu ist zweierlei zu sagen: Zum einen erhalten damit die nicht ausdrücklich genannten Unwort-Vorschläge keineswegs ein Unbedenklichkeitszertifikat; mit dem von der Jury hervorgehobenen Unwort soll nur exemplarisch zu mehr sprachkritischem Nachdenken insgesamt angeregt werden. Zum anderen hält sich die Jury gewiss nicht für den Weltgeist schlechthin; ihre Entscheidungen sind selbst wieder kritisierbar. Mit der kritischen Diskussion der Juryentscheidungen, die sich jeweils an eine Unwort-Verkündung anschließt, ist bereits der oberste Zweck der Aktion erreicht. Und noch nie zuvor wie seit 1991 ist so oft und so regelmäßig über den Wert und Unwert des öffentlichen Sprachgebrauchs debattiert worden.

Unwort-Kritik
Das heißt aber auch, dass kein „Unwort“ pauschal zum „Nicht-Wort“ im Sinne eines Verbots erklärt werden kann. Schließlich stellt die Vorsilbe „Un-“ grundsätzlich keine absolute Negation dar; man denke an „Unding“, „Unsitte“, „Unzeit“ u.ä.. Hier sagt die Vorsilbe nur aus, dass der bezeichnete Sachverhalt kritisierbar, aber trotzdem eine Realität ist. So sind und bleiben auch „Unwörter“ reale Wörter. Allerdings bezweifelt die Unwort-Kritik, dass das betreffende Wort jeweils angemessen, im richtigen Kontext verwendet wurde. Auch dafür ein Beispiel: Die zum Unwort des Jahres 1997 gewählte Wortbildung „Wohlstandsmüll“ ist und bleibt eine brauchbare Bezeichnung für achtlos weggeworfene Dinge von durchaus hohem Wert. Kritisierbar wurde das Wort nur dadurch, dass ein Konzernmanager Menschen (!), die nicht mehr arbeiten wollten oder gar konnten, als „Wohlstandsmüll“ diffamiert hatte.

Lexikon
Diffamierende Absicht aber ist eins der ältesten Bedeutungsmerkmale von „Unwort“, das 1991 gar nicht mehr erfunden zu werden brauchte. Denn „Unwort“ als sprachkritischer Terminus ist seit dem späten Mittelalter Bestandteil des deutschen Wortschatzes. Das umfangreiche „Deutsche Wörterbuch“, das von den Brüdern Grimm begründet wurde, zitiert als frühesten Beleg einen überlieferten Satz sogar schon aus dem Jahre 1471. Und weil auch nicht erst seit der ersten „offiziellen“ Unwort-Wahl 1991 diffamierende, aber auch „nur“ verschleiernde und beschönigende Unwörter im Umlauf sind, hat der Autor im Jahr 2000 in einem kleinen „Lexikon der Unwörter“ Beispiele auch aus früheren Zeiten zusammengetragen, die keineswegs menschenfreundlicher waren als die Gegenwart.

Links und Infos
Ausführlichere Informationen sind über die offizielle Homepage der sprachkritischen Aktion zu erhalten: 
www.unwortdesjahres.org
Der Autor als Sprecher der Aktion sammelt im übrigen während des ganzen Jahres Vorschläge unter der E-Mail-Adresse: schlosser@lingua.uni-frankfurt.de
auch per Fax (069/798-32675) 
oder per Briefpost: 
Prof. Dr. Horst Dieter Schlosser
Johann Wolfgang Goethe-Universität
Grüneburgplatz 1 (161), 60629. 
Vorschläge sollten allerdings immer eine Quellenangabe enthalten.