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LernCafe 17 vom 15. April 2002: "Mit Behinderungen leben"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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Interview mit Reinhardt Rüdel

(Druckversion)

Janina Cares und Elisabeth Meyer

Einführung
Reinhardt Rüdel ist Professor für Physiologie an der Universität Ulm. Er bringt MedizinstudentInnen bei, wie der gesunde menschliche Körper funktioniert. Seit 10 Jahren ist er zusätzlich der Vorstandssprecher des Zentrums für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Ulm (ZAWiW). Über diese Funktion hat er auch viel mit älteren Leuten zu tun. Herr Rüdel ist schwer behindert, er leidet an einer kompletten Lähmung seiner Beine. Die Behinderung betrifft nur die Beine und zwar mehr die Muskeln und weniger die Sensibilität. Der Prozess ist nicht genetisch bedingt, sondern die Folge einer Krankheit, die er vor 30 Jahren hatte. Seitdem schreitet die Behinderung langsam, aber stetig und unaufhaltsam fort. Seit 16 Jahren sitzt Herr Rüdel im Rollstuhl. Obwohl die Behinderung schon sehr gravierend ist, hat er gelernt damit umzugehen und mit den damit verbundenen Problemen zu leben. Er geht sehr selbstbewusst damit um.

Die Krankheit
Wie ist Ihre Krankheit verlaufen?
Bei meiner Krankheit ist das so: die Kraft in den Beinen wird immer weniger und dann kann man mal eines Tages nicht mehr gehen und muss in den Rollstuhl. Dann kommt als nächste Stufe, dass man nicht nur nicht mehr gehen kann, sondern dass man auch nicht mehr stehen kann. Später kann man seine Beine gar nicht mehr von selber bewegen. Das sind große Unterschiede, die der normale Mensch gar nicht so weiß. Wenn ich auch nicht mehr laufen kann, dann kann ich vielleicht noch meine Beine heben, um in die Hosen rein zu steigen - zum Beispiel. Gut also, das sind jetzt die verschiedenen Stadien der Behinderung und wenn aber einer nur im Rollstuhl sitzt, dann denkt man: „Ja, der sitzt im Rollstuhl“ - es gibt aber riesige Unterschiede.

Alltag
Was sind denn ihre Erfahrungen im Alltag?
Meine Erfahrungen im täglichen Leben sind im allgemeinen eher positiv als negativ. Die meisten Leute sind sehr freundlich und helfen gerne. Natürlich gibt es auch Menschen, die es nicht für notwendig halten, einem körperlich Beeinträchtigten zu helfen, was natürlich sehr schade ist. Aber damit kann ich leben.

Vorteile?
Hat eine Behinderung eigentlich auch Vorteile?
Sicher habe ich auch Vorteile, z.B. wenn ich ins Theater oder ins Museum gehe, denn da komme ich billiger rein. Außerdem muss ich weniger Steuern zahlen und in der Mensa der Uni Ulm hat man sogar beschlossen, dass ich mich nie in der Warteschlange hinten anstellen muss. Das ist gut, weil man ja als Rollstuhlfahrer sonst immer langsamer ist, man muss warten bis ein Aufzug kommt, man muss warten, ja also allein das Anziehen kannst Dir ja vorstellen- dauert ja doppelt so lang. Im Großen und Ganzen kann ich sagen, dass zu mir die Menschen einfach friedlicher, freundlicher und verständnisvoller sind. Aber es macht einen großen Unterschied, ob einer körperlich oder geistig behindert ist. Die körperlich Behinderten haben es meist besser, vor allem wenn sie durch ihre Behinderung nicht zu sehr verunstaltet sind. Das Äußere spielt merkwürdigerweise bei den Nicht-Behinderten oft eine wichtige Rolle.

Negative Erfahrungen
Was sind denn dann für Sie die negativen Erfahrungen?
Es sind, was die Mitmenschen anlangt, zum Glück nicht viele. Also wenn man z.B. Leute anspricht und diese um Hilfe bittet, und diese gar nicht darauf eingehen, sich nicht dafür interessieren und sich einfach keine Zeit dafür nehmen wollen. Ein ärgerlicher Punkt, der oft auftritt, wenn auch meist nicht unbedingt gewollt, ist es, wenn mir Nicht-Behinderte meine kleinen Vorteile wegnehmen, z.B. auf Behinderten-Parkplätzen parken, auf Behinderten-Klos gehen etc. Wie gesagt, viele machen das nicht aus böser Absicht, sondern gedankenlos. Sie kapieren gar nicht, dass die Behinderten-Parkplätze breiter sind, weil ein Rollstuhlfahrer die Autotür zum Einsteigen viel weiter aufmachen muss.

Reaktionen nach Nationen?
Sind die Reaktionen auf Behinderte in den verschiedenen Ländern unterschiedlich?
Da gibt es von Nation zu Nation riesige Unterschiede! Meine Erfahrung ist, dass die Menschen im allgemeinen in den angelsächsischen Ländern zu uns aufmerksamer sind, als in den romanischen. Was mir in Deutschland immer wieder auffällt, ist, dass unsere türkischen Mitbürger viel hilfsbereiter sind als die Deutschen! Ich denke, das liegt in erster Linie an der unterschiedlichen Erziehung. Und überall, wo viele Leute sind, wo so ein Gewimmel ist, wo jeder schaut, wie er in so einem Gewimmel weiterkommt – da ist oft keinerlei Rücksicht auf den Rollstuhlfahrer.

Hilfe anbieten?
Also, wenn man denkt, ein Behinderter braucht Hilfe, wie soll man sich verhalten?
Also, ich finde, dass das normale ist, dass man jemandem, der so ausschaut, als wenn er Hilfe braucht, dass man den dann auch fragt. Also, wenn ich merke, in dieser Universität hat sich jemand verlaufen, und das kann man ja in dieser Universität, dann spreche ich ihn an und frage, brauchen Sie Hilfe. Und dann können die sagen, nee, ich finde das lustig hier, das hier auszukundschaften, oder „Gott sei dank, ich irre schon seit 5 Minuten hier, ich suche das und das“. Oder wenn ich seh, es fällt jemandem etwas runter, und jetzt hat er noch die Hälfte in der Hand, und weiß nicht, was soll er machen, wo soll er das ablegen – in dem Fall geh ich doch hin und heb ihm das Zeug wieder auf. Das sind doch eigentlich normale Reaktionen. Man sieht es doch den Leuten meist gleich an, wenn sie Hilfe brauchen können. Und so sollte es auch im Umgang mit Behinderten sein.

Umgang
Wie soll man mit Behinderten im Alltag umgehen?
Grundsätzlich soll man sie als Mitmenschen ansehen, denen man vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft entgegenbringen sollte, als jedem anderen Menschen auch. Aber was den einzelnen Fall angeht, sollte man sich darüber klar sein, dass es "die Behinderten" als einheitliche Klasse von Menschen nicht gibt. Wie die "Normalen" sind auch die Behinderten unterschiedlich, sowohl im Charakter, als auch in ihren spezifischen Bedürfnissen. Vor allem eines ist wichtig: Man soll aus einer schlechten Erfahrung, die man gemacht hat, z.B. einer unwirschen Ablehnung einer Hilfe, nicht schließen, dass "die Behinderten" alle schlecht gelaunt sind und sich sowie so nicht helfen lassen wollen. Sicher haben sie auch ihren Stolz und viele haben auch schon wegen ihrer Behinderung Kränkungen erlitten, die sie vielleicht bitter gemacht haben.

Abschluss
Das leuchtet eigentlich ein. Herr Rüdel, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Lasst mich noch zum Abschluss sagen dass, eigentlich fast alle Menschen irgendwie behindert sind. Man sieht es nur bei vielen nicht. Fast alle Menschen werden doch in ihrem Leben an der Erfüllung ihrer Wünsche ständig behindert, sei es durch andere Leute (Neid, Geiz, Boshaftigkeit), durch eigene Mängel (fehlende Intelligenz, fehlende Zeit, fehlendes Geld) oder durch andere Gründe, wie eben eine Krankheit. Es kann ja auch eine Krankheit der Seele sein, z.B wenn man leicht mutlos ist oder von anderen Menschen sehr gekränkt wurde. Die vielen seelischen Behinderungen sieht man meistens nicht. Und so, wie wir alle es – hoffentlich! – meist lernen, mit diesen unsichtbaren Behinderungen fertig zu werden, so können es die körperlich Behinderten auch lernen, mit ihrem Schicksal zu leben. Dass das wirklich geht, – tja, ich hoffe, dass Ihr das aus meinen Antworten entnehmt.