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LernCafe 17 vom 15. April 2002: "Mit Behinderungen leben"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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Leben ohne Arme
Mein Onkel Eberhard
(Druckversion)

Manfred Tennie
E-Mail: Manfred.Tennie@t-online.de

Einführung
Finden Sie nicht auch, dass es äußerst bewundernswert ist, wenn jemand, der im 20ten Lebensjahr bei einem Hochspannungsunfall beide Arme verloren hat, heute, (er ist 65) auf folgende Lebensleistungen und Ereignisse zurückblicken kann? 
- Nach Genesung sofortiger Wiedereinstieg in das ganz "normale" Arbeitsleben bis zur altersbedingten Pensionierung
- Entwicklung erster Konzeptideen für "armloses Autofahren" bereits Ende der 50er Jahre
- Zulassung eines selbstentwickelten und mit Hilfe von Arbeitskollegen umgebauten PKW 1965 (damit war der Weg frei zum Fahren des ersten PKW's ohne Handbedienung! Bis heute wurden rund 950.000 km unfallfrei gefahren

...
- Erhalt des Bundesverdienstkreuzes im Jahr 2000, übergeben von Bundespräsident Johannes Rau, wegen der mit dieser Entwicklung für viele andere Behinderte erreichten Erleichterungen
- Zufälliges Zusammentreffen im November '99 mit Michael Schumacher in Südafrika auf einer seiner vielen Reisen.
- und......Kauf eines Computers im Jahr 2001, um als weitere Herausforderung zur Selbständigkeit ein zeitgemäßes Kommunikationsmittel bedienen und einsetzen zu können.
Dieser "Jemand" ist mein Onkel Eberhard!
Und ich finde, sein Lebensweg zusammen mit seiner Frau, die er während der damaligen Rehabilitationszeit kennengelernt hat, ist tatsächlich äußerst bewundernswert.

Einschnitt
Es muß nicht diskutiert werden, dass es einen gewaltigen Einschnitt in den Lebensablauf bedeutet, wenn man als 20jähriger beide Arme verliert. Mein Onkel hat mit vielfältigen sportlichen Aktivitäten (Schwimmen, Turmspringen, Skilaufen, Wandern), dem frühestmöglichen Wiedereinstieg nach dem Unfall in den Beruf, seinen ständig neuen Ideen für Hilfseinrichtungen im Haus zur Erlangung einer weitgehenden Selbstständigkeit (auch heute noch), seiner Entwicklung und Nutzung des "armlosen Autofahrens", seinen vielen Reisen und natürlich in der Hauptsache mit tatkräftiger Unterstützung seiner Frau 

Maßnahmen
Neben den ständigen Verbesserungen im Haus auf Grund neuer technischer Möglichkeiten (z.B. Automatisierungen), um die meisten Verrichtungen im Haus ohne fremde Hilfe durchführen zu können, war sicherlich die Entwicklung des armlosen Autofahrens die wichtigste Maßnahme für meinen Onkel, um wesentlich mehr Unabhängigkeit in der Mobilität zu erlangen.
Übrigens: Die in der Konzeptphase notwendigen technischen Zeichnungen und Beschreibungen wurden damals noch mit einem Mund - Schreibgerät zu Papier gebracht. Mittlerweile ist dies erleichtert, weil an der Armprothese eine Klemmvorrichtung angebracht ist, mit der z.B. ein Bleistift festgehalten werden kann. Das eigentliche Schreiben wird mit Schulterbewegungen bewerkstelligt.

Öffentliche Verkehrsmittel??
Als kleines Beispiel, wieviel Freiraum das armlose Autofahren für meinen Onkel gebracht hat, folgende Situation: Zum Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln muß man in der Regel vor Fahrtantritt die Fahrscheine am Automaten kaufen. Dann müssen diese Fahrscheine an oder im Verkehrsmittel entwertet werden. Beide Aktionen sind für ihn ohne fremde Hilfe nicht möglich.
In seinem Auto ist er auf keinerlei fremde Hilfe angewiesen! Dazu kommt: Er hat in diesem wichtigen Lebensbereich ein "100% - Gefühl", weil die Behinderung beim Fahren von den anderen Verkehrsteilnehmern nicht wahrgenommen werden kann.

Armloses Autofahren
Als Ende der 50er und bis Mitte der 60er Jahre mein Onkel mit Behörden, TÜV, verkehrsmedizinischen Gutachtern usw. über seine Vorstellungen diskutierte, konnte man sich überhaupt nicht vorstellen, wie dies - durchaus auch im Hinblick auf die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer - funktionieren könnte. Durch seine Hartnäckigkeit und einen unbürokratischen Kfz.- Sachverständigen beim TÜV Mannheim gelang es ihm schließlich 1965, einen "Führerschein auf Probe" für ein Jahr zu erhalten. Nach dem erfolgreich absolviertem "Probejahr" wurde der Führerschein auf unbefristete Zeit verlängert. Bis heute ist er rund 950.000 km unfallfrei gefahren.

Technik
Sämtliche Funktionen, angefangen vom Öffnen der Tür, über Anlegen des Sicherheitsgurtes, Starten des Motors bis zum Lenken und beispielsweise Einschalten der Heizung oder der Nebelscheinwerfer werden mit den Beinen (Knien) bedient. Alle für das Fahren benötigten Funktionen wurden durch entsprechende Hebel, Hilfsvorrichtungen und Teilautomatisierungen so umgerüstet, dass ein sicheres und unter allen Fahrzuständen (z.B. Anfahren am Berg) beherrschbares Fahren gewährleistet ist. Es würde hier den Rahmen sprengen, auf alle Einzelheiten einzugehen. Deshalb hier nur eine kurze Beschreibung, wie gelenkt wird.

Lenken
Beim Lenken befindet sich der linke Fuß in einer Pedale mit einer Schnalle (ähnlich wie bei einem Radrennfahrer), so dass der Fuß darin fixiert ist. Bei Geradeausfahrt und leichten Kurven kann sich der Fuß über eine geführte Stützrolle am Fahrzeugboden abstützen. In engen Kurven hebt das Pedal ab und führt eine Kurbelbewegung aus (wie beim Fahrrad). Kleine Anmerkung am Rande: Ich habe schon öfter erlebt, wie mein Onkel zügig rückwärts in enge Parklücken eingeparkt hat, welches - was man jeden Tag erleben kann - viele "normale" Verkehrsteilnehmer mit dieser Präzision, Schnelligkeit und Sicherheit nicht hinbekommen.
Bei den umgebauten Fahrzeugen bleiben die Bedienelemente für das Fahren ohne Behinderung erhalten. Dies ist übrigens ein Grundsatz aller Umbaumaßnahmen gewesen, um die Fahrzeuge für den "normalen" Familienbetrieb nutzen zu können. Für die Umstellung sind nur wenige Handgriffe erforderlich.

Nutzen
Vielleicht wird sich der eine oder andere noch erinnern: In den 60er und 70er Jahren gab es einen unter dem Namen "Contergan" bekannt gewordenen Arzneimittelskandal. Viele Kinder wurden ohne oder mit stark verkrüppelten Gliedmaßen geboren. Etwas später gab es in Japan eine ähnliche Situation, weil durch Quecksilber verseuchten Fisch, der während der Schwangerschaft verzehrt wurde, vermehrt Mißbildungen auftraten. Für all diese Menschen brachte das zwischenzeitlich patentierte "System Franz" bis dahin nicht für möglich gehaltene Mobilität und damit Verbesserung der Lebensqualität! Rund 900 Fahrzeuge wurden bislang weltweit nach diesem System umgebaut.

Computer
Im Jahr 2001 faßte mein Onkel den Entschluß, sich einen Computer zuzulegen. Schließlich wollte er sich nicht von den modernen Kommunikationsmethoden ausschließen. Natürlich hat er sich, wie viele andere auch, ein klein wenig von der Werbung "Anschließen + Einschalten + sofort Online gehen..." beeinflussen lassen. Die Schwierigkeiten, die ja auch die Nichtbehinderten nach Anschaffung zumindest ihres ersten Computers zu bewältigen haben, sind bei meinem Onkel logischerweise um einiges größer. Aber mittlerweile schreibt er seine private und geschäftliche Korrespondenz auf dem Rechner, versendet und empfängt Emails und stöbert im Internet. Und dies alles ohne jede fremde Hilfe. Selbstredend bedarf es bei der Bedienung eines Rechners ohne Arme einiger Vorkehrungen und Anpassungen. Da es sich hierbei um sehr viele Einzelmaßnahmen handelt, die auch in den jeweiligen Programmen (Word, Outlook, Internet Explorer, Desktop, Ordnern, DFÜ usw.) unterschiedlich realisiert werden können, wird nachfolgend immer nur das zu erreichende Ziel bzw. das Ergebnis beschrieben.

- Aufstellung
Bei der Aufstellung des Rechners und der Eingabegeräte wurde auf folgendes geachtet: 

Der Rechner steht auf dem Fußboden; damit ist das Ein.- und Ausschalten mit dem Fuß (Zeh) möglich. 
Maus und Mauspad liegen ebenfalls auf dem Fußboden. Damit ist eine Grobpositionierung des Zeigers auf dem Bildschirm mit dem Fuß machbar. Die Rechte und linke Maustaste bleiben zwar in Funktion, werden aber nicht verwendet. 
Die Tastatur ist in Höhe der von der Schulter hängenden unbeweglichen Armprothese einschließlich Taststift (wie umgedrehter Bleistift mit Radiergummi) angebracht. 

- Tastaturanpassung
Besonders wichtig ist die Veränderung des Tastaturverhaltens. Dazu gehören: 
- Die Anschlagverzögerung wurde wesentlich verlängert 
- Der Ziffernblock wurde außer Betrieb genommen. Dafür wurde ein Hilfsprogramm eingespielt (siehe unter Link), um den Ziffernblock zum Feinjustieren des Mauszeigers nutzen zu können (z.B. Drücken der Ziff. 2 = Mauszeiger bewegt sich nach unten; Ziff. 6 = nach rechts usw.) 
- Die Ziffer "5" wurde zum "Bestätigen" als Ersatz für die Funktion der linken Maustaste eingerichtet. 
- Da nicht 2 Tasten gleichzeitig gedrückt werden können (z.B. für Großbuchstaben usw.) wurde mit dem Hilfsprogramm das Tastenverhalten so verändert, dass bei Anschlag der Umstelltaste der dann anschließend gewählte Buchstabe einmal groß geschrieben wird. 

- Softwareanpassung
Alle zum Einsatz kommenden Programme wurden darauf "getrimmt", mit einem Minimum an Tastatur.- und/oder Mausbefehlen auszukommen. Es ist erstaunlich, wieviel "Klicks" man einsparen kann, wenn man die Programme speziell darauf hin durchforstet. Natürlich geht dies zu Lasten der Flexibilität und letztlich auch zu Lasten der Sicherheit. Aber hier sind Prioritäten zu setzen! - Formulare: Es versteht sich von selbst, dass konsequente Nutzung von Briefvorlagen, Adressen usw. Voraussetzungen sind, um eine Vielzahl von "Klicks" einzusparen. - Praktisches Beispiel: Um im Internet surfen zu können, sind, einschließlich Verbindungsaufbau über DFÜ Netzwerk, nur 2x die Ziffer "5" zu drücken.

Ausblick
Selbstverständlich ist mir bekannt, dass es noch weitere behindertengerechte Hilfsmittel für den Computer gibt. So liegt ein Sprachbefehls-Eingabe-Programm schon seit einem halben Jahr vor, ohne dass mein Onkel es installiert haben möchte. Einmal möchte er verhindern - genau wie beim Auto - dass eine Nutzung durch Nichtbehinderte erst mit großem Umbauaufwand möglich wird und zweitens möchte er sich weitestgehend den "normalen" Vorgehensweisen anpassen. Anders ausgedrückt: Außer wo es sich partout nicht vermeiden läßt, möchte er für sich keine "extra Wurst" gebraten bekommen.
Ja, so ist er eben, mein Onkel Eberhard!!!

Linktips
Das beschriebene Hilfsprogramm zur Tastaturanpassung ist eine Software, die sich auf der CD von Windows ME befindet und bei Bedarf von dort nachinstalliert werden kann. Ein anderes, kostenloses, Programm, das die Nutzung von Tasten zur Maussteuerung erlaubt, finden Sie hier: 
http://didaktik.physik.uni-wuerzburg.de/~suleder/software/tastenmaus/

Wie in dem Beitrag wurde, läßt sich ein normaler PC mit Kreativität und dem notwendigen Hintergrundwissen recht weitgehend an die Bedürfnisse von Behinderten anpassen. Weitere, spezialisierte Lösungen für die PC-Nutzung durch Behinderte finden Sie zum Beispiel auf diesen Seiten: 

http://chh.erlm.siemens.de/de/Tastaturen.htm