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LernCafe 18 vom 15. Mai 2002: "Wohnen im Alter"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
http://www.lerncafe.de

Die Göttinger Alten-WG
Interview mit einer Bewohnerin
(Druckversion)

Alexandra Retkowski
E-Mail: alexandra.retkowski@stud.uni-goettingen.de

Einführung
Seit nunmehr 8 Jahren ist die Alten-WG ein fester Bestandteil der Stadt Göttingen. 11 Frauen bewohnen derzeit die direkt am Stadtzentrum gelegene wunderschöne Jugendstilvilla. 

Konzeption
Konzeptioniert und organisiert wurde das Projekt vom Verein freie Altenarbeit Göttingen e.V., der nach wie vor auch ihr Träger ist. Damals gelang es dem Vorsitzenden Michael Jasper die Sozial-Referentin für das Vorhaben zu begeistern. Die Stadt stellte ein ihr gehörendes Haus für 25 Jahre zur Verfügung und finanzierte Sanierung und Umbau. Eine Investition, die sich gelohnt hat! Denn die Alten-WG ist mittlerweile nicht nur bundesweites Vorzeige-Projekt, sondern bewährt sich auch wirtschaftlich, denn es gab bislang noch keinen Ausfall der Mieteinnahmen, da die Wohnungen immer alle belegt waren. Die Mietpreise liegen zwischen 327 und 542 Euro für eine Zweizimmer-Wohnung inclusive kleiner Küche und Duschbad.

Frau P.
Im Folgenden erzählt nun Frau P., die von Anfang an Bewohnerin des Hauses ist, einige ihrer ganz persönlichen Erfahrungen mit und aus der Alten-WG. 

I: Zuerst möchte ich Sie fragen, wie Sie überhaupt an die Wohngemeinschaft geraten sind.
Frau P.: Ich wohnte vorher hier in der Nähe in einer sehr netten Wohnung und war damit zufrieden. Aber dann fanden meine Wirtsleute jemanden, der die dreifache Miete zahlte. Danach zog ich in ein Hochhaus, denn es war sehr schwer damals eine Wohnung zu finden. Schliesslich fand ich eine ganz nette mit weiter Aussicht, aber leider waren die Mitbewohner nur schwer zu ertragen: brüllendes Fernsehen; Studenten, die nachts ausführlich badeten; und über mir ein Mieter, der so laut schnarchte, als ob er neben mir im Bett läge und andere unerfreuliche Dinge. 

Gemeinsames Wagnis
... Dann lernte ich zwei Frauen kennen, die im Nebenhaus wohnten. Wir hatten bald guten Kontakt und unternahmen allerlei zusammen. Dann starb meine Wirtin und damit kamen die neuen Sorgen: Wohin jetzt? Das sagten mir die Beiden: "Wir wollen in das Haus einziehen, das von Michael Jasper im Goldgraben gegründet wurde. Wollen Sie nicht mitkommen?" Ich war vorher oft im Goldgraben an der Nr. 14 vorbei gegangen und hatte jedesmal gedacht: In einem so schönen Haus wirst Du nie leben. Es ist eine richtige Jugendstilvilla. - Nun war die Möglichkeit da und ich stimmte zu. Auf diese Weise bin ich also 1994 hier herein gekommen.

Planung und Gestaltung
I: Ich weiss, dass Sie auch an der Planung der WG mitgewirkt haben. Können Sie dazu noch etwas sagen?
Frau P.: Alle Frauen, die hier einziehen wollten, trafen sich schon 1 Jahr vorher jede Woche, um Einzelheiten des Umbaus zu besprechen. Ein Fahrstuhl war nötig und auch die sanitären Anlagen mussten altengerecht eingerichtet werden. Wir kämpften auch dafür, dass jede Bewohnerin eine eigene kleine Küche bekam. Immer zusammen kochen wollte keiner! Die vorhandene große Küche blieb aber auch wichtig z.B., wenn es Feste und Einladungen gibt.

Zweifel
Am ersten Abend nach dem Einzug fragte eine vorbeigehende Frau: "Na, seit Ihr schon verkracht?" Auch später erlebten wir, dass sich viele Mitbürger offenbar nicht vorstellen konnten, dass lauter alte Frauen zufrieden zusammen leben. Ich traute mir dieses Zusammenleben eigentlich auch nicht recht zu, da ich nach dem Erwachsenwerden der Söhne schon lange alleine war. Aber ich merkte dann doch, dass ich noch lernfähig war. Trotzdem gab es gelegentlich Zeiten, wo ich hier weg wollte, und das ging anderen auch so. Aber dann sagte ich mir: "Du hast so viele Schwierigkeiten überwunden, das schaffst Du jetzt auch."

Alltag & Vorsorge
I: Wie ist denn das Zusammenwohnen organisiert?
Frau P.: Ich habe mir extra diese Wohnung ausgesucht, weil ich hier oben ein wenig abgeschirmt bin von allem, aber dafür wird man auch manchmal vergessen von den anderen. Die zusätzliche Kammer mit Schränken erwies sich als sehr nützlich.
Ansonsten treffen wir uns regelmässig jede Woche, um die akuten Probleme zu besprechen. Besonders wichtig sind natürlich die Probleme, die damit zusammenhängen, dass wir nun alle älter werden. Daher haben wir beschlossen die Nachkommen mit einzubeziehen. Auf diese Weise entstand ein grösserer Kreis, der über uns informiert ist. Denn wir können ja alle Fragen der Pflege und Betreuung kaum alleine organisieren. Soweit wir können helfen wir uns natürlich auch untereinander. Wenn es gar nicht mehr geht, ziehen die Frauen dann in ein Heim, in dem man gepflegt wird. 

Kontakte
...Gesten feierte eine neue Bewohnerin ihren Einstand. Da waren wir fast alle zusammen und haben die neue Einrichtung angesehen und ein wenig gefeiert. Es gibt eine Gemeinschaftskasse, in die jeder nach Selbsteinschätzung etwas einzahlt. Und dann wird bei Geburtstagen und anderen Anlässen etwas besorgt, was die Betreffende sich wünscht. 

Männer?
I: Gibt es eigentlich auch männliche Mitbewohner in der WG?
Frau P: Es hatten sich auch Männer für die Wohngemeinschaft gemeldet, denn wir haben partout nichts gegen Männer, aber die wollten dann bebügelt und bekocht werden. Dazu sagten wir "Nein". Wenn, dann brauchen wir selbständige Männer. Ein Mann war sehr reizend. Den hätten wir gerne gehabt, aber der sagte "Tut mir leid, aber ich fühle mich nicht im Stande 11 Damen in den Mantel zu helfen".

Erzähl-Cafe
... Die Erzähl-Cafes, einmal im Monat, zu denen auch Gäste aus der Stadt kommen, und verschiedene Kurse, die der Verein anbietet sind eine sehr wichtige Einrichtung. Die Leitung durch eine junge Frau ist hervorragend.
Mein jüngster Sohn und ich waren auch einmal das Thema dieser Gespräche: "Mutter und Sohn in den wilden Jahren". Wir erzählten einiges über seine kommunistische Zeit, die für mich sehr beängstigend war, weil ich erkannte, dass er auf einen falschen Weg geriet und es keinen Vater mehr gab, der vielleicht geholfen hätte. 

Bilanz
I: Sie haben bestimmt sehr viele BewerberInnen für die WG.
Frau P.: Nein, das ist nicht so, im Gegensatz zu Dänemark und Holland, wo es diese Einrichtungen schon lange erfolgreich gibt. Bei Informations-Veranstaltungen lassen sich viele alles genau erklären, aber sagen dann: "Nein, das kann ich nicht!" Offenbar wollen die lieber in ein Heim. Ich habe Frauen in gut geführten Häusern besucht und war mitunter entsetzt, wie die Alten miteinander umgingen. Alter bedeutet ja leider nicht unbedingt Güte, Nachsicht und Humor. 
Bei uns spielt die Selbstorganisation eine grosse Rolle und das ist besonders wichtig, und ausserdem helfen wir uns untereinander, wenn es irgend geht.
Ich bin nach wie vor dankbar, hier leben zu können.
I. Vielen herzlichen Dank für das Gespräch mit Ihnen!

Links
Der Verein "Freie Altenarbeit Göttingen" im Internet:
http://home.t-online.de/home/freiealtenarbeitgoettingen 

Bericht in den BAGSO-Nachrichten 01/2000 über das Projekt
http://www.bagso.de/717/01_3_05.htm