AusdruckenLernCafe 20 vom 15. November 2003: "Gesund ins Alter"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
http://www.lerncafe.deLeben lernen im Rollstuhl
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Prof. Dr. Reinhardt Rüdel
E-Mail: reinhardt.ruedel@medizin.uni-ulm.de
Sind wir auf den Rollstuhl vorbereitet?
Vom rollstuhlgerechten Bauen wird nun schon viel geredet. Wenn man sich die Neubauten anschaut, merkt man, dass es die Architekten, sollten sie es an der Hochschule auch schon gelernt haben, es meist doch noch nicht richtig umsetzen.Wenn die Lebenserwartung zunimmt, werden selbstverständlich immer mehr Menschen damit konfrontiert, dass sie einmal einen Rollstuhl als Hilfsmittel brauchen werden. Sind wir Senioren denn auf seine Nutzung vorbereitet? Oder geht es uns wie den Architekten, dass wir zwar die Fakten kennen, sie aber innerlich nicht akzeptieren und daher nicht wirklich darauf eingestellt sind, wenn es soweit ist?
Der Rollstuhl eine Katastrophe?
Mit den folgenden Ausführungen möchte ich Sie davon überzeugen, dass ein Rollstuhl nicht das Schlimmste ist, was einem im Leben widerfahren kann. Ich setze voraus, dass der Zugang zur Wohnung rollstuhlgerecht ist, und in der Wohnung selbst sich auch alles Wesentliche auf diese Spezialsituation einstellen läßt, dass Gänge und Türen breit genug sind, vor allem die zu Bad und Toilette. Wenn das nicht gegeben ist, muß man sich eine andere Behausung suchen. Das ist zugegeben oft ein riesiges Problem. Die anderen Bedenken aber, die die Menschen im Zusammenhang mit schwindender Muskelkraft in den Beinen beunruhigen, ich meine die psychologischen, ob man im Rollstuhl noch ein vollwertiger Mensch sei und dergleichen, die sind dagegen eigentlich leicht auszuräumen.
Endlich wieder Sicherheit beim Fortbewegen
Wenn der Rollstuhl nicht durch einen Unfall plötzlich erzwungen wird, ist ihm ja eine mehr oder weniger lange Periode des beeinträchtigten Gehens vorausgegangen. Lange Strecken konnten nicht mehr zurückgelegt werden, kleine Unebenheiten im Wege führten schon zum Stolpern oder gar Hinfallen, ein fröhlicher Hund, ein stürmisches Kind konnten einen umwerfen. Wer sich nach solchen Erfahrungen zur Benutzung eines Rollstuhls entschließt, wird - sobald er mit dem Gerät erst richtig umgehen kann - viele Vorteile bemerken: Die Angst vor dem alle Welt erschreckenden Hinfallen gibt es nicht mehr, die Unsicherheit beim Fortbewegen entfällt, man kann wieder große Strecken zurücklegen, und vor allem: man ist wieder viel schneller!
Welchen Rollstuhl soll man kaufen?
Es gibt unglaublich viele Hersteller und Modelle. Nur nicht gleich den erstbesten kaufen, den das Orthopädiegeschäft einem andienen möchte! Ein erfahrener Krankengymnast weiß meistens bessere Beratung als der Hausarzt. Heutzutage läßt man sich den Rollstuhl anpassen wie einen Maßanzug. Nicht zu schwer sollte er sein, also allen Firlefanz weglassen! Und ich finde, er sollte chic sein: bunt, schnittig und die Räder ein bisschen schräg gestellt. Ein Rollstuhl reicht eigentlich nicht. Denken Sie daran: Sie haben ja auch elegante Slipper, bequeme Hausschlappen, Sportschuhe, Wanderstiefel, Sandalen. Rollstühle gibt es natürlich auch zu verschiedenen Preisen von etwa 2.000€ aufwärts. Zwei Rollstühle muss Ihnen Ihre Kasse zahlen, wenn der Arzt sie Ihnen verschreibt.
Die Aussenwelt muss noch viel lernen
In vielen Ländern sind schon erstaunlich viele Bordsteine abgesenkt. Zwar mussten bei uns inzwischen alle öffentlichen Gebäude rollstuhlgercht umgebaut werden, aber bei Kirchen, Schulen, Gaststätten hapert's häufig. Die Türen sind zwar meist breit genug, aber die vielen Stufen! Da helfen nur starke Arme, die anpacken. Aber fremde Helfer findet man immer, wenn man gelernt hat, die Richtigen anzusprechen. Die große Hilfsbereitschaft der Mitmenschen ist eine überwiegend positive Erfahrung für den Rollstuhlfahrer. Leider gilt Rücksichtnahme wenig bei den Rollstuhlfahrerparkplätzen. Ein großes Problem sind rollstuhlgängige Toiletten. Jeder Rollifahrer sollte den sog. Europaschlüssel am Bund haben, mit dem ihm zumindest in Deutschland die öffentlichen Toiletten unkompliziert zugänglich werden. Für Notfälle gibt es Minibeutel. Hier sind die Herren der Schöpfung etwas im Vorteil.
Wie steht's mit dem Selbst-Autofahren?
Für die Autoindustrie sind Rollstuhlfahrer eine interessante Kundschaft, auf die sie sich erstaunlich stark eingestellt hat. Man kann praktisch jedes Auto für einen Rollstuhlbenützer umrüsten. Es sollte natürlich nicht zu hoch sein (aber welcher Senior muß denn einen Off-Roader haben?); der Kofferraum sollte groß sein (am besten ist ein Caravan); eine Gang-Automatik ist angesagt (würde ich sowieso jedem Senior empfehlen), und notfalls eine Handbedienung für Bremse und Gas (dafür gibt's Spezialhersteller mit den verschiedensten Lösungen. Einbau in wenigen Stunden!). Ein Knopf am Steuerrad für einhändiges Lenken vervollständigt die Umrüstung. Übrigens: Jede größere Auto-Marke gibt Rollstuhlfahrern einen Nachlass auf den Kaufpreis eines Neuwagens.
Und mit dem öffentlichen Verkehr?
Stadtbusse sind in Deutschland fast überall auf Mitnahme von Rollstuhlfahrern eingestellt. Auch immer mehr Straßenbahnen. Die Münchner U-Bahn ist perfekt, Berlin mit seinem älteren U- und S-Bahn-Netz muß noch viel nachholen. Bei Reisebussen ist die Situation im allgemeinen schlecht. Dagegen ist "Die Bahn" inzwischen gut auf Mitnahme von Rollstuhlfahrern vorbereitet. In moderne Nahverkehrszüge kann man einfach hineinrollen Für ICs und ICEs braucht man zwar Einstiegshilfe, aber die erhält man unkompliziert an den modernen Servicepoints zugeteilt. Wichtig ist, dass inzwischen praktisch alle Züge der DB mit einer Rollstuhlfahrertoilette ausgerüstet sind. Leider gilt das nicht unbedingt für Eurocitys. Am frühsten haben sich die Flughäfen und die Fluggesellschaften auf Rollstuhlfahrer eingestellt. Selbst in die kleinen Cityhopper wird man von geschultem Personal auf schmalen Tragstühlen fachgerecht verladen.
Nicht zu spät umsteigen!
"Solange ich noch irgendwie laufen kann, werde ich mich nicht in so ein Ding setzen" - Falsch gedacht: Machen Sie den Umstieg nicht in allerletzter Minute! Er fällt nämlich psychologisch viel leichter, wenn man ihn "freiwillig" macht. Vielleicht erst einmal ein wenig fern der Heimat, in der Nachbarstadt, wenn man bei ersten Erfahrungen unbeobachtet (d.h. nicht von Bekannten bemitleidet) sein will. Ein wenig Übung braucht man auch. Sowohl, was die Fahrtechnik anlangt (und da sollte man eben beim lernen noch nicht ganz schwach sein!), als auch was das Verkraften des Seelischen anlangt. Und es ist gut, wenn man dann auch nochmal aussteigen kann, wenn's einem anfangs zu viel wird.