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LernCafe 29 vom 15. März 2005: "Brücken bauen, Türen öffnen - Lernen durch interkulturelle Begegnungen"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
http://www.lerncafe.de

Grandma goes global

(Druckversion)


Christa Böger
E-Mail: christa.boeger@gmx.de

Einführung
Meine Freundin Erika, eine engagierte Kinderärztin, geht in drei Monaten in den Ruhestand -topfit und voller Schwung. Schon seit längerer Zeit bereitet sie sich intensiv darauf vor. Neugierig schaut sie sich bei KollegInnen und FreundInnen um und lässt sich anregen von den verschiedenen "Ruhestandsmodellen". Sie informiert sich in den Medien, liest die Broschüren der Seniorenorganisationen. Und ihr wird immer klarer: sie möchte etwas Sinnvolles tun, ihre Berufserfahrung nutzen, Neues entdecken und erleben. Warum also nicht einige Zeit an einem Krankenhaus in Indien arbeiten? Sie ist auf ein entsprechendes "Stellenangebot - Aufbau einer Kinderstation in Indien" - auf den Webseiten des SES *(Senior Experten Service") gestoßen.

Senior Experten Service
Diese unabhängige gemeinnützige Organisation wird von der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für Internationale Zusammenarbeit getragen und von der Bundesregierung unterstützt. Sie vermittelt Fachkräfte im Ruhestand, die im In- und Ausland freiwillig und ohne Honorar für eine gewisse Zeit - zwischen zwei Wochen und sechs Monaten - tätig sind. Sie beraten, geben Hilfe zur Selbsthilfe und verbessern so die Lebensqualität.
Erika gefällt besonders das Motto "Zukunft braucht Erfahrung! Und Erfahrung hat Zukunft!" Und war nicht Indien einmal ihr Jugendtraum? Jetzt könnte sie ihn sich erfüllen, denn wenn nicht jetzt, wann dann?

Mit SES nach Indien
Also die Bewerbung an den SES geschickt. Sie erhält sehr bald eine positive Antwort, denn ihr Profil passt perfekt auf die Ausschreibung. Und ab jetzt wird sie von SES betreut. Sie bekommt Informationen zu Versicherungen, Gesundheit, Arbeitsbedingungen, zur indischen Gesellschaft und Geschichte. Der SES weiß aus 21 Jahren Erfahrung, welche Rolle kulturelle Unterschiede im Alltag spielen und wie sehr sie den Erfolg oder Misserfolg eines Einsatzes bestimmen können. Deshalb erhalten die zukünftigen SES-ExpertInnen ein "Interkulturelles Training" für das jeweilige Einsatzland. Die TrainerInnen sind oft in beiden Kulturen aufgewachsen, wie z. B. Neena, eine indische Betriebswirtin und Johannes, ein deutscher Pädagoge, die in Indien und in Deutschland zu Hause sind.

Interkulturelles
In Vorträgen ("Inputs"), Gesprächen, Spielen und vor allem Rollenspielen erfährt Erika zwei Tage lang Notwendiges, Wissenswertes und entdeckt eine andere Welt. Anders als in Deutschland ist die Familie, die Gruppe oder das Arbeitsteam wichtiger als das Individuum, was sich natürlich auch bei der täglichen Arbeit auswirkt. In der traditionellen indischen Gesellschaft genießen die Hierarchien höchsten Respekt, sicher nicht leicht für die emanzipierte kritische Erika. Auch gibt man keine Befehle, sondern verpackt sie in höfliche Vorschläge und man sagt niemals "nein". Harmonie ist wichtig für Menschen, die auf engem Raum zusammenleben. Das Verhältnis zu der Zeit ist ein anderes, denn für Hindus scheint sie endlos zu sein. Das Hindu Wort "Kal" bedeutet sowohl gestern als auch morgen. Da erstaunt es nicht, dass Pünktlichkeit nicht hoch im Kurs steht.

Global Players
Nicht nur die SES-ExpertInnen bei ihren Auslandseinsätzen brauchen interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation. Vor allem die Geschäftsleute der multinationalen Konzerne benötigen sie für ihr globales Handeln. Deshalb sind schon früh in diesem Bereich verschiedene Konzepte entwickelt worden, um die MitarbeiterInnen entsprechend zu schulen. Der Pionier und Klassiker der interkulturellen Forschung der Holländer Geert Hofstede (*1928 ) hat in seiner immer noch aktuellen Analyse "Culture's consequences"** von 1980 kulturelle Unterschiede zwischen Organisationen in 50 Ländern untersucht.

Interkulturelle Theorie
Er fand dabei vier "Hauptdimensionen" in denen sich Kulturen unterscheiden und deren Verständnis die Kommunikation und den Umgang in interkulturellen Begegnungen und Gruppen erleichtern:
1. Der Machtdistanzindex misst Einstellungen zu Ungleichheit, den Respekt gegenüber Autoritäten. Er beträgt beträgt in Indien 77 Punkte und charakterisiert damit eine hierarchische Gesellschaft mit ausgeprägter sozialer Ungleichheit. In Deutschland beträgt er dagegen 30 Punkte.
2. Der Individualismus-Index beschreibt Gesellschaften, in denen die Bindungen zwischen den Individuen locker sind. Sein Gegenstück, der Kollektivismus, beschreibt Gesellschaften, in denen der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir-Gruppen integriert ist, die ihn ein Leben lang schützen und dafür bedingungslose Loyalität verlangen. (Indien 41 Punkte, Deutschland 63 Punkte).

Noch mehr Theorie
3. Der Maskulinitätsindex misst den Grad, bis zu welchem die traditionellen Geschlechterrollen in einer gegebenen Gesellschaft betont werden. Maskulinität kennzeichnet eine Gesellschaft, in der die Rollen der Geschlechter klar gegeneinander abgegrenzt sind: Männer haben bestimmt, hart und materiell orientiert zu sein, Frauen müssen bescheidener, sensibler sein und Wert auf Lebensqualität legen. (Indien 56 Punkte, Deutschland 61 Punkte).
4. Der Index der Unsicherheitsvermeidung lässt sich definieren als der Grad, in dem die Mitglieder einer Kultur sich durch ungewisse oder unbekannte Situationen bedroht fühlen.(Deutschland 60 Punkte, Indien 40 Punkte ).

Seminare und Trainings
Interkulturelle Trainings und Seminare für ManagerInnen setzen diese Erkenntnisse mit vielerlei Methoden um. Es geht dabei um Kommunikation im weitesten Sinne mit praktischen Übungen zu Umgangsformen, Geschenken, Gesprächsthemen, Verhandlungen, etc. Eine besondere Rolle spielt die nonverbale Kommunikation, die komplex und nicht immer leicht zu entschlüsseln ist. Interkulturelle Trainings und Seminare werden für internationale Fachkräfte aller Art von Institutionen und Privatfirmen angeboten. Google findet zum Stichwort "Interkulturelles Training" 101 000 Einträge***.

Aufbruch
Erika hat gelesen und geplant. Sie hat ihr Englisch aufgefrischt. Es wird ihr gute Dienste tun in Bikaner, der kleinen Stadt in Rajastan, wo sie die nächsten sechs Monate leben wird. Schließlich ist es soweit. Sie lädt Kinder und Enkel zu einem indischen Abschiedsessen mit Curry, Dal Makhani und Chai ein. Florian, ihr ältester Enkel, hat ihr eine Schürze bedruckt: Grandma goes global.

Literatur und Links
1*. Senior Experten Service
www.ses-bonn.de
2.** Geert Hofstede, Lokales Denken, globales Handeln: Kulturen, Zusammenarbeit und Management 3. Auflage Oktober 2005-02-16
www.geerthofstede.com
3.*** Interkulturelle Bewusstheit
Ein E-Mail-Projekt zum interkulturellen Lernen am Lehrbereich DaF (www.tu-dresden.de/sulifg/daf/home.htm) des Instituts für Germanistik an der TU Dresden.Sommersemester 2005 Ins Netz gestellt von: Dr. Ulrich Zeuner
www.tu-dresden.de/sulifg/daf/iklerfra.htm