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LernCafe 32 vom 15. Oktober 2005: "Winter - Impressionen - Visionen - Illusionen"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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Der Altersangst-
Komplex


(Druckversion)


Helmut K. Doerfler
E-Mail: publicmarketing@arcor.de

Fleißarbeit
Von dem US-Fernsehmacher Art Linkletter (* 1912) stammt die bissige Bemerkung: "Die vier Lebensphasen des Mannes sind: Säuglingsalter, Kindheit, Adoleszenz und Obsoleszenz." Der zynischen Meinung, man (vielleicht auch frau) werde im Alter überflüssig, widerspricht Herrad Schenk in allen Kapiteln ihres neuen Buches "Der Altersangst-Komplex. Auf dem Weg zu einem neuen Selbstbewusstsein" und belegt das im Anhang mit einer Vielzahl von Literaturhinweisen und ausgewerteter Statistiken aus wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen der Neunzigerjahre bis etwa ins Jahr 2003. Eine respektable Recherche- und Fleißarbeit! Und die Autorin ist da in ihrem Element: Nach entsprechendem sozialwissenschaftlichem Studium hat sie in der anschließenden Hochschulzeit mit einem gerontologischen Thema promoviert.

Spektrum
Das Themenspektrum des Buches ist umfassend: Schenk beschäftigt sich mit dem psychologisch "gefühlten Alter" und mit der Schwelle zum "hohen Alter", das Gerontologen heute erst ab den Jahren 80 bis 85 ansetzen. "Selbsterfahrung, Selbstorganisation und Selbstverwirklichung" sind Stichworte für das, was sie "Individualisierung" der eigenen Lebenspläne und Entwürfe in der Nachberufsphase nennt. Und sie spart - im folgenden Kapitel - die Situation der Hochaltrigen nicht aus und schminkt sie auch nicht schön. Pflegebedürftigkeit, Demenz. Alzheimer und Altersdepressionen werden konkret besprochen. Aber: "21 % pflegebedürftige Männer und 28 % pflegebedürftige Frauen über 85 Jahren bedeuten umgekehrt, dass vier von fünf hochbetagten Männern und mehr als zwei Drittel der hochbetagten Frauen allein zurechtkommen."

Kohorten
Der soziologische Lieblingsbegriff von Herrad Schenk ist "Kohorten", also die gemeinsamen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Erfahrungen und Prägungen einer Generation in Kindheit und Adoleszenz. Die jetzt "heranwachsende" Altengeneration "60 plus" im Westen - die 68er-Kohorte mit neuen Einstellungen und Lebensstilen - hat, so Schenk, zweifellos andere Werte und Bedürfnisse als die "jungen Alten" in Ostdeutschland ("Sie gehören zu den ökonomischen Verlierern der Wiedervereinigung."). Wer sich über die soziale Zukunft und die materiellen Herausforderungen dieser und künftiger Altersgenerationen ein realistisches Bild verschaffen will, der findet bei Schenk eine Fülle von Daten und Analysen.

Lebensformen
Auch zu den historischen und aktuellen Arbeitsmarktbedingungen: Lesenswert, was sie auf dem Hintergrund des demografischen Wandels über Frühverrentung und relativ frühe Altersarbeitslosigkeit, über das Leistungspotenzial der Älteren und über neue individualisierte Berufsarbeit im Alter schreibt.
Entspannte Familienbeziehungen als "Generationssolidarität auf Distanz", die Vielfalt von - sexuellen, erotischen und freundschaftlichen - Paarbeziehungen im Alter, das zunehmende Gewicht von Freundschaften für Singles und Paare, neue Wohn- und Lebensformen alternder Menschen: Herrad Schenk bringt den Leser mit relativ aktuellen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen auf einen neuen Informationsstand. Die Bedeutung von Netzwerken unter Alten, einer neuen Fitness- und Lernkultur in den späteren Jahren wird ebenso gewürdigt wie der zunehmende Stellenwert gesellschaftlichen Engagements und ehrenamtlicher Tätigkeiten von Senioren.

Altersangstkomplex
Für mich blieb das Buch - trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Datenfülle - bis zur letzten Seite eine etwas mühsame Lektüre. Herrad Schenk unternimmt den Versuch, möglichst breit alle Lebensbereiche des Alters zu erfassen und darzustellen, sie gesellschaftspolitisch abzuschreiten und den Wechsel der Lebensverhältnisse im Alter mit Zahlen akribisch zu belegen. Das geht, so fürchte ich, vielfach auf Kosten einer tieferen Reflexion, die in den letzten Kapiteln "Auf der Suche nach dem richtigen Leben: Vom "Altern als narzistische Kränkung" zur "Weisheit des Alters" und "Ich glaube an das Alter, lieber Freund…" Die Zukunft des Alters" ebenfalls nur anklingt und erneut mit Daten und Fakten zugeschüttet wird.
Den Titel des Buches handelt sie auch dort leider nur mit ein paar Nebenbemerkungen ab, vom "Weg zum neuen Selbstbewusstsein", auf dem inzwischen längst viele von uns Alten unterwegs sind, ist nur recht sparsam die Rede.

Titelnachweis
Herrad Schenk
"Der Altersangst-Komplex
Auf dem Weg zu einem neuen Selbstbewusstsein"
2005. 239 Seiten
broschiert EURO 14,90
bei Verlag C.H. Beck, München