AusdruckenLernCafe 32 vom 15. Oktober 2005: "Winter - Impressionen - Visionen - Illusionen"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
http://www.lerncafe.deDie Kunst des Alterns. Reifen und Loslassen
(Druckversion)
Helmut K. Doerfler
E-Mail: publicmarketing@arcor.de
Wege
Zu selbstverantwortlicher Nachdenklichkeit. "Es ist heute viel mehr von dem in unsere eigenen Hände gelegt, damit aber auch in unsere eigene Verantwortung, was man früher als Schicksal angesehen hat." So steht es in der Einleitung zu dem neu erschienenen Buch "Die Kunst des Alterns. Reifen und Loslassen" von Fritz Riemann und Wolfgang Kleespies. Eine faszinierend tiefgründige Neuerscheinung auf knappen 163 Seiten zum Weiter- und Nochmallesen für alle, die Wege suchen, beim Altwerden zu "selbstverantwortlicher Nachdenklichkeit" und zu "geistiger Freiheit im Alter" zu gelangen, wie Kleespies im Vorwort schreibt.
Riemann und Jung
Psychologisch Interessierten ist Fritz Riemann zweifellos vertraut als Autor des berühmten Bestsellers "Grundformen der Angst." Riemann starb 1979. Nun hat der Ernst Reinhard Verlag Wolfgang Kleespies - Psychiater, Neurologe, Dozent und Lehranalytiker am Berliner C.G. Jung-Institut - beauftragt, das von Riemann hinterlassene Manuskript "….durchzusehen, zu überarbeiten und an den gegenwärtigen Stand der Altenforschung anzugleichen", wie der posthume Co-Autor erläutert. Auch um den Leser unter anderem im Sinne von Jungs Psychologie auf seine individuellen "Schatten" zu verweisen, die ihn daran hindern können, kunstvoll und weise zu altern.
Zielvorstellungen
"Selbstverwirklichung und Liebe: Das seien die zwei Zielvorstellungen bei unserer Suche nach Glück. Statt zwanghafter Leistung bei der Jagd nach flüchtigem Erfolg, nach Macht, Ruhm, Besitz und Statussymbolen gehe es im Alter vor allem darum, wieder "leben (zu) lernen, … uns zu sammeln, zu konzentrieren, zu meditieren." und "Schaffensfreude" zu entwickeln. Und darum, den Blick zu öffnen für die eigentlichen Glücksmöglichkeiten, "für die Liebesfähigkeit, Verantwortung, Brüderlichkeit, für die Ehrfurcht vor dem Leben, für Dankbarkeit und für eine Freiheit, die keine Willkür ist, sondern die Möglichkeit, uns zu entwickeln innerhalb notwendiger Grenzen, die durch die Humanität gesetzt sind."
Alterswerte
Die technischen und naturwissenschaftlichen Erfolge unserer Zeit hätten uns vielseitige Freiheiten gebracht. Jedoch: "Es ist etwas anderes, alles Interesse darauf zu richten, wie man jung bleiben und ein möglichst langes Leben genießen kann oder darauf, wie man den Rest seines Lebens gestalten möchte." Daneben gäbe es auch den "scheinbar unabänderlichen Druck zur Verwirtschaftlichung unseres Lebens". Hier fehlten - so die Autoren - heute Patentlösungen und Leitbilder für das Alter und auch "... jeder (müsse) seinen eigenen Tod sterben." Ähnlich vielfältig seien auch die Vorstellungen über das "Danach". Und vielleicht sei gerade die "... Sehnsucht nach Transzendenz einer unserer höchsten Werte."
Alterskrisen
Die Angst nach einem ungewöhnlich erfolgreichen Leben vor dem gesellschaftlichen Abstieg, der Verlust von Jugend und Schönheit könnten ebenso in Alterskrisen führen wie ein unerfülltes Leben oder spät erwachte Lebensgier. Für "Erotik und Sexualität in der zweiten Lebenshälfte" gebe es heute keine "Faustregeln". Meist werde der Einzelne auch vom eigenen Alter überrascht. Wesentlich sei deshalb, "das Alter rechtzeitig mit ein(zu)beziehen, dafür (zu) planen", wie es im folgenden Kapitel heißt. Dazu gehöre nicht nur materielle Vorsorge, sondern auch "loslassende" Lebensgestaltung und im besten Fall neue schöpferische Aktivität.
Nachreifen
Die beiden nächsten Kapitel "Was das Altern heute erschwert" und "Was das Altern heute erleichtert" befassen sich mit heute geänderten Sozialrollen der Alten. Entscheidend: Das "Annehmen der zeitlichen Begrenztheit gibt dem Alter sein spezifisches Lebensgefühl". Die verlängerte Lebenserwartung erschließe im Übrigen dem alternden Menschen neue Chancen, noch gebraucht zu werden, speziell bei beratenden und betreuenden Aufgaben. Hier verweist Kleespies auf die von Jung so genannten Individualisierungsprozesse "als angeborene Eigenschaft der Psyche, dazu zu lernen und zu reifen, lebenslang".
Endlichkeit
Die Einstellungen des Einzelnen zum Tod seien individuell grundverschieden. Das Buch greift hier die Jung'sche Grundidee von der "Entfaltung bisher vernachlässigter Fähigkeiten" und von Selbstfindung und Selbstverwirklichung" im Alter auf. Zitiert wird von Kleespies dabei der Philosoph Wilhelm Schmid : "Die Lebenskunst geht mit der Kunst des Sterbens einher, das Lebenswissen mit dem Sterbenwissen...". "Selbstannahme" bedeute daher auch das Selbstvertrauen, dass in der eigenen Psyche nicht nur die Bewältigungsmechanismen des Lebens vorhanden sind, sondern dass wir darauf vertrauen können, dass in uns grundsätzlich auch die Möglichkeiten zur Bewältigung des Alters und schließlich des Todes angelegt sind, im Sinne eines archetypischen Programms."
Alterstugenden
Mit "Schicksalsgemeinschaft als Erleichterung" - Titel des nächsten Kapitels - werden politische und Bildungsinitiativen im Alter angesprochen als Hilfe gegen das, "... was den Einzelnen verfrüht altern lässt: Leere, Untätigkeit, Interesselosigkeit, Einsamkeit. Der Psychologe verweist hier auch auf Therapiechancen für eine spätere Reifung und als Vorbereitung auf das späte Alter und den Tod. "Von den Tugenden des Alters" handelt das folgende Kapitel. Gelassenheit, vom Narzissmus abgelöste Liebesfähigkeit, die "Fähigkeit zum Transzendieren und das Annehmen der Vergänglichkeit könnten im Alter ebenso zu einer "größerer Intensität und Dichte des Erlebens" und zu Altersreife führen wie Bedürfnislosigkeit, das "das Nachlassen des Begehrens im weitesten Sinne".
Altersfreiheit
"Die vielleicht größte Chance des Alters liegt in der geistigen Freiheit." Einfach wir selbst zu sein, entpflichtet, ohne Rollenzwänge, mit "heiterer Distanz" zu anderen, weniger verflochten mit der Gegenwart, aufrichtig und furchtlos im Bekennen zu sich selbst: Über solche erfreuliche Altersperspektiven schreiben die Autoren im Folgenden und fragen, ob ".. nicht Kultur und deren Vertiefung der Sinn und Zweck der zweiten Lebenshälfte sein" könnte, wenn denn der Einzelne solche Wandlungschancen bewusst ergreife.
Atersängste
Das vorletzte Kapitel über das "Nicht-loslassen-Können" ist deutlich durch Kleespies' Handschrift geprägt. Nicht-Loslassen von Partnern und von "symbiotischen Beziehungsformen", "große Liebe" als Ausdruck der Hilflosigkeit und des Nicht-Alleinsein-Könnens, Besitz- und Machtsucht, Anklammern an erreichte Positionen: Solche Verhaltensweisen im Alter seien meist Ausdruck starker Ängste. Eine der schlimmsten Altersängste sei die vor der Einsamkeit. Dahinter ständen vielfach frühkindliche Ängste. Und dass wir bisher die "Segnungen" der Einsamkeit nicht erlebt, unser "Eigensein" zu wenig entwickelt hätten. "Je mehr wir Persönlichkeit sind, in uns selbst ruhen, umso weniger kann uns die Einsamkeit schrecken".
Mein Fazit
Hier ist - so finde ich - Fritz Riemann ein außergewöhnlich reiches und weises Alterswerk gelungen, dessen Aktualisierung durch Wolfgang Kleespies es zweifellos noch lesenswerter macht. Lesen wir uns noch ein paar letzte Zitate: "Und schließlich gibt es noch die letzte Einsamkeit, vor der wir nicht fliehen können: Krankheit und Alter. …. Hier hilft uns wohl nur noch die Besinnung nach innen, auf die eigene Tiefe, in welcher wir vielleicht durchstoßen können zu dem, was wir Gott oder den kosmischen Seinsgrund oder das mystische All-Einssein nennen. Dann kann unsere letzte Einsamkeit des Sterbens in ein Aufgehobensein münden, in eine Selbstvergessenheit, der vielleicht das Wort Erlösung am ehesten entspricht."
Wie gesagt: Für mich ein Buch zum gerne mehrfach Lesen.
Titelnachweis
Fritz Riemann und Wolfgang Kleespies
"Die Kunst des Alterns. Reifen und Loslassen"
E. Reinhard Verlag München + Basel
163 Seiten. ISBN 3-497-01761
12,90 EUR