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LernCafe 33 vom 1. März 2006: "Globalisierung"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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Entschleunigen: Auf staatliches Geheiß?

(Druckversion)


Helmut K. Doerfler
E-Mail: publicmarketing@arcor.de

Altersstress
Wir haben mehr Freizeit als je zuvor - besonders wir Senioren - und dennoch hasten viele unserer Altersgenossen noch durchs Leben wie die berühmten gesengten Säue - mit dem ebenso lockeren wie dämlichen Spruch vom "Unruhestand" auf den Lippen. Warum nicht endlich mal "Entschleunigung" praktizieren, wie es der kluge Fritz Reheis empfiehlt in seinem Buch "Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus"? Wenigstens jetzt, wo uns Alte die Kapitalistenknechte nicht mehr mit der Knute "Leistungsstress" im Nacken sitzen? Nein: Ich meine nicht Dauerglotze, die Dauerpulle oder ähnliche Altersdrogen. Aber eben - gelassen und achtsam - tun, was Freude macht und belebt: Auch lesen, lernen, kreativ sein, Freundschaften pflegen, uns die und das Fremde neu erschließen...

Tempokrank
Reheis hinterfragt die Gründe und landet - der Untertitel verrät's - stracks im Gesellschaftspolitischen, beim "Turbokapitalismus." Teil I handelt von Symptomen und Prognosen der "Beschleunigungskrankheit", die die Mehrzahl von uns wenigsten aus dem beruflichen "Hamsterrad" kennen. Das fängt in der Schule bereits an, zieht sich durchs ganze Arbeitsleben, macht auch als "ruhloses Konsumieren" vor der Freizeit nicht Halt und prägt die Führungspositionen in Wirtschaft und Politik ganz besonders. Krankheiten - vom Burnout bis zum Suizid und Amoklauf - münden, so warnt er, in gesellschaftlichem Zerfall, in sozialen Konflikten und letztlich im Terror. Ziemlich plausibel, was der Autor da an kapitalistischen Erscheinungsbildern beschreibt, in einer eingängigen, einfachen Sprache.

Sucht?
Der turbo-beschleunigte Mensch, hektisch, fast ohne bewusste, sinnliche Wahrnehmung mehr? Wenn die Hamster nicht mehr mögen, steigen sie aus. "Die Menschen tun es nicht". Nicht in der Schule, beim Arbeiten, beim Konsumieren. Der Autor geht wie ein gründlicher Arzt vor und diagnostiziert: "Die Beschleunigungskrankheit ist eine echte Suchtkrankheit. Der Patient ist süchtig im doppelten Sinn des Wortes:
>> siech << geworden durch das Tempo - und unablässig ">> suchend << nach weiterer Temposteigerung."

Was treibt uns?
In Teil II befasst sich der Autor mit der Diagnose. Sind wir genetisch auf Tempo programmiert? Hat die Aufklärung uns mit dem Jenseitsbild - der Rückkehr in Gottes Schoß - auch die irdische Gelassenheit gestohlen? Reheis landet zuletzt bei einer im Grunde sehr alten (Aristoteles) Kritik an Geld und Kapital, beim alten Marx und seinen Zeitgenossen, bei der verteufelten "Zinseszinsschraube". Alle drei Faktoren, so seine Schlussfolgerung, stecken hinter der gefährlichen Beschleunigung.
Entscheidend sei jedoch: "Die Verselbständigung des Geldes macht die Menschen maßlos, die Produktion für die Produktion lässt die Reproduktion zu kurz kommen und die Zinseszinsschraube spornt die Schuldner und Gläubiger zu immer neuen Höchstleistungen an."

Global
Es macht schon Spaß, Reheis bei seinem Spaziergang durch die Welt des globalen Turbokapitalismus zu begleiten, in dem letztlich auch Staat und Kommunen auf der Strecke bleiben sollen. Denn "Aus Volksherrschaft wird Geldherrschaft".
Vorausgesetzt, wir alle strampeln mit, argumentiert der schlaue Autor und rät zur Subvention. Oder besser: Zum Befolgen der "Eigenzeiten". Schon in den 90erJahren tauchte dieses Schlagwort von der "Ökologie der Zeit" auf. "Pflanzen, Tiere und Menschen, soweit nicht vom Geld getrieben, sind langsamer." Und: Geld mit seiner "gigantischen Beweglichkeit" und "atemberaubenden Fliessgeschwindigkeit: "Das Geld muss schrittweise aber grundlegend entmachtet werden."

Kluge Lust
Die mit Abstand sympathischste Idee in dem Buch: Folge dem natürlichen persönlichen Rhythmus und nimm deine Seele mit. Lerne zu regenerieren, mach möglichst wenig mit beim kapitalistischen Raubbau - an der Natur und an der persönlichen Gesundheit. Allerdings, so weit geht der Autor nicht wie Franz Werfel, der die Konsequenz einst auf die schlanke Formel gebracht hat: "Der sicherste Reichtum ist die Armut der Bedürfnisse."

Alte Klamotten
Beim eigentlich spannenden Teil, den (gesellschaftspolitischen) Therapievorschlägen des Autors, wird's dann aus meiner Sicht recht problematisch. Abschaffen der Zinsen? Geld quasi "rosten" lassen mit eingebautem Verfallsdatum? Eigentumsreform, gar Planwirtschaft? Da werden alte wirtschaftstheoretische Klamotten von Marx bis Silvio Gesells Schundgeld wieder aus dem historischen Schrank geholt. Der Staat soll's halt richten. Oder auch die durchaus plausiblen Überlegungen der Tobien-Steuer, mit der u.a. Attac argumentiert. Andererseits: Oft braucht das Individuum ja gar nicht mitmachen. Siehe Slow Food, Sabbatjahr, der "Verein zur Verzögerung der Zeit" von Peter Heintel.

Uralte Weisheiten
Wo mir persönlich Reheis mit seinen aus meiner Sicht recht antiquierten, rückwärtsgewandten Therapievorschlägen unbehaglich wird, das kristallisiert sich bei Äußerungen wie diesen: "Im kapitalistischen Alltag wird der bornierte Egoismus ja in der Regel sogar belohnt... Das Machtmonopol des Staates ist also unverzichtbar, um den Menschen vor seiner eigenen Dummheit und Gier zu schützen." Und wer ist der Oberschlaue im Staat, der die gesellschaftspolitischen Regeln festlegt? Wer zwingt mich zu Gier und Hetze, und das auch noch im Alter? Wo ich dann bei Reheis gern weiter lese, ist seine Empfehlung, "...uns unseren Umgang mit der Zeit bewusst werden zu lassen." Aber ist das nicht ein zweieinhalb-tausend Jahre alter Therapievorschlag, die Weisheit, möglichst achtsam zu leben?

Titelnachweis
Fritz Reheis: "Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus"
Riemann-Verlag München 2003
Gebunden, 220 Seiten, 20 Euro

Links
www.fritz-reheis.de
www.slowfood.de
www.zeitverein.com (Verein zur Verzögerung der Zeit)