AusdruckenLernCafe 34 vom 1. Juni 2006: "Alter(n), eine Herausforderung"
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
http://www.lerncafe.deKindheit im Krieg
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Manfred Mätze
E-Mail: dmmaetzke@t-online.de
Kongress
Im April letzten Jahres fand auf dem Campus Westend der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt ein internationaler Kriegskinderkongress statt: "Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa sechzig Jahre nach Kriegsende". Veranstalter waren die Frankfurter Universität, das Institut für Jugendbuchforschung und das Sigmund-Freud-Institut Frankfurt. Das Interesse war groß, nur die Hälfte der 1200 Angemeldeten fand Platz im historischen IG-Farben-Haus der Universität. Eingeladen waren Ärzte, Psychotherapeuten und die akademisch interessierte Öffentlichkeit, darunter sehr viele der Generation der Kriegskinder. Ihre kriegsbedingten, oft lebenslang wirksamen psychischen, sozialen und körperlichen Belastungen haben erst in den letzten Jahren die verstärkte Aufmerksamkeit der Forschung gefunden.
Kriegskinder
Im letzten Jahr jährte sich das Kriegsende zum sechzigsten Mal. Die taz vom 2.5.2005 schrieb: "Eine Flut von Erinnerungen ergießt sich übers Land. 60 Jahre nach den historischen Ereignissen konnte man das Vorrücken der Alliierten gewissermaßen live miterleben: die Befreiung der KZs, die Schlacht um Berlin, die Kapitulation. Und die Älteren beginnen zu reden, vielleicht zum ersten Mal ohne Scheu, weil ja alle reden. Sie berichten von Bombenangriffen, von Flucht und Vertreibung. Über dieses oftmals stammelnde Erzählen konstituiert sich eine neue Generation: die der Kriegskinder." Zu ihnen rechnet man die Jahrgänge um 1930 bis 1945. Auch ich, im April 1944 geboren, gehöre zu dieser Generation. Bisher habe ich mich nicht damit beschäftigt, ob diese Zugehörigkeit etwas mit meinem Verhalten oder meinen Stimmungen zu tun hat.
Luftschutzkeller
In einer Notiz meines Vaters vom November 1945 ist über den Aufenthalt im Luftschutzkeller im April 1945 - ich war damals gerade ein Jahr - zu lesen: "Es war eine schlimme Woche!... Schlaf hatten wir auch so gut wie keinen, zumal Du uns Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen ließest... konntest Dich an die neue Umgebung, was Schlaf anbetraf, nicht gewöhnen." Versorgt wurde ich überwiegend von meinem Vater: "Deine Mutti war durch die bereits bestandenen und noch zu erwartenden Schrecken und aus Sorge um Dich einfach nicht fähig dazu. Es war wirklich nicht mehr schön, denn wir konnten ja jede Minute mit dem Tode rechnen. Dauernd kreisten die Tiefflieger über uns, es war anhaltend Fliegeralarm." Trotz meiner schlaflosen Nächte, schreibt er, war ich guter Dinge: "Durch Deine Sorglosigkeit und immerwährende Heiterkeit hast Du uns über diese schweren Stunden mit hinweggeholfen."
Aufbaugeneration
Die Frankfurter Rundschau charakterisiert die Kriegskinder: "Bombennächte, Flucht und Vertreibung, mit der Panzerfaust in der Hand und Stolz im Herzen mitmarschieren im letzten Aufgebot an der Heimatfront - gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sah so die Erfahrungswelt für etwa 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland aus." Was haben diese Erlebnisse und Erinnerungen aus ihnen gemacht? Neben der Widerstandsfähigkeit dieser Generation gegen jede Art von Ideologie wird ihr hohe Sparsamkeit und Härte gegen sich selbst nachgesagt. Sie sei unauffällig, angepasst und funktioniere nach dem Motto, "andere haben es doch viel schlimmer gehabt." In den 50er und 60er Jahren waren die älteren unter ihnen am Wiederaufbau beteiligt. Auch die aktuelle gesellschaftliche Situation ist wohl wesentlich mit beeinflusst von den Erfahrungen der Menschen dieser Generation.
Gratwanderung
Hartmut Radebold, Nestor der deutschsprachigen Psychotherapie älterer Menschen schätzt, dass etwa 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Krieg "schwerwiegend und langfristig etwas erlebt" haben. Er sieht "drei zentrale Bereiche der Beschädigung": Die Erfahrungen passiver und aktiver Gewalt, Trennung und Verluste wichtiger Bezugspersonen sowie der Verlust von Heimat, Sicherheit und Geborgenheit. Bei den meisten sei es jedoch kein einzelnes Ereignis, sondern eine Kombination aus zwei bis vier. Natürlich wird gefragt, ob wir unsere Opfer betrauern dürfen. Das Volk, das Millionen von Tätern und Helfern in seinen Reihen hatte. Die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt, Marianne Leuzinger-Bohleber, nennt es eine "sensible Gratwanderung", das Thema in die öffentliche Diskussion zu bringen, ohne die Holocaust-Erinnerungskultur zu relativieren.
Spätfolgen
Den Aufbauleistungen nach dem Krieg stehen die dunklen Schatten der Vergangenheit gegenüber. Schatten, die ihre Ursache in den in deutschem Namen begangenen Verbrechen haben. Schatten, die aus persönlich erlittenen Verletzungen während der Zeit des Krieges und danach herrühren. Erlebnisse wie Ausbombung oder Vertreibung sind nicht immer traumatisch; unbestreitbar ist jedoch, dass diese Generation typische Verhaltensweisen entwickelt hat, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit vorteilhaft waren: "Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter" Diese erweisen sich im Alter als problematisch, etwa dann, wenn die Älteren nicht sorgsam mit sich selbst umgehen, körperliche Belastungen ignorieren, Krankheiten nicht auskurieren oder nicht versuchen, belastende Erinnerungen und Erfahrungen mit einer Person des Vertrauens zu verarbeiten.
Dialog
In einem deutschlandweiten Forschungsprojekt der Universitäten München und Greifswald befragen Psychologen und Psychiater damalige Kriegskinder nach ihren Erlebnissen. Sie wollen dabei u. a. herausfinden, welche Folgen die schlimmen Erlebnisse auf die weitere Lebensgestaltung hatten. Und die Leute wollen über ihre schrecklichen Erlebnisse reden. "Die Menschen stehen am Zenit ihres Lebens. Bei vielen gibt es die Botschaft: Ich möchte es meinen Kindern weitergeben", sagt ein Vertreter der Forschungsgruppe. Auf dem Kongress wurde dafür plädiert, durch die Arbeit mit Ego-Dokumenten, der Lektüre von historischen Romanen sowie durch Zeitzeugengespräche die Schicksale von Kriegskindern zu personifizieren und den Jüngeren näher zu bringen. Wenn die Generationen mehr voneinander wissen fällt es leichter einander zu verstehen und zu helfen.
Links
Tagungsbericht:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=766
Zeitungsartikel:
www.taz.de/pt/2005/05/07/a0198.1/text.ges,1
http://www.fr-aktuell.de/kriegskinder
www.deutschesaerzteblatt.de/v4/
archiv/artikel.asp?src=heft&id=46716
www.aerztezeitung.de/docs/2005/04/13/066a2003.asp
Forschung:
www.kriegskind.de
www.weltkrieg2kindheiten.de
Kriegskinder im Alter:
www.klett-cotta.de/psychologie_buechern.html?&tt_products=1815
Generationendialog:
www.generationendialog.de
www.dialog-der-generationen.de