LernCafe
Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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Gemeinsamlesen:
Wir lesen dasselbe,
verstehen aber zweierlei?
(Druckversion)
Susanne Gölitzer
goelitzer@vff.uni-frankfurt.de
Einführung
"Gemeinsamlesen" ist der Titel eines neuen Lernprojekts, in dem Studentinnen und Studenten im Fach Deutsch und
literarisch interessierte ältere Menschen zu einem Austausch über Literatur angeregt werden sollen. Mehr dazu in der
Rubrik "Lernprojekte". Warum sollen sich überhaupt ältere und jüngere Menschen gemeinsam in so einem Projekt begegnen.
Ist Literaturinterpretation nicht altersunabhängig individuell? "Nein!", sagt Susanne Gölitzer, die an dem Projekt
"Gemeinsamlesen" beteiligt ist. Sie vermutet generationstypische Herangehensweisen und begründet diese Vermutung in den
folgenden Abschnitten. Der Text erschließt sich für Laien in "Literaturtheorie" (wie
z.B. ich es bin) leider nicht auf Anhieb.
Das Lesen (vielleicht der Druckversion) lohnt sich aber! Es finden sich nicht nur inspirierende Gedanken über alte
und neue Lesegewohnheiten, sondern auch interessante Thesen zur Gemeinsamkeit von Generationen.
Christian Carls
Leseweisen
Es gibt viele verschiedene Arten etwas zu lesen, darüber besteht heute fast friedliche Einigkeit. Leser lesen
"dahingleitend", "aufschnappend", "diagonal", "flüchtig" und vieles mehr. Mal sind wir interessiert an Informationen,
mal möchten wir nur entspannen. Ob es das literarische Lesen noch gibt
beziehungsweise ob es das originär literarische Lesen
überhaupt einmal in Reinform gab, kann mit gutem Grund bestritten werden. Dieser Zweifel an der Originalität
literarischen Lesens hat nicht nur etwas mit der Entwicklung der neuen Medien zu tun. Mit dem Aufkommen neuer
Textformen (geschriebene Mündlichkeit z.B.: eMail) und Mischformen aus Bild und Text im Gebrauchsobjekt Computer wird
aber etwas sichtbar, das möglicherweise bislang im Rezeptionsprozess am Buch weniger deutlich ist: Die Konzepte von
Literatur, Text, Schrift und Bedeutung der Leserinnen und Leser beim Lesen literarischer Werke sind ausschlaggebend
für das lesende Begreifen.
Lesekonzepte
Oft werden diese Konzepte erst sichtbar, wenn sie zur sinnhaften Rezeption nicht mehr taugen. Anders gesagt, wer etwas
lesen und verstehen will, tut dies auf der Grundlage bisheriger literarischer und medialer Erfahrungen. Unsere
Vorstellungen vom literarischen Lesen lenken unsere Lektüre eines Romans, einer Kurzgeschichte, eines literarischen
Hypertextes. Wir verbinden mit einem "Schmöker" das literarische Lesen, das die Imaginationskräfte anregte, die Zeit
vergessen und uns auf dem Sofa in fremde Welten reisen ließ.
Wenn wir am Computer lesen, scheint uns genau dies schwerer zu fallen. Beim Lesen von Hyperfiction wird die Erwartung
auf gemütliches und sinnentnehmendes Lesen entlang einer Geschichte mit Sicherheit enttäuscht werden.
Erwartungshorizonte
Wie wir etwas lesend verstehen, hängt also von unserem Erwartungshorizont ab. Dieser Erwartungshorizont ist geprägt
durch unsere je individuelle Lebenserfahrung, unsere Lesebiographie, aber auch möglicherweise durch generationstypische
Habitusformationen (tief eingeschliffene Verhaltensweisen). Das bedeutet, dass Menschen nicht nur ihre je individuellen
Erfahrungen machen, sondern ebensogut in "Generationslagen" verortet sind, generationstypische Erfahrungen machen oder
anders gesagt, öffentliche Ereignisse als biographische Markierungen erfahren (Kriegsende, Hunger in den
Nachkriegsjahren, die deutsche Einheit). Das eigene Leben bleibt dann gegliedert durch öffentliche Ereignisse, die mit
anderen dieser Generation als biographisch sinnbildende Ereignisse geteilt werden.
Generationen
Das besondere einer Generation besteht also nicht nur im Erleben desselben - das teilt eine Generation ja auch mit einer
anderen (die europäische Einigung wird ja von verschiedenen Generationen erlebt), sondern eher darin, dass eine
Generation sich biographisch und öffentlich verbunden weiß. Die 68er Generation ist möglicherweise deshalb eine
Generation, weil die Kinder ehemaliger Soldaten, Nationalsozialisten, aber auch Widerstandskämpfer und Opfer der
Nationalsozialisten Ende der sechziger Jahre in der ausgehenden Pubertät die biographisch krisenhafte Zeit, als Zeit
der Ablösung von den Eltern, mit der politisch brisanten Frage um die Auseinandersetzung mit der damals jüngsten
Vergangenheit verbanden. Der persönliche Konflikt wird also generationstypisch politisiert. Daneben gibt es
"Erkennungsmerkmale" einer Generation, die weniger aufgeladen, aber als Zeichen desselben Erfahrungshorizontes gelten
können (die heute 30 bis 40 Jährigen: "Tilly" im Fernsehen, Bonanza, Lassie. Ein Buch dazu: "Alles Bonanza").
Voraussetzung für Literaturgeschichte
Wenn also unser Verständnis von Literatur besonders stark von unseren Erwartungen und unseren Rezeptionserfahrungen
abhängt, dann ist die Kategorie der Generation möglicherweise keine unerhebliche.
Als zusätzliche Bestätigung für die Relevanz einer Generationstypik im literarischen Textverstehen kann die
Veränderung des Begriffs "Literatur" selbst gesehen werden. In der Literaturgeschichte ist die Veränderung dessen,
was wir Literatur und gar "gute Literatur" nennen vielfach bezeugt. Es ist gewissermaßen überhaupt die Voraussetzung
für eine Literaturgeschichte schlechthin: denn ohne Veränderung von Literatur keine Literaturgeschichte.
Gemeinsamlesen
Wie sich nicht nur Lesegewohnheiten, sondern auch generationstypische Erfahrungen auf das Verständnis von Literatur
auswirken, darüber wissen wir bislang sehr wenig. Möglicherweise können wir nach dem "Gemeinsamlesen-Projekt" diese
Erfahrungen mit denen, die interessiert sind, thematisieren und gemeinsam prüfen, ob es solche Unterschiede gibt.
Weitere Informationen
"Kann man Webliteratur lesen": Manuskript von Susanne Gölitzer (hier für den "Acrobat Reader" als pdf-Datei)
Weitere Informationen zum Projekt "Gemeinsamlesen" in der Rubrik "LernProjekte" und auf der Homepage
http://www.gemeinsamlernen.de