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Steig nie um in Rom
Flugerfahrungen eines viel fliegenden Rollstuhlfahrers
(Druckversion)
Prof. Dr. Rüdel
E-Mail: reinhardt.ruedel@medizin.uni-ulm.de
Einführung
Das Flugzeug gilt gemeinhin als das fortschrittlichste öffentliche Verkehrsmittel. Ganz sicher waren es auch die Luftlinien, die sich als erste speziell auf die Beförderung von Rollstuhlfahrern einstellten, inzwischen haben die anderen Transporteure jedoch erheblich aufgeholt. So hat die Deutsche Bahn alle ICE- und IC-Fernzüge, auch alle Interregios und die neuen doppelstöckigen Nahverkehrszüge mit rollstuhlgängigen Toiletten ausgerüstet. An allen wichtigen Bahnhöfen gibt es Hebevorrichtungen zum Ein- und Aussteigen, die man über die neuen Service-Points schnell und unkompliziert bestellen kann.
Bus, Bahn, Flug
Am Reiseziel angekommen, findet man nun in vielen deutschen Städten rollstuhlgerechte Busse, und viele großstädtische Nahverkehrsmittel, wie z.B. die Münchner U-Bahn, sind perfekt rollstuhlgerecht. (Das kann man übrigens selbst von den neueren Metrolinien in Paris oder z.B. auch von der modernen Untergrundbahn in Singapur nicht sagen. Diese sind richtiggehend rollstuhlungerecht, d.h. selbst mit Helfern praktisch nicht zu benutzen). Bei der Beförderung im Flugzeug sehe ich Stagnation oder sogar Verschlechterung, gerade innerhalb Europas, und von meiner Kritik ist auch die Lufthansa leider nicht ausgeschlossen. Dazu muß ich vorausschicken, daß ich aus beruflichen Gründen viele Flugreisen machen muß, ich bin als Rollstuhlfahrer schon nach Nord- und Südamerika, nach Japan, China, Malaysien und Indien geflogen.
Frust
In der überwiegenden Zahl der Reisen fliege ich alleine, mein weitester Solotrip ging zu einer einwöchigen Vortragsreise nach Chile. In Europa kenne ich alle wichtigen europäischen Flughäfen und Fluglinien, und kann mancherlei Rollstuhl-Geschichten erzählen, die zwar alle ein happy end haben, insofern als ich schließlich immer an meinem Ziel heil angekommen bin, von deren Problemen aber der Fußgänger kaum eine Vorstellung hat. Natürlich habe ich mir inzwischen eine gehörige Portion Frusttoleranz zugelegt, oft mehr als meine gelegentlichen Begleiter oder Begleiterinnen erträglich finden.
Groteskes
Mein kuriosestes Erlebnis hatte ich jedoch auf einem Lufthansaflug von Frankfurt nach Berlin, kurz nach der Wende. Die Alliierten hatten bekanntlich bis zu diesem Zeitpunkt die einzigen Konzessionen für Berlin gehabt, damals waren also gerade die Flugrechte von der PanAm auf die Lufthansa übergegangen. Die beiden Luftlinien hatten so weit alles abgeklärt, nur nicht, welche Sanitätsorganisation den Transport der Behinderten vom Flugzeug über das Rollfeld in den Flughafenbereich übernehmen dürfe. Dummerweise hatten sie mit zwei verschiedenen Unternehmen, den Maltesern und dem Roten Kreuz, wenn ich mich recht erinnere, ihre Verträge abgeschlossen gehabt, und ich armer Wicht war nun nach deren Ansicht möglicherweise genau der Präzedenzfall, dessen Abwicklung alle weiteren Geschäfte präjudizieren würde.
Betriebsabläufe
Mir hätte es ja nichts ausgemacht, wenn ein Malteser vorne und ein Rotkreuzler hinten angepackt hätte, und ich so über die Bordtreppe aus dem verdammten Vogel herausgehievt worden wäre. Aber diese Lösung war für die Herren Geschäftsführer nicht akzeptabel: Wessen Versicherung hätte bei einem Unfall die Verantwortung übernommen? So redeten sie sich heraus. Fast eine geschlagene Stunde mußte ich in dem Flugzeug verweilen, bis man sich auf folgende salomonische Lösung geeinigt hatte: Die einen durften mich runtertragen, die anderen über das Rollfeld rollen... Nach meinen Bedürfnissen und Gefühlen hat keiner gefragt.
Begleitung gefordert
Aber das war eine einmalige Groteske am Rande großer weltpolitischer Ereignisse. Meine im Mai 1998 erfolgte Flugreise zum dritten Kongreß der World Muscle Society in Neapel könnte dagegen leider jederzeit genauso wieder passieren. Ich hatte mir schon eine günstige Verbindung mit der Lufthansa von dem mir nächstgelegenen Flughafen Stuttgart ausgesucht, da teilte mir das Reisebüro mit, daß auf diesem Flug keine Rollstuhlfahrer ohne Begleitung mitgenommen würden. Ich kenne diese neue Regelung der Lufthansa schon und habe bereits bei einer früheren Reise erfolglos dagegen angekämpft. Die offizielle Auskunft aus dem Frankfurter Lufthansahauptquartier lautet, bei Flügen mit kleineren Maschinen innerhalb Europas habe man die Crew reduzieren müssen (sprich: Personal eingespart), so daß im Fall einer Notlandung (oder -wasserung!) sich niemand um den Rollstuhlfahrer kümmern könne.
Alternative?
Nun mußte ich also mit der Alitalia aus München abfliegen, mit Zwischenlandung in Rom. Was das an zusätzlichem Streß bedeutete: ganz früh aufstehen, in Pasing umsteigen, mit der langweiligen S-Bahn zum FJS-Flughafen hinauszotteln! Beim Einchecken betone ich, daß ich bei der Zwischenlandung in Rom unbedingt meinen eigenen Rollstuhl am Flugzeug haben möchte. Überall sind doch die
Flugplatzeigenen Rollstühle das letzte, in das man sich setzen möchte...
Der Start verzögert sich, da die Maschine zu spät ankommt. Gut, daß ich in Rom eine Stunde Aufenthalt habe, denn wir werden zu spät ankommen. Ich bitte die Stewardess, unsere verspätete Ankunft per Fax den Sanitätern in Rom mitzuteilen, damit es beim Umsteigen keine weitere Verzögerung gibt. Aber - denkste! - der Doppelhubwagen, der einen vom Flugzeug über eine Brücke in eine absenkbare Kabine rollen läßt, von der man über einen zweiten Hebe- und Senkmechanismus auf das Rollfeld abgelassen wird, läßt eine geschlagene halbe Stunde auf sich warten.
Helflose Helfer
"Wo ist denn mein Rollstuhl, mia sedia?" frage ich den mürrischen Hubmechanismusbediener. "In transito" erklärt dieser und hievt mich mit dem klapprigen Flughafen-Rollstuhl in einen Kleinbus, der an seiner Vorderfront ein mindestens 60 Zentimeter großes Rollstuhlfahrersymbol trägt. Ich zeige ihm meine in München ausgestellte Bordkarte mit der schon bedenklich nahen Eincheckzeit für den Weiterflug nach Neapel. Aber er antwortet gar nicht mehr, sondern fährt ganz unitalienisch langsam zur Paßkontrolle. Jetzt aber schnell: "Presto, presto! Terminale dieci" versuche ich ihm Beine zu machen. Aber nach der Paßkontrolle ist seine Zuständigkeit erloschen, so scheint es, denn er verhandelt gestenreich mit einem anderen Angestellten. Hätte ich doch nur meinen eigenen Rollstuhl, so würde ich mich selbst auf den Weg machen, den Flughafen kenn' ich doch, ich brauche diesen Sanitäter gar nicht. Aber die Rollstühle auf italienischen Flughäfen sind wie große Kindersportwagen! Da gibt es keine großen Hinterräder mit Greifreifen: hilflos bin ich den diskutierenden "Helfern" ausgeliefert, die sich jetzt erst einmal an einer Art Theke eine Zigarette anzünden.
Wortkarge Helfer
Da drüben dreht auch ein Carabiniere seine Runde: "Aiute, Hilfe!" rufe ich ihm zu, aber der dreht sich elegant weg. Wahrscheinlich glaubt er, es handle sich bei mir um einen geistig Behinderten. Schließlich kommt der andere der beiden "Helfer" herübergeschlendert und schiebt mich - genau so mürrisch und wortkarg wie der erste - weiter zum Terminal. Gott sei Dank, es ist noch nicht geschlossen, andernfalls hätte ich ja noch mindestens drei Stunden in diesem Kinderwagen sitzen müssen, abgestellt in der Sanitätsstation, das ist mir schon einmal bei einer Zwischenlandung in Mailand passiert, und da habe ich dann so lange getobt, bis man mir meinen Rollstuhl von wer weiß woher schließlich gebracht hat.
"Caminare?!"
Am Terminal steht auch schon wieder einer dieser Behindertenkleinbusse mit dem überdimensionierten Rollstuhlsymbol. Zügig werde ich von zwei anderen Angestellten verladen und ab geht's aufs Rollfeld. Mit dem in Italien inzwischen völlig unverzichtbaren Handy müssen sie sich während des Fahrens lautstark erkundigen, wo meine Maschine denn steht. Dort angekommen wollen die beiden mir unter die Achseln greifen und mich über die Treppe in den schon abflugbereiten Flieger hieven. Ich winke ab. "Solo un po' caminare?" duzt mich der eine und verdeutlicht mir mit linkem Mittel- und Zeigefinger auf der rechten Handinnenfläche seine Aufforderung zum Laufen. "Habt Ihr keinen schmalen Stuhl, mit dem Ihr mich rauftragen könnt?" duze ich zurück. Nein, sie entscheiden, es muß der lächerliche Doppelhubwagen kommen und bestellen ihn per Handy. So dürfen halt auch die 160 anderen Passagiere mit mir warten, bis nach einer halben Stunde das Ungetüm anzockelt und mich verlädt. Früher gab es an allen italienischen Flughäfen Treppensteiger nach Art des deutschen Scalamobils, da war das Verladen noch unkompliziert!
Drink
Zur Ehre der Alitalia muß ich sagen, daß während der Wartezeit ein Steward aus der Maschine zu mir in den Bus herunterkam und mir einen Drink brachte. Auf meine Bitte ging er auch noch zur Ladeluke der Maschine und bestätigte mir, daß mein eigener Rollstuhl wirklich an Bord war. Und zur Ehre der italienischen Fluggäste muß ich sagen, daß mich keiner von ihnen böse anblitzte, als ich an ihnen vorbei zu meinem Sitz in Reihe 22 gefädelt wurde. In Deutschland habe ich da schon weniger Verständnis erlebt.
Angekommen
In Neapel angekommen, motze ich bei meinen Freunden schon darüber, wie man in Rom als Rollstuhlfahrer von der Bodencrew behandelt wird: Wie ein Stück Gepäck! "Beruhige Dich!" sagen diese und schenken mir ein zweites Glas vom köstlichen Locorotondo ein. "Das Bodenpersonal wird hier einfach so schlecht bezahlt und ist überhaupt nicht ausgebildet. Die sind zu uns genauso unhöflich." Na, wenn es Euch auch nicht besser ergeht, denke ich mir und lasse mir nochmal nachschenken. Schon beginnt der köstliche Wein, seine beruhigende Wirkung zu tun, ich vertraue mich ganz der typisch süditalienischen Fürsorge und Gastfreundschaft meiner Freunde an und tauche versöhnt ein in den Trubel von Neapel...
Quelle und Literatur
Erschienen im "Muskelreport", Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V.
Literatur: Rösing I, Rüdel R: Das Buch der sechsundzwanzig Beine. Mit dem Rollstuhl in den Anden. Stuttgart, Quell-Verlag, 1997, ISBN 3-7918-2710-3.
Mehr zu diesem Buch hier: http://www.dgm.org/muskelk/report/4-97/ruedel.html
Links
Informationen für behinderte Reisende:
Nutzung von Bussen und Bahnen mit dem Schwerbehindertenausweis
http://home.t-online.de/home/krings-spelle/schwebi.htm
Informationen für Mobilitätseingeschränkte der Deutschen Bahn
http://www.bahn.de/pv/uebersicht/die_bahn_behinderungen.shtml