Halldor Laxness: Atomstation

Hier diskutieren wir über belletristische Bücher.
HildegardN
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Registriert: Mittwoch 20. September 2006, 14:13

Re: Halldor Laxness: Atomstation

Beitrag von HildegardN »

Es ist mir diesmal schwer gefallen, mich zu unserem aktuellen Lesestoff, dem Roman Atomstation, zu äüßern. Während vor allem Marlis und auch Annemarie recht positiv berichten, habe ich mich - auch nach Leseende - nicht mit diesem Buch anfreunden können.
Es ist mir manches naezu unverständlich geblieben, teils durch die Art der Gesprächsführung der Handelnden bedingt, teils durch die oft nahezu unvollständigen Dialoge, aber auch durch das Verhalten der agierenden Personen.
Im Mittelpunkt des Geschehens hatte ich eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Atomstation erwartet, wie es ja auch der Titel andeutet. Dies wird durch einige Betrachtungen sowie die Entscheidung über den Verkauf des Landes überlagert.
Dagegen sehe ich im Focus des Romans die Ich-Erzählerin Ugla (die Eule), die ich durch die ganze Zeitspanne hinweg mit großem Interesse beobachtet habe. Der Autor hat sie mit viel versprechenden Charaktereigenschaften ausgestattet: stark, zielstrebig, tatkräftig und bildungsbereit, aber auch naiv, verschlossen und ihrer ländlichen bzw. bäuerlichen Herkunft entsprechend geformt. Ihr Verhalten hat mich immer wieder erstaunt, teils auch enttäuscht, und ihre Reaktionen kann ich - auch als einstiges Landkind - nicht verstehen. Ganz unverständlich aber sind mir die Umstände ihrer Eheschließung. Obwohl Ugla wahrscheinlich die richtige Wahl getroffen hat, empfinde ich ihr Verhalten lieblos, ja fast unmenschlich.
Was hat sich der Autor nur dabei gedacht als er auf alle Gefühle verzichtete bzw. unterschlagen hat ? - Oder empfindet man in Island anders, wenn man sich entschließt, den Bund fürs Leben zu schließen?
Mit herzlichen Grüßen aus Bad Homburg
Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Halldor Laxness: Atomstation

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Hildegard,

ja, so kann man die Geschichte auch betrachten. Sie macht wenig nachvollziehbaren Sinn. Haben die Isländer keine Gefühle (außer Stolz), die sie wahrnehmen und ansprechen? Könnte es sein, dass Gefühle für Menschen mit einem harten Alltag Luxus sind? Welche Rolle spielten Gefühle während des Krieges bei uns? Welche Rolle spielten sie bei den beteiligten Soldaten? Konnten sie sich Gefühle überhaupt leisten?
Ich denke tatsächlich, dass z.B. Psychotherapie, bei der es ja um Gefühle geht, eine Luxusbehandlung ist, die sich in bitterernsten Zeiten, in denen es ums Überleben geht, niemand leisten kann. Die Menschen überleben, wenn sie stark sind und gehen drauf, wenn sie schwach oder krank sind.
Wenn wir uns die Familie in Reykjavik ansehen, dann stimmt auch etwas nicht mit den Gefühlen. Die Mutter kümmert sich nicht wirklich um ihre Kinder, der Vater äußert sich wenig und die Kinder wissen gar nicht, wie man seinem Leben Sinn gibt. Am Silvesterabend, an dem eigentlich nichts passiert, fühlt sich der Sohn bei völlig fremden und verrückten Menschen endlich einmal so wohl, dass er nicht daran denkt, die Polizeiwache in die Luft zu sprengen.
Übertreibt der Autor? Erzählt er isländische Märchen? Ich weiß nur, dass ich von dem Roman fasziniert bin.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Halldor Laxness: Atomstation

Beitrag von Erna »

Die Kinder der Familie sind wohlstandsverwahrlost. Hatten wir z.T. auch ganz stark in den 70er Jahren. Die Mutter muss sich selbstverwirklichen und fährt daher für eine lange Zeit nach den USA. Von da an haben die Kinder ein sehr gutes Verhältnis zur Ugla und fühlen sich bei ihr sehr wohl, weil sie ihre Anreilnahme spüren.
Sehr eigenartig finde ich Uglas Beziehungen zum Vater ihres Kindes - angeblich weiß sie nicht einmal seinen Namen.
Trotzdem war das Buch für mich interessant.
Erna
Brigitte Höfer
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Re: Halldor Laxness: Atomstation

Beitrag von Brigitte Höfer »

Für mich war es ein Buch der Gegensätze: arm und reich, Land und Stadt, gebildet und scheinbar ungebildet, Menschen mit Ziel undMenschen ohne Ziel - sie alle kommen in für sie unbekannte Bereiche und wissen erst einmal nicht, wie und wohin sie sich orientieren sollen. Das gilt für Ugla ebenso wie für den Minister: seine eigenen Interessen zu kennen und zu vertreten ist oft nicht so leicht... Wenn eine große Macht mit eindeutigen Interessen kommt, ist man plötzlich schwuppdiwupp in den kalten Krieg mit hineingezogen...
Wie geht es uns denn heute? Wissen wir denn immer so genau, was unsere Interessen sind und was wirklich gut für uns ist? Wissen wir, wovon wir besser die Finger ließen? Es ist nicht so einfach, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden, oder?
Brigitte
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