Startseite > Ergebnisse > Bildung

Der Wandel des Bildungsbegriffs

Bearbeitungszeit 03.03.2003 bis 13.04.2003
Moderatorin Margit Huber

Kurzreferat
Zusammenfassung
Von Bildung und Bürgern
Auszüge aus zwei Artikeln in der Süddeutschen Zeitung
Wissensdurst im dritten Lebensalter  
Zum Seniorenstudium in Deutschland
(Manuskript einer Sendung des Deutschlandfunks am 1.4.2003)

Druckversion (pdf)
 
Kurzreferat

Ist Bildung Gestaltung und Veränderung, Fortschritt und Wachstum?               
Seit Beginn des Industriezeitalters (um 1900) finden in unserer Gesellschaft folgenschwere Veränderungsprozesse in allen nur denkbaren Bereichen statt, die einander mit zuvor nicht gekannter und stetig wachsender Geschwindigkeit zu überholen scheinen. Das früher noch ziemlich konsistente gesellschaftliche Gefüge wurde im Lauf der Zeit immer pluralistischer und individualistischer; dadurch wurde unser Leben beruflich und auch im Alltag komplizierter und unübersichtlicher, aber auch vielfältiger und abwechslungsreicher - jede und jeder von uns hat das am eigenen Leib, in der eigenen Familie zu spüren bekommen. Der fortschreitende Prozess der Arbeitsteilung führte zu einer "Verlängerung von Handlungsketten", so dass der Einzelne die Folgen seines Tuns (als Rädchen in der großen Maschinerie des Gesellschaftssystems) kaum mehr überblicken und einschätzen kann.
Fassungslos stehen wir vor Katastrophen, für die sich kein einzelner verantwortlich machen lässt, weil anscheinend eine "Verkettung von Umständen" die Ursache ist. Betrachten wir die einzelnen Umstände genauer, wird erkennbar, dass viele Vermittlungsinstanzen (natürliche und juristische Personen, die Technologie, die Medizin, der Umgang mit natürlichen Ressourcen usw.) diese herbeigeführt und mitgestaltet haben.
Gestalt annehmen bzw. Gestalt geben sind Begriffe, die der Idee "Bildung" zugrunde liegen (z.B. im Idealfall bildet ein Bildhauer aus einem Stück Stein eine formvollendete Statue).

Was hat Bildung mit Lernen, Wissen und Können zu tun?
Mit dem Stichwort "Bildung" assoziiere ich heute zuallererst sowohl theoretisches als auch praktisches "Lernen". In meiner Jugend war das anders - da fielen mir beim Stichwort "Bildung" zuerst Namen wie Albertus Magnus, Goethe, Schiller, Humboldt, auch Brecht ein. Theater, Museen, Opernhäuser, Bibliotheken, Klöster galten mir als Orte, wo ich mich mit Bildung konfrontiert sah. Schulen und Universitäten dagegen waren für mich Stätten der Auseinandersetzung über das, was Bildung sein sollte, dort glaubte ich eher erfahren zu können, wie Bildung erfolgreich verhindert wird.
Dass meine alten Klassenkameraden, die gerade eine handwerkliche Lehre und die Berufsschule absolvierten, vom dualen Bildungssystem Deutschlands profitierten, wäre mir damals gar nicht in den Sinn gekommen.
Der Volksmund spiegelt die Vielfalt und auch die Widersprüchlichkeit des Bildungsverständnisses, wie man an diesen bekannten Sprichwörtern ablesen kann:

"Du kannst so alt werden wie eine Kuh und lernst immer noch etwas dazu"
"Wer aufhört zu lernen, hört auf zu leben"
"Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr"
"Mit leerem Kopf nickt es sich leichter"
"Wem Bildung zu teuer ist, der soll es doch mal mit Dummheit versuchen"
"Wer nichts weiß, muss alles glauben" - "Wer nicht hören will, muss fühlen"
"Einbildung ist auch eine Bildung"

Bildung ist ein hoch geschätzter Wert
Nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern überall auf der Welt steht Bildung in der Hierarchie der Werte an einem der ranghöchsten Plätze. Bildung gilt als Bedingung für Lebenschancen. In Deutschland ist Bildung heutzutage nicht zum ersten Mal ein öffentliches Lieblingsthema: Schon 1960 löste der Pädagoge Georg Picht mit seinen Kassandrarufen "Bildungsnotstand! Bildungskatastrophe!" eine Bildungsreform aus, von der auch die Erwachsenenbildung profitierte. Die heutige Bildungsdiskussion, die um die Ergebnisse der PISA-Studie kreist, führt neue Schlagworte und Themen ins Feld: Von Informations- und Wissensgesellschaft ist viel die Rede, von Kompetenzentwicklung und lebenslangem Lernen, vom Schritthalten mit der Zukunft, von Konkurrenz mit der künstlichen Intelligenz der Computer und dem guten oder schlechten Abschneiden im internationalen Vergleich.
Worüber aber wird eigentlich gestritten - manchmal drängt sich mir der Eindruck auf, die Kontrahenten gingen von völlig unterschiedlichen Auffassungen, was ein gebildeter Mensch sei, aus.

Bildung - was ist das?
Kann man Bildung lernen? Lehren? Oder ist Bildung eher das, was übrig bleibt, wenn man alles Gelernte vergessen hat? fragt Günther Dohmen, der Pädagoge, der den Begriff vom lebenslangen Lernen in der Erwachsenenbildung geprägt hat. Er beleuchtet den deutschen Bildungsbegriff von der Geschichte seiner langen Tradition her und zeigt, wie auf vier Entwicklungsebenen das, was wir heute alles unter Bildung verstehen, geprägt wurde:
  1. Aus der spätmittelalterlichen Mystik des 14. Jahrhunderts, wo Meister Eckhart Bildung als Weg zur Gottesebenbildlichkeit beschreibt. Zu erreichen sei dieses Ideal durch meditative Rückwendung der Seele zu Gott.
  2. Der Naturglaube der Renaissance (15./16. Jahrhundert, z.B. Paracelsus) versteht Bildung als naturhaft-organischen Entwicklungsprozess, bei dem es auf eine möglichst natürliche Entwicklung innerer Anlagen und geistiger Keimkräfte ankommt. Im 18. Jahrhundert wurde dieser Gedanke durch Rousseau neu belebt und von Goethe zeitweise zum beherrschenden Bildungsbegriff in Deutschland erhoben. "Bildungstrieb" ist das Stichwort dieses Verständnisses; der höchste Zweck der Bildung ist die reine Selbstverwirklichung des Menschen und nicht politisches wirtschaftliches oder sonstiges gesellschaftliches Engagement.
  3. Der pädagogisch-aufklärerische Bildungsbegriff geht von der Möglichkeit des Lehrens und Lernens aus und versteht Bildung als Erziehung zu einem mündigen, verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Vernunft. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts begann mit dem Zeitalter der Vernunft und der Sittlichkeitslehre auch die Zeit der großen Bildungsphilosophen und Pädagogen, in der Erziehungsprogramme formuliert und der Erwerb von Bildung nicht mehr allein den Gelehrten überlassen blieb, sondern dem Bürgertum ermöglicht wurde.
  4. Den kulturpädagogischen Bildungsbegriff des 20. Jahrhunderts (Eduard Spranger) beschreibt Dohmen als Erweiterung und Vertiefung des von der Aufklärung bestimmten pädagogischen Bildungsbegriffs. Bildung als Kulturvermittlung ist der Grundgedanke: Kulturgüter werden zu ausgewählten Bildungsgütern, durch welche die wertvollen Anlagen im Menschen gezielt geweckt werden sollen. Bildung als kultivierte, wertbezogene Lebensform verstanden - wurde als bornierter Gedanke später heftig kritisiert, weil er u.a. Menschen, die nicht so "kultiviert" leben und ums nackte Leben schuften müssen, als ungebildet abstempelt und ausgrenzt.
Die englische Sprache z.B. übersetzt das Wort Bildung je nachdem, in welcher Bedeutung es gebraucht wird, mit development (Entwicklung, Entfaltung), education (Erziehung) oder mit learning (Lernen), gelegentlich auch knowledge (Wissen). Diese Begriffe lassen sich in Dohmens entwicklungsgeschichtlichen Abriss nur ungefähr einordnen. Im 21. Jahrhundert liegt der Interpretationsschwerpunkt bisher auf Bildung als Wissen und Können.

Wer darf in einem Land bestimmen, was Bildung ist? Wie wird aus gelernten Fakten Bildung? Ist eine Enzyklopädie bereits "Bildung"?
Zurück zum Anfang: Wenn alles Leben Lernen und Lernen Veränderung ist, könnte man Bildung wohl als den sinnvollen Umgang mit Veränderungen bezeichnen. Reicht das aus?

Seitenanfang


 
Zusammenfassung der Diskussion
Margit Huber


Am 9. März eröffnet Volkmar das Forum und lädt die Mitglieder des Virtuellen Kollegs für 5 Wochen zu einer Diskussion über den Wandel des Bildungsbegriffs ein. Er nennt es "ein Thema, das uns alle bewegt". An der Diskussion haben sich fünf Männer mit 23 Beiträgen und vier Frauen mit 12 Beiträgen beteiligt. Margit, die Moderatorin erhöhte mit 10 Wortmeldungen die Anzahl der Beträge auf insgesamt 45.
Das Thema wurde unter verschiedenen Gesichtspunkten auch sehr lebhaft in sieben einstündigen Chats diskutiert, die einmal pro Woche stattfanden und protokolliert wurden.

Die Diskussion begann mit der Feststellung, Bildung sei die Voraussetzung zur Teilnahme am öffentlichen politischen Gespräch, also Grundbedingung für das Funktionieren demokratischer Bürgerschaften. Daraus ergab sich gleich die Frage, was einen gebildeten Menschen eigentlich ausmache. Weil der Bildungsbegriff offenbar selber Veränderungen unterworfen ist, weil "sich bilden" nicht mit Schule, Berufsausbildung, Studium endet, weil Bildung institutionalisiert und von daher interessenabhängig ist, wurde den Kollegiumsteilnehmer/innen schnell klar, dass es auf diese Frage keine einfache Antwort gibt.

Das Nachdenken über die Ausdrücke "eingebildet" und "Bildungsbürger" stellte nicht nur den Unterschied zwischen teilnehmendem Interesse an Bildungs- und Kulturgütern und einer oberflächlichen Konsumhaltung deutlich heraus, sondern ließ auch erahnen, wie der Bildungsbegriff durch dünkelhaften Missbrauch vom hohen Ideal zur hohlen Worthülse entwertet werden konnte.

Auf Bildung im Sinne von Wissenserwerb konzentrierte sich eine große Anzahl von Beiträgen. Ohne Wissen keine Bildung - darüber waren sich alle einig. Unverzichtbar aber schien es, sich über den Begriff Wissen Klarheit zu verschaffen. Voneinander unterscheiden ließen sich theoretisches Wissen, praktisches Erfahrungswissen, Schulwissen, Lebensklugheit, die Wissenschaften, kategorisiert in Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften, emotionales Wissen... Erlernbare und verwertbare Kenntnisse und Fähigkeiten, wie sie in der beruflichen Weiterbildung vermittelt werden, gehören sie nicht auch zu unserer Bildung? Es wurde bemerkt, dass wir selber im Laufe unseres Lebens phasenweise unterschiedliche Bildungsbegriffe benutzen.
Die Widersprüchlichkeit des Bildungsbegriffs erwies sich zuweilen als Stolperstein; sie führte zu Verwirrung. Die Unabschließbarkeit des Bildungsprozesses ausgedrückt in der Forderung nach lebenslangem Lernen einerseits, Bildung als historische Kategorie mit einer langen Tradition andererseits, sowie die Partizipialkonstruktion "gebildet" forderten zum Nachdenken über die eigene Bildungsbiographie auf. Die Zwiespältigkeit der Reaktionen und Einstellungen aus dem gesellschaftlichen Umfeld gegenüber Bildungsteilnehmer/innen und deren Aktivitäten wurde als ein Phänomen genannt, das möglicherweise in der Widersprüchlichkeit des Bildungsbegriffs selbst gründet. In diesen Zusammenhang gehört auch die eindeutige Abgrenzung von Intelligenz (aufgeteilt in rationale und emotionale Intelligenz und bezogen immer nur auf den Einzelmenschen) gegenüber Bildung und Wissen.

Das Recht aller auf Bildung und die Pflicht, die uns durch Bildung auferlegt ist, einerseits als Verpflichtung zum Lernen, andererseits als Verantwortung des Wissenden gegenüber Unwissenden, blieb nicht unerwähnt. Dazu kam die Feststellung, dass Wissen als wertfreier Begriff ohne ethische Rückbindung gefährlich, weil leicht missbrauchbar ist. Bildung unterscheide sich vom Wissen dadurch, dass sie außer rationalen Komponenten immer auch emotionale Komponenten enthält, was sie zu einem Wert macht.
Angesichts des Kriegsbeginns im Irak wurden Zweifel an der menschlichen Bildungsfähigkeit laut: Sind wir Menschen unserem ungeheueren Wissen überhaupt gewachsen? Versetzt Bildung Menschen in die Lage Frieden stiften zu können?

Der Hinweis auf die Bildungshoheit der deutschen Länder und die Herkunft des Wortes "Kultus"-ministerium, Bemühungen um eine Unterscheidung der Wörter "gebildet" und "kultiviert" brachten neue Aspekte in die Diskussion: Bildung nicht nur als umstrittenes Prinzip, als Zankapfel der Experten - sondern Bildung als Gartenarbeit, Unkrautjäten, Bildung als inflationärer Begriff, verglichen mit minderwertigem Fleisch aus der Massenproduktion - mit etwas Selbstironie konnte man dem komplexen, zuweilen unübersichtlichen Thema auch amüsante Seiten abgewinnen.

Die Frage "welche Bildung braucht die heutige Informationsgesellschaft?" beschäftigte das Forum über einen längeren Zeitraum. Die Aufmerksamkeit richtete sich unter anderem auf die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems angesichts sich verändernder wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen, auf die Veränderung der Rollen von Lehrenden und Lernenden, die Integration der elektronischen Medien ins Bildungswesen, die dafür erforderlichen neuen Kompetenzen und dadurch hervorgerufenen Bildungsbarrieren, nicht zuletzt auf den Zusammenhang zwischen einem Verständnis von Bildung als Schlüssel zum Arbeitsmarkt und einer hochproblematischen Arbeitsmarktpolitik. Grundlegende Basisqualifikationen als unverzichtbare Voraussetzungen für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft rückten ins Blickfeld: Erhalt der Lernfähigkeit, der Lernbereitschaft, Verstehen und Anwenden des Prinzips Verantwortung, Urteilsbildung durch Differenzwahrnehmung. Bildung als persönlicher und gesellschaftlicher Dauerauftrag, nicht nur als Grundausstattung fürs eigene Leben - die Forderung von Roman Herzog blieb zwar unwidersprochen, wurde aber durch Johannes Raus Forderung "Bildung für alle" und seine Auffassung von Bildung als Voraussetzung zur Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben ergänzt.

Bildung im Alter, speziell die allgemeine wissenschaftliche Weiterbildung Älterer, rückte durch einen Bericht über das Seniorenstudium in Deutschland ins Blickfeld, den ein Teilnehmer der Website von Deutschlandradio-Online entnahm und an alle Kollegiumsmitglieder schickte. Nicht nur die Geschichte des Seniorenstudiums war von Interesse, sondern auch die Klärung des Begriffs Geragogik.

Als Fazit lässt sich folgende Antwort auf die in der Diskussionsvorlage gestellte Frage formulieren: Menschliches Leben ist Lernen, Lernen bedeutet Veränderung. Bildung bereitet den Weg für menschlich vertretbare und zumutbare Veränderungen und befähigt uns unser Leben sinnvoll zu gestalten.
Drei zeitgemäße, anspruchsvolle Ergänzungen zur Definition des Bildungsbegriffs sind als Ergebnis der Bildungsdiskussion des Virtuellen Kollegs festzuhalten:
  1. Bildung als die Fähigkeit mit der eigenen Rationalität und Emotionalität verantwortungsvoll und sinnvoll umzugehen.
  2. Bildung als Garant für die Fähigkeit, sich ein komplexes Bild von der Wirklichkeit zu machen und diese Komplexität auch auszuhalten.
  3. Angesichts der ungleich verteilten Chancen ist Bildung ein Privileg und von daher verpflichtet sie jeden "gebildeten" Menschen, sein Wissen, seine erworbenen Fähigkeiten und sowohl den dadurch erweiterten Überblick als auch die vertiefte Einsicht seinen Mitmenschen nicht vorzuenthalten.

Seitenanfang


 
Von Bildung und Bürgern

Zwei Aufsätze in der Süddeutschen Zeitung haben mich bewegt, ohne genau sagen zu können, warum. Sie haben wohl viel mit dem zu tun, was mich persönlich im "innersten zusammenhält". Vielleicht ergeht es Euch ähnlich, darum lasst mich anhand von Zitaten skizzieren, worum es darin ging. Ich hoffe, dass sich ein angeregter Chat daraus entwickelt.

1. "Bildungsbürger, belächelt. Versuch einer weihnachtlich milden Rehabilitierung"
(von Joachim Kaiser) vom Montag, 23.12.2002

"Der vielgescholtene Bildungsbürger spielt keine allzu wichtige Rolle mehr, wird eher belächelt als geschmäht. Nicht einmal Hass vermag er mehr zu provozieren. Dazu scheint er zu vergangen, zu tot..." Für junge Intellektuelle seien Bildungsbürger im allgemeinen "jene Traditionalisten, die immer nur lechzen nach erbaulichen Wiederholungen des hübsch Gesicherten, Bestätigten, Wohlvertrauten... mit ihrem seltsamen Besitzerstolz." Kaiser zeigt zwar Verständnis für die Abwehr einer Bremser-Gesinnung, die sich dem Gegenwärtigen, dem Abenteuerlichen und Sperrigen in der Kultur nicht einmal aus Neugier öffnen mag. Andererseits gibt er zu bedenken, dass eben diese vielgeschmähten Bildungsbürger es sind, die den Kultur- und Bildungsbetrieb und damit Kultur und Bildung am Leben erhalten, und zwar einfach dadurch, dass sie "einen nicht unerheblichen Teil ihrer Lebenszeit kulturellen, musischen, auch gelegentlich wissenschaftlichen Vorträgen widmen", Zeitungen, sogar Bücher lesen, Museen und Ausstellungen besuchen und an Bildungsveranstaltungen teilnehmen.
"Unleugbar ist ..., dass es gerade die bürgerliche Liberalität ist, die ihren Kindern eine Art Freibrief gegebenenfalls für lodernde "Entbürgerlichung" ausgestellt hat. Jeder durfte und darf sich distanzieren vom bürgerlichen Tugendsystem, vom Kapitalismus, vom Philistertum: mögen auch Humanismus, Reformation, egalitäre Freiheit und Gleichheit, mögen all diese herrschaftskritischen Errungenschaften ihrerseits bürgerlich-aufklärerischen Ursprungs sein."

Jeden kritischen Kopf reizen großsprecherische, gefährliche Schlagworte wie "Land der Dichter und Denker" oder "Kultur-Nation" zum wilden Widerspruch. Sich aufgrund von Geburt oder Staatsangehörigkeit bereits das Attribut "gebildet" anzumaßen, dieser Anspruch muss den "Kritikerfürsten" zutiefst befremden. Nachdenklich fährt er fort: "Zur Bildung, zumal zur gebildeten Pose ... gehört auch die Bildungs-Lüge... Siegmund Freud ... hat diese Heuchelei sogar verteidigt...": "Es gibt also ungleich mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Menschen, ja man kann den Standpunkt diskutieren, ob ein gewisses Maß an Kulturheuchelei nicht zur Aufrechterhaltung von Kultur unerlässlich sei..." Dann korrigiert er Freud: "das musikvernarrte deutsche Klassikpublikum ... lügt oder heuchelt keineswegs, wenn es Bachs Passionen, Mozarts Streichquartetten, Beethovens Sonaten, überhaupt großer Musik zwischen Monteverdi und Verdi, Haydn, Brahms, Strauss und Mahler die Treue hält." Diese Bildungsbürger halten daran fest, was sie brauchen, sie müssen darum nicht un-neugierig sein...


2. "Lob der Kleinbürgerlichkeit. Wir brauchen Reformen - und Sicherheit"
(Günter Gaus) vom Samstag/Sonntag, 8./9.03.2003

Günter Gaus, Chefredakteur des SPIEGEL und von 1973-1982 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, ist beunruhigt über die schrittweise Zerstörung des Bürgertums, die mit der Zerstörung des Kleinbürgerstands begann und mehrheitlich als gesellschaftlicher Fortschritt betrachtet wird, da sie als ein Teil notwendiger Sozialreformen erscheint und in seiner ganzen Bedeutung zumeist nicht einmal von den Intellektuellen wahrgenommen wird. "Schon der Gedanke eines öffentlichen Appells der Intellektuellen für die Kleinbürger wirkt lächerlich." Angesichts der Bedrohung des bürgerlichen Gesellschaftssystems durch die Zwangsläufigkeiten des Wirtschaftssystems sei es jedoch an der Zeit, die Stimme für den Kleinbürgerstand zu erheben. Natürlich kennt Gaus den schlechten Leumund der Kleinbürger in Deutschland, die "als Hitlers bereitwilligste Helfer" gelten. "Von gutbürgerlichen Jungakademikern, die in der Weimarer Republik mit Karl Marx in der Kollegmappe vom Hörsaal in die Cocktaildiele und zurück eilten, bis sie schließlich ihr Auskommen in Himmlers Ämtern hatten - von ihnen wird in der Regel intellektuell mehr Aufhebens gemacht" als von der "Sozialblindheit der deutschen Intellektuellen".

"Die 68er ... waren in ihrem Herzensgrunde Sozialromantiker, denen die Kleinbürger als verächtlich galten, weil sie ihrem Bild vom klassenbewussten Arbeitnehmer nicht entsprachen. Zugeneigt war man allenfalls dem petit bourgeois mit Baskenmütze beim vin rouge an der Bistrotheke." Viele dieser Intellektuellen, wie auch der "Grünen", kamen aus gutbürgerlichen Wohnvierteln zu ihren Demonstrationen in die Innenstadt. Wanne-Eickel als Lebensform blieb ihnen fremd - sie sind groß geworden ohne die soziale Frage in ihrem politischen Bewusstsein. "Die Generation Golf schließlich nahm intellektuell außer sich selbst ohnehin nichts wahr."

Gaus fragt sich, warum westdeutsche Intellektuelle, denen kein politisches Thema zu hoch war, die politischen Niederungen, (z.B. soziale Probleme) in ihren Diskussionen aussparten. Etwa, "weil denen ein gewisser kleinbürgerlicher Mief hätte anhaften können?" "Was kennzeichnet bürgerliche Verhältnisse?" fragt er weiter und liefert gleich selbst die Antwort: "Ich denke: Im innersten Kern die Freiheit von Ängsten vor sozialen Überwältigungen. Diese Ängste entstehen begründet zuerst unten in der Gesellschaft, aber sie steigen auf bis weit in den Mittelstand hinein. Nirgends in der westlichen Welt ist das besser zu studieren als in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Sorgen mancher meiner amerikanischen Freunde, ihre Enkel könnten nicht mehr die Startchancen einer guten Bildung und Ausbildung erhalten, die sie ihren Kindern noch bezahlen konnten, sind die Wirklichkeit hinter den zunehmend verschlissenen Kostümierungen des amerikanischen Traums." Die bisher weitgehend "gesicherte Dauerhaftigkeit der Lebensumstände hat in der alten Bundesrepublik mehr als alles andere kleinbürgerliche Eltern ermutigt, die für sie in manchem unbehagliche Bildungsschwelle zu Gunsten ihrer Söhne und Töchter zu überwinden. Davon ist das Bürgertum allgemein gefestigt worden."
Die heute zu beobachtende Entwicklung im Beschäftigungsbereich (Arbeitnehmer brauchen mehrere Arbeitsplätze fürs hinlängliche Auskommen, jeder Job ist nur noch kurzfristig) mag dazu dienen, die Zahl der Arbeitslosen zu vermindern. "Aber gewisser als das ist: Diese Entwicklung verändert bürgerliche Mentalitäten und Gesinnungen, ohne die kein Staat zu machen ist. Eine Summe von Ich-AGs ergibt keine Gesellschaft ... Wo bleibt der sittlich gebotene Appell der Intellektuellen für die bedachte Verlangsamung des Unausweichlichen?"

Wie, so frage ich nun in unsere Runde, wie könnte unser deutsches Bildungswesen, wie kann die Bildungspolitik den "Kitt" produzieren, der unsere Gesellschaft im innersten zusammenhält: Solidarität, Gemeinsinn - gelten sie überhaupt als erwerbbare Bildungsgüter, sind das Lerngegenstände, kann man sie lehrend vermitteln, wie lassen sie sich erlernen? Lernen mit Kopf, Herz (Bauch!) und Hand - wer, außer Pädagogikstudent/innen und unbeirrbar idealistischen Pädagogen kann sich darunter noch etwas vorstellen?

Seitenanfang          Druckversion (pdf)