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Horst



Warum nennt Bert Brecht die Greisin "unwürdig"? Zu erklären ist das aus den allgemeinen Auffassungen der Zeit, in der sie lebte. Eine Frau war - mit ganz wenigen Ausnahmen - die Dienerin der Familie. Sie hatte für den Mann zu sorgen, der durch seine Arbeit das Einkommen schuf, sie hatte die Kinder zu betreuen. Das alles war - besonders bei der damals üblichen Kinderzahl - ein "Full-Time-Job". An sich selbst und an ihre kleinen und großen Wünsche konnte die Frau der Durchschnittsfamilie nicht denken.

"Würdig" wäre es gewesen, wenn sie diese Rolle auch beibehalten hätte, nachdem alle Kinder aus dem Haus waren und sie Witwe wurde. Man erwartete eigentlich, dass sie die Familie des einen Sohnes, der in ärmlichen Verhältnissen lebte, in dem elterlichen Haus aufnahm, in dem genug Platz für sie war.

Die Greisin (heute würde man eine 72jährige Frau nicht mehr als Greisin bezeichnen) tat jedoch etwas, das heute schon als normal angesehen wird: Sie war nun frei von allen Lasten und wollte endlich ganz unabhängig sein und das tun, was ihr gefiel. "Genau betrachtet lebte sie hintereinander zwei Leben", schreibt Brecht.

Eine Schilderung, die mich durch ihre Klarheit und Schnörkellosigkeit beeindruckt hat.