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Was bedeutet Zeit für Senioren?Bearbeitungszeit 15.07. bis 11.08.2002
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Kurzreferat Der alte Professor und die dicken Kieselsteine Der Alb der Verkehrtheit Zusammenfassung Die Beschleunigung Druckversion (pdf) |
Kurzreferat Vorbemerkung: ich bin nicht so vermessen, hier allgemeingültige und lebensphilosophische Aussagen zu machen. Ich schreibe als Dieter, und eben weil bei manchen anderes gilt, wird sich sicherlich eine um so lebhaftere Diskussion ergeben. Unlängst lud ich einen Bekannten ein, an einer bestimmten Veranstaltung teilzunehmen. Die Antwort: "Dafür habe ich keine Zeit!" Ich habs hingenommen. Aber ich hätte antworten können: "Keine Zeit? Sie sind doch, wie ich, Senior - und da entscheiden nur Sie selbst, womit Sie Ihre Zeit verbringen. Wenn Sie ehrlich gewesen wären, hätten Sie mir (richtiger) geantwortet: "Ach, wissen Sie, ich habe andere Interessen (Prioritäten)!" Oder: "Ich bringe meine Zeit lieber mit anderen Dingen zu". Der erste Aspekt, der hieraus anzumerken ist, der allerdings nicht nur für Senioren gilt, ist: die Gleichsetzung von Zeit (eines Zeitabschnitts) mit einer Aktivität. Unsere Sprache ist hier großzügig und nicht eben präzise. Für mich als Senior (seit fast 10 Jahren im Ruhestand) ergibt sich aus diesem Beispiel aber noch ein anderer Aspekt, nämlich: Der große Unterschied zwischen dem Lebensabschnitt der Berufstätigkeit und dem des Ruhestandes. Und der stellt sich wohl, wenn auch mit Varianten, für alle ähnlich dar. Frauen allerdings, die nicht berufstätig waren und den Haushalt und die Familie versorgt haben, mögen anderes dazu sagen. Als ich noch berufstätig war, da wurde ich (und meine Zeit) durch vieles "in Anspruch genommen". Da war zunächst der Beruf. Meist über 50 Stunden die Woche, bei dienstlichen Reisen noch mehr. Dann die Kinder, die selbstverständlich einen "Anspruch" auf Papas Zeit haben. Und meine Frau, die Anspruch auf ihren Mann hat. Und man baute ein Haus und kümmerte sich um die Altersversorgung. Bitte versteht den Begriff "Anspruch, oder Anspruch haben", nicht falsch. Ebenso wie mir mein Beruf Freude gemacht hat, gilt dies für die Familie. Allerdings wundere ich mich heute, wie ich es fertig gebracht habe, daneben auch noch allerlei Hobbys zu betreiben, mich weiterzubilden, aktiv in Vereinen und z.B. im Kirchengemeinderat zu sein. Im Ruhestand: keine Berufstätigkeit, die Kinder sind groß und aus dem Haus, das ich jetzt mit meiner Frau (die "Ansprüche" der Enkelkinder sind geringer als es die der Kinder waren) allein bewohne, ein Haus muss ich nicht mehr bauen und meine Frau und ich können vieles gemeinsam unternehmen, was früher, leider, zu kurz kam. Und darüber hinaus mache ich jetzt all das, was ich früher "auch noch" (s.o.) getan habe, zum Lebensinhalt. Das funktioniert recht gut. Hinzugekommen ist Internet, Korrespondenz per E-mail individuell und in virtuellen Gruppen. Ein Senior sagte mir "ach, wissen Sie, was meine Zeit-Einteilung anbetrifft - da habe ich zu Hause noch ein weibliches Wesen, die da ein Wörtchen mitredet...". Dritter Aspekt: die oft zitierte Angst vor dem Tod. Als beim jährlichen Body-check letzthin mein Doktor anmerkte, wenn ich dies oder jenes täte oder nicht täte, "dann leben Sie länger", antwortete ich: "wie lange ich noch lebe, ob noch ein Jahr oder 20, ist mir völlig wurscht". Mein Doktor daraufhin: "Dann werden Sie alt". Wer will, der mag noch lesen http://www.lill-online.net/zeiterleben und die nachfolgenden Beiträge. Seitenanfang Der alte Professor und die dicken Kieselsteine Autor unbekannt. Übersetzung aus dem Französischen durch Dieter Böckmann Eines Tages sollte der alte Professor eine Schulung zum effizienten Gebrauch der Zeit abhalten, vor einer Gruppe von 15 Chefs großer amerikanischer Unternehmen. Dieser Lehrgang war einer von fünf Workshops an einem Fortbildungs-Tag. Der Professor hatte also nur eine Stunde Zeit um sein Thema abzuhandeln. Er stand vor dieser Elite-Gruppe, die bereit war, alles sorgfältig aufzunehmen, was ihnen beigebracht werden sollte, und sah sie an, einen nach dem anderen. Dann sagte er: "Wir werden ein Experiment durchführen." Unter dem Tisch, der ihn von seinen Schülern trennte, holte der alte Professor einen großen Glastopf von fünf Litern Inhalt hervor und stellte ihn vorsichtig vor sich hin. Dann holte er ein Dutzend großer Kieselsteine hervor, etwa von der Größe eines Tennisballs, und legte sie, einen nach dem anderen, in den Glastopf. Als der bis oben hin voll war, sodass es unmöglich war, noch einen hineinzulegen, richtete er langsam den Blick auf seine Schüler und fragte: "Ist dieser Topf jetzt voll?" Alle antworteten: "Ja." Er wartete einige Sekunden und fragte: "Wirklich?" Dann bückte er sich abermals und holte unter dem Tisch einen Beutel mit Kies hervor. Sorgfältig schüttete er den Kies auf die dicken Kieselsteine und rüttelte den Topf ein wenig. Die Kies-Steinchen rieselten zwischen die dicken Kiesel - bis auf den Grund des Glasbehälters. Der Professor sah sein Auditorium wiederum an und fragte: "Ist der Topf jetzt voll?" Diesmal fingen seine brillanten Schüler an zu verstehen, worauf er hinauswollte, und einer von ihnen antwortete: "Wahrscheinlich nicht!" "Gut", antwortete der alte Professor. Er bückte sich wieder und holte nun unter dem Tisch eine Tüte voll Sand hervor. Er schüttete ihn in den Glasbehälter, sodass der Sand die Zwischenräume zwischen den dicken Kieseln und dem Kies ausfüllte. Abermals fragte er: "Ist der Topf jetzt voll?" Diesmal antworteten die Spitzenmanager, die hier seine Schüler waren, im Chor und ohne zu zögern: "Nein!" "Sehr gut", antwortete der alte Professor. Und jetzt - seine exzellenten Schüler erwarteten schon so etwas - nahm er die Karaffe mit Wasser, die auf dem Tisch stand, und füllte damit den großen Behälter bis zum Rand. Dann blickte er seine Gruppe wieder an und fragte: "Nun, was lehrt uns dieses Experiment?" Der kühnste seiner Schüler antwortete, nicht dumm, eingedenk des Themas der Schulung: "Das zeigt uns, dass man, selbst wenn man meint, sein Terminkalender sei schon voll, man immer noch - wenn man nur will - irgendeine Verabredung oder irgendetwas, das man noch tun möchte, dazwischen schieben kann." "Nein", erwiderte der alte Professor. "Das ist es nicht. Die große Wahrheit, die uns dieses Experiment zeigt, ist: wenn man nicht die dicken Kieselsteine zuerst in den Topf legt, dann kriegt man sie niemals alle hinein." Allgemeines Schweigen. Jedem wurde klar, wie offenkundig das Experiment war. Und dann sagte der alte Professor: "Was sind die dicken Kiesel in Ihrem Leben? "Was sind die dicken Kiesel in meinem Leben?" "Und dann tun Sie die zuerst in Ihren Glasbehälter (in Ihr Leben)!" Mit einem freundlichen Winken verabschiedete sich der alte Professor und ging langsam aus dem Saal. Seitenanfang Der Alb der Verkehrtheit von Edgar Allan Poe Wir haben eine Arbeit vor, die schleunigst erledigt werden muss. Wir wissen, dass ein Aufschub unheilvoll sein wird. Der bedeutsamste Wendepunkt unseres Lebens ruft wie mit Posaunen zu sofortigem energischem Handeln. Wir glühen, verzehrender Eifer erfüllt uns, das Werk zu beginnen, von dessen ruhmvollem Ausgang unsere Seele entflammt ist. Es muss, es soll heute in Angriff genommen werden - und dennoch schieben wir es auf bis morgen; und warum? Es gibt keine andere Antwort als die, dass wir verkehrt fühlen. Der andere Tag kommt, und mit ihm ein ungeduldigeres Verlangen, unsere Pflicht zu tun, aber gleichzeitig mit diesem gesteigerten Verlangen erhebt sich eine namenlose, eine geradezu angstvolle, weil unermessliche Begier nach Aufschub. Diese Gier nimmt zu, je mehr die Zeit entflieht. Die letzte Stunde zum Handeln ist gekommen. Wir erbeben unter der Heftigkeit des inneren Widerstreits - der Entschiedenheit mit der Unentschiedenheit - des Wesentlichen mit dem Schattenhaften. Ist aber der Streit einmal so weit gediehen, so ist es der Schatten, der die Oberhand gewinnt - wir ringen vergebens. Die Uhr schlägt und ist das Grabgeläute unseres Strebens nach Erfolg. Gleichzeitig aber ist es der Hahnenschrei für das Gespenst, das uns so lange schreckte. Es flieht - es verschwindet - wir sind frei. Die alte Willenskraft kommt wieder. Jetzt wollen wir arbeiten. Weh - es ist zu spät! Seitenanfang Zusammenfassung der Diskussion - Dieter Böckmann
Vorbemerkung: zwei Seiten, so ist es vereinbart, soll das Resümee eines Kolleg-Themas lang sein. Da ist es nicht vermeidbar, dass bei 56 Forums-Beiträgen von 12 Teilnehmern, d.h. über 40 Seiten Text, und vier Chat-Protokollen, sich manch interessante Idee, manch wertvoller Gedanke im Resümee nicht wiederfindet. Und die Angabe von Namen der Teilnehmer würde auch zuviel Platz wegnehmen. Der Begriff "Zeit", nicht nur für Senioren - denn hier geht es um Grundfragen des menschlichen Seins - , regte zu vielen Zitaten, ja "philosophischen Sahnehäubchen", an. Große Geister, griechische und römische Weise und Philosophen (Heraklit, Platon, Aristoteles, Horaz), der Kirchenvater Augustinus, viele Dichter und Schriftsteller (Goethe, Max Frisch, Erich Kästner, Rudolf Steiner, A. de St. Exupéry, Christian Morgenstern, Wilhelm Busch), und auch Einstein und Newton haben sich dazu geäußert, was in Tun, Denken und Seele des Menschen Vergangenheit, Gegenwart (ja der Augenblick) und Zukunft bedeuten. Auch die Bibel (Prediger / Kohelet 3, 1-8) sagt nachdenkliches zu Zeit. Zudem hat jeder Mensch eine innere Uhr, ein physiologisch gesteuertes individuelles Zeitempfinden. Warum haben Senioren eigentlich nie Zeit? Hierauf gibt es viele Antworten. Wir sind ja grundsätzlich frei in den Entscheidungen, was für uns die "großen Kieselsteine" sind. Es ist nicht mehr wichtig, von Termin zu Termin zu hasten, wohl aber, seine Zeit sinnvoll zu verbringen. Und es liegt in der Persönlichkeit und Lebensauffassung begründet, wie aktiv man auch im Alter ist. Seniorenstudium ist kein "Zeitvertreib", sondern eine sinnvolle Tätigkeit. Und die Altersweisheit lernt mit. Die Senioren unter den Studenten büffeln wirklich für das Leben. Bei aktiver Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gibt man etwas und bekommt auch etwas zurück. Manche meinen aber auch, es sähe gut aus, wenn man als Rentner einen vollen Terminkalender hat. Sie wollen damit zeigen, dass sie immer noch wichtig, ja unentbehrlich sind. Sie haben Angst, zuviel freie Zeit, ein "Zeitloch" zu haben. Und das Angebot ist fast zu reichhaltig. In Reisegesellschaften veranstalten Senioren ein Rennen gegen die Uhr. Sie organisieren viel zu viel und merken erst spät, dass sie sich übernommen haben. Diese Flucht vor dem "Ich" kann dann zu Stress werden. Es kann ja auch vorkommen dass, wenn ich eine übernommene Aufgabe ernst nehme, sie plötzlich mehr Zeit erfordert, als vorher abzusehen war. So geschieht es leicht, dass wir unseren Zeitvorrat und unsere Kräfte überschätzen. Deshalb ist auch das "Neinsagenkönnen" wichtig, das bewusste Ausbrechen aus dem "Hamster-Rad" von Verpflichtungen. Time-out und Sabbatical sind nicht nur für Berufstätige wertvoll. Auch Senioren brauchen zwischen ihren Aktivitäten Zeiten der Ruhe und Muße. Welch ein Luxus, innehalten zu können und den Einklang mit sich und der Welt zu spüren. Ein Spruch sagt: Das Gestern ist Vergangenheit, das Morgen ein Geheimnis, das Heute, das Jetzt, ist ein Geschenk, das wir bewusst erleben sollen. Studien des Zen-Buddhismus verhelfen dazu, sich seiner "Zeiten", d.h. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewusst zu werden, aber auch im Augenblick zu leben. Bei Muße und Besinnung denken wir auch an die Vergangenheit, die unsere Persönlichkeit geprägt hat und noch immer in unserem Gedächtnis gegenwärtig ist, und an die Zukunft ("wie werde ich mich in 10 Jahren sehen?"). Einige (viele sagen dazu NEIN) denken sogar daran, wie viel Zeit ihnen wohl noch bis zum Tod bleibt. Und das bringt wieder zur Gegenwart, zum "Carpe diem". Zu viele und zu lange Pausen können aber auch zum "Dolce far niente" führen, und von da ist es nicht weit zum gar nichts tun, zur Faulheit. E.A. Poe's "Alb der Verkehrtheit", wo man eine wichtige Aktivität so lange vor sich herschiebt, bis es zu spät ist, lässt grüßen. Dass der Unterschied zwischen Berufszeit und Ruhestand sich für Männer und Frauen unterschiedlich darstellt, wird nachdrücklich und ausführlich dargestellt. Ein Mann bekommt bei der Pensionierung 50 freie Wochenstunden geschenkt, aber die Ehefrau, ob sie berufstätig war oder nicht, besorgt nach wie vor den Haushalt - eine schier unendliche Aufzählung von "kleinen Kieselsteinen". Und war sie früher die Mutter mit Kindern, so opfert sie jetzt ihre Zeit als Großmutter für die Enkelkinder, während die Männer ihr Privatleben besser bewahren können. Ehepaare, mit glücklichem Eheleben solange beide berufstätig waren, müssen im Rentenalter das Leben zu zweit lernen. Und noch anderes gilt für Witwen oder Witwer. Manche fallen in das Loch "ach, ich werde nicht mehr gebraucht" und erwarten fatalistisch das Ende, viele sind aktiv wie andere und erleben sogar liebevolles Zusammensein mit einem anderen Menschen. Vergeht die Zeit schneller, wenn man älter wird? Das Gefühl, ja die Erfahrung, als junger Mensch in der gleichen Zeit mehr erledigt zu haben als heute, ist längst eine Volksweisheit. Nicht nur die Novelle vom alten Monsignore Pleora zeigt uns das. Es ist wissenschaftlich experimentell belegt: die Produktion des Botenstoffs Dopamin, der die Zeitabläufe im Hirn reguliert, nimmt mit den Jahren ab. Das (von Musik begleitete) Bild von Bächen und Flüssen stellt das Leben dar, wo sich bewegte Zeiten mit Perioden relativ kontinuierlicher Entwicklung abwechseln. Kein Fluss, und auch kein Leben, fließen völlig gleichmäßig von der Quelle bis zur Mündung. Und im Alter, wenn sich der Strom der Mündung nähert? Da gibt es nicht mehr viele Wirbel, nur die Strömung wird stärker. Die plötzliche bedrohliche Erkrankung eines lieben Menschen kann alle Zeitvorstellungen verändern. Ergibt sich dann, dass die Krankheit chronisch ist, lebt die Familie ihre Zeit viel bewusster, beginnt neue Aktivitäten, das Leben wird einfach sinnvoller. Zeit kostet auch Geld. Das Freizeitverhalten älterer Menschen wird durch ihre Vitalität, Mobilität und Gesundheit bestimmt, nicht zuletzt aber durch ihre finanziellen Mittel. Eine Statistik illustriert dies sehr deutlich. Zur Aussage "man fühlt sich erst nach dem Tod der Eltern frei", ergab sich ein längerer lebhafter Austausch, mit Zustimmungen und Ablehnungen (auch zu der Anmerkung, dass dies nur entfernt zum Thema Zeit gehöre - aber wir haben ja schon beim Treffen in Marienheide völlige Diskussionsfreiheit beschlossen). Schließlich wurde die Aussage geändert, nämlich "dass damit die letzte Schutzmauer der Kinder falle - ein Gesetz der Natur, das weder traurig noch erfreulich ist". Sollen wir Memoiren verfassen? Sie sind sicherlich für jede(n) wertvoll, führen sie ihm doch seine Vergangenheit und sein Werden vor Augen. Sind sie es auch für andere? Einst hat die Erfindung der Uhr das Verhältnis zur Zeit geändert. Jetzt ist es das Internet. Kontakte und Austausche per E-mail und Diskussios-Foren sind schneller als je zuvor und können zu jeder beliebigen Zeit stattfinden. Raum, Entfernungen? Wir unterhalten uns doch im Chat, obwohl wir über das ganze Land verstreut wohnen. Seitenanfang Die Beschleunigung von Dino Buzzati
Der Domherr Monsignore Giacinto Pleora war schon 75 Jahre alt, als ihm das Sonderbare zum ersten Mal widerfuhr. Es war an einem Sonntag. Das Hochamt, das er im Beisein des Kardinalerzbishofs zelebrierte, ging seinem Ende entgegen. Pleora fühlte sich zufrieden, fast glücklich, in einem Zustand völliger Ruhe des Geistes. Je weiter die Messe fortschritt, um so bewusster wurde ihm, fast gegen seinen Willen, wie vollkommen seine Dienstleistungen waren. Nicht, dass er deswegen Eitelkeit verspürte. Er wusste zu gut, dass alles das Resultat grosser Erfahrung und unzähliger Messen wie diese war, dass ihm auch die kleinste Episode im liturgischen Epos ins Blut übergegangen war. Früher als junger Mann, hatte er sich noch konzentrieren müssen, um die Formeln und Bewegungen nicht zu vergessen, kurz, es war eine entnervende Anstrengung gewesen, während jetzt, da er sie beherrschte, alles sicher, natürlich und leicht wie das Atmen geworden war. Der Künstler auf der Bühne weiss aus Instinkt, wann sich zwischen ihm und dem Puklikum die unsagbare Spannung des Erfolges einstellt. Nicht sehr anders fühlte der Pfarrer eine geheimnisvolle Übereinstimung zwischen sich und der Menge der Gläubigen. Eine Verzauberung, ein Zustand der Gnade in der Herrlichkeit des Altars, in den Wolken des Weihrauchs und den schrägen Sonnenstrahlen, die diese erglühen liessen, sowie in den Tönen, die von der Orgel herabströmten. Seine Bewegungen waren vollkommen, seine Stimme tief, die Predigt erhaben, harmonisch und voller Gefühl. In aller Demut richtete er in diesen Minuten ein Dankgebet an Gott, dass er ihm in solcher Glorie dienen durfte. Aber auch die Messe fand ein Ende, Chor und Orgel schwiegen, die Weihrauchfässer wurden gelöscht, und während man das Geräusch der Hinausströmenden hörte, entfernten sich die Zelebranten im Zuge, und um den verlassenen Altar wehte Traurigkeit. Da kam die Überraschung. Als er in die Sakristei trat, die weitläufig wie eine Kirche war, bemerkte der Pfarrer auf den Gesichtern aller Teilnehmer, der Priester, der Chorknaben und Sänger, einen seltsamen Ausdruck. Für einen Augenblick konnte er auch den Kardinal sehen, bevor dieser den Gang zu seinen Gemächtern betrat, und auch auf dessen, sonst immer so gütigen und wohlwollenden Zügen lag ein Schatten von Widerwillen, geradezu wütend aber schien der junge Sekretär zu sein, Don Terlizzi, der hinter seiner Eminenz einherschritt, als ob derselbe Unwille, nur in verschiedener Stärke, sie beide im Banne hielt. "Was haben sie nur ?" fragte er leise Don Sustinenti, den Dekan des Domkapitels, der ihm wie ein Sohn wohlwollte. "Oh, Monsignore, antwortete die gute Seele, "sie sind gerührt, das ist es, es war die schönste Messe in diesem Jahr, und nie haben sie so schön gesprochen." Die Worte Sustinentis waren Balsam für sein Herz. Doch in diesem Augenblick fiel sein Blick auf Don Cerriola, den eifrigsten der Chorherren: er stöhnte und blies seine Wangen auf wie jemand, der übergenug hat. Jatzt erst durchzuckte ihn ein Verdacht. Er hob die Augen zur Wanduhr: zehn Minuten vor eins! Fast drei Stunden hatte die Messe gedauert - daher! Niemals waren bisher zwei Stunden überschritten worden. Es war begreiflich, dass alle außer sich waren. Aber wie kam es nur, dass er selbst nichts davon gemerkt hatte? Warum hatte er alles so in die Länge gezogen? Es war ihm nicht bewusst geworden, an irgend einem Punkt besonders verweilt zu haben oder die Auslegung des Evangeliums über die übliche Länge hianusgezogen zu haben. Wie liess sich dann eine solche Verspätung erklären? Niemand machte ihm Vorhaltungen, noch sprach man weiter darüber, und trotzdem blieb ihm ein unangenehmes Gefühl wegen der Seltsamkeit dieses Phänomens. Seitdem war er auf der Hut, damit sich so etwas nicht noch einmal ereignete. Und tatsächlich glaubte er bei der Beobachtung seiner täglichen Verrichtungen zu bemerken, dass alles, was er tat, sich irgendwie zu verlangsamen schien. Obgleich er mit demselben Eifer wie je arbeitete, wollten die Stunden des Tages und der Nacht nicht mehr ausreichen. Mitternacht kam, und immer blieb noch etwas zu tun übrig. Irgendetwas musste man stets auf den nächsten Tag verschieben. Doch auch am nächsten Tag häuften sich die übriggebliebenen Dinge wieder, während neue Pflichten und Obliegenheiten dazu kamen. So wurde es ein Haufen, der von Tag zu Tag schwerer lastete. Vielleicht ist es das Alter, dachte er, vielleicht nehmen meine Kräfte ab, es gelingt mir nicht mehr, zu arbeiten wie früher, vielleicht bin ich müde, sogar krank. Früher schaffte ich eine Beichte in höchstens einer Viertelstunde, heute ist wenigstens das Doppelte dazu nötig. Für den Entwurf einer Gelegenheitspredigt, wie sie mir der Erzbischof zuweist, brauchte ich früher einmal ein paar Stunden, heute sitze ich die ganze Nacht daran, und beim Morgengrauen habe ich sie noch nicht beendet. Er ließ den Arzt kommen, erkläte ihm den Fall und ließ sich untersuchen. Der Arzt kannte ihn gut und verstand sein Handwerk. "Monsignore", so lautete seine Antwort, "Sie sind gesund wie ein Fisch. Ein Stärkungsmittel, sagen Sie? Wenn Sie wollen, verschreibe ich Ihnen gern eines. Aber ob es nutzt? Sie sind ganz und gar gesund." "Aber wie erklären Sie es dann?" "Das ist die Zeit. Für Sie hat die Zeit eben zu laufen angefangen." "Soll das heißen, dass ich alt geworden bin?" "Von einem gewissen Zeitpunkt an beginnen die Tage schneller zu laufen. Das ist wie bei den Flüssen. Sie strömen ruhig dahin, aber auf einmal beginnen sie zu laufen, immer schneller, immer schneller, bis sie über die Kaskaden stürzen. Auch für uns gilt das." "Wenn ich recht verstanden habe", antwortet Monsignore mit einem schüchternen Lächeln, "bedeutet das, dass auch für mich die Kaskade näher rückt und mir wenig Zeit zum Leben bleibt." "Nein, das will ich nicht sagen. Eine Regel gibt es da nicht. Das hängt ganz vom Temperament ab. Es gibt Flüsse, die schon von der Quelle an das Vorgefühl der hundert und aberhundert Kilometer weit entfernten Kaskaden haben und in raschen Wellen darauf zufliessen. Andere bleiben bis zuletzt, bis wenige Meter vor dem Sturz ruhig, als ob sie nichts ahnten. Das ist alles eine Frage des Temperaments." "Aber es ist doch ein Zeichen des Alters?" "Auch das kann man nicht sagen. Ich kenne junge Leute von zwanzig." "Und ein Mittel dagegen?" "Ein Mittel? Wenn die Zeit einmal begonnen hat zu rennen, wenn die Tage kürzer werden und es uns scheint, als brächten wir nichts mehr ans Ende - nein, nein, dann ist es unmöglich, sie aufzuhalten." "Ihnen ist es genausi ergangen, Herr Doktor?" "Ebenso. Vor mehr als zehn Jahren habe ich die ersten Symptome bemerkt. Und der Himmel weiß, was ich alles versucht habe, um gegen den Strom zu schwimmen. Aber wer kann ihm widerstehen? So ist das mit mir: ich bin ein Stück Kork, das vom Strom erfasst wurde und schneller, immer schneller dem Wasserfall am Ende zutreibt. Aber ist er nah? Fern? Wer kann das wissen?" "Wenn ich also recht verstanden habe, bleibt mir nur ..." "... sich abzufinden, Monsignore, oder höchstens zum lieben Gott beten, das könnte vielleicht ..." Aber er wollte sich nicht damit abfinden. Ja, er war sogar davon überzeugt, dass gerade dieses Sich-Abfinden die Wurzel alles Übels sei: wenn einer stattdessen mit aller Energie versuchte, sich niemals überraschen zu lassen, würde sich auch die Zeit wieder in Ordnung bringen lassen, und die Tage würden ihren früheren Rhythmus wieder aufnehmen. So handelte er denn. Aber welche Mühsal. Immer mit den Augen auf dem Zifferblatt, um die Zeit nicht zu überschreiten, immer mit der Angst, nicht Schritt halten zu können. Und je mehr er daran dachte, desto schlimmer wurde der Stachel. Ein Nichts genügte, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, ein Nachlassen, ein Schatten von Müdigkeit: schon glitt ihm die Feindin, die Zeit, aus den Händen und entschwand rasend wie eine Lawine. Dann musste man sie wieder einholen, festhalten, binden, ihr Zügel anlegen. Zwar gelang es Monsignore Pleora immer noch, aber er blieb erschöpft und ohne Atem. Und Zweifel stiegen in ihm auf: ob der Arzt nicht vielleicht doch Recht gehabt hatte, dass der Widerstand nur der Feindin leichtes Spiel verschaffte und ihn selbst nur noch mehr ermüde. Je müder man war, um so größer die Beschleunigung der Stunden und mit ihr der Kummer. Vielleicht sollte man doch besser versuchen, nicht dagegen zu kämpfen, sondern sich der Strömung überlassen und die Kräfte sparen für den Augenblick, da man sich dem Engpass näherte und den Wasserfal zu sehen begann. Aber ob er nun zu widerstehen versuchte oder sich von der Strömung treiben ließ, der Erfolg war immer der gleiche. Es war wie der Räderschlag eines anfahrenden Zuges, der in langsamen Rhythmus beginnt und immer schneller und schneller wird, bis er zuletzt ein einziges ununterbrochenes Geräusch bildet, ähnlich dem Getöse eines Gebirgsbaches: Monsignore Pleora vermochte nicht mehr eine Stunde von der anderen zu unterscheiden, einen Tag von dem anderen, so schnell tanzten sie vorbei, eng aneinandergereiht, bis sie eine einzige kompakte, gleichformige Masse bildeten. Das einzige, hatte ihm der Arzt gesagt, war, zu Gott zu beten. Das war doch wenigstens eine Hoffnung. Die einzige Pause, die dem Pfarrer manchmal noch die Erinnerung an die einstige Seelenruhe brachte. Aber wie lange würde es ihm noch vergönnt sein, zu beten? Aus alter Gewohnheit, die ihn noch seine Mutter gelehrt hatte, pflegte Monsignore Pleora am Morgen unweigerlich drei Vaterunser, drei Ave Maria und drei Gloria zu sprechen. Er hatte gelernt, sie in wunderbarer Schnelligkeit aufzusagen, fast wie Zungnbrecher, aber ohne eine einzige Silbe zu verlieren oder den Sinn zu entstellen. Es wäre ihm unehrerbietig vorgekommen, nach der Uhr zu beten, aber er war sicher, dass er höchstens ein oder zwei Minuten, wenn nicht gar nur ein paar Sekunden darauf verwandte, alles nur, um der Zeit standuhalten. Aber die Zeit kennt kein Mitleid. Monsignore Pleora wacht um sieben Uhr auf, steigt aus dem Bett, kniet nieder und spricht seine kleinen Gebete. Kaum ist das letzte "Amen" gesprochen, da läutet nebenan schon das Telefon: jemand stirbt, jemand wird geboren, jemand heiratet, jemand hat Gewissensbisse, und alle haben ihn nötig. Monsignore Pleora wacht um sechs Uhr auf, steigt aus dem Bett, kniet nieder und spricht seine kleinen Gebete. Beim zweiten "Ave Maria" stürzt die alte Clementina ins Zimmer: "Monsignore, Monsignore, schnell. Seine Eminenz wartet schon im Wagen." "Aber er wollte doch erst um zehn kommen?" "Es ist zehn Uhr, Monsignore." Monsignore Pleora wacht um fünf Uhr auf, steigt sofort aus dem Bett, kniet nieder und spricht seine kleinen Gebete. "Pa..." beginnt er, aber er hat nicht einmal die Zeit "..ter" zu sagen, da ist es schon Abend. Seitenanfang Druckversion (pdf) |