Startseite > Ergebnisse > Vorleser

Der Vorleser
Ein Roman der unbeantworteten Fragen?
Finden wir Antworten?

Bearbeitungszeit 22.03.2004 bis 25.04.2004
Moderator Peter Joksch


Kurzreferat
Zusammenfassung

Druckversion (pdf)
 
Kurzreferat

Bernhard Schlink: Der Vorleser; Taschenbuch: Diogenes, DTB 22953, 1997.

Das kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG 3/02) sagt zum Autor:
Bernhard Schlink, geb. 1944 in Großdornberg b. Bielefeld, studiert Jura, Examina 1968 / 1972, wiss, Assistent in Heidelberg, promoviert 1975, habilitiert 1981, seit 1988 Richter am Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen, seit 1992 Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt - Universität Berlin, seit 1994/95 Dekan der juristischen Fakultät.

Inhalt des Romans:
Michael Berg, ein 15-jähriger Gymnasiast lernt die 36-jährige Hanna Schmitz kennen. Mit ihr hat er eine monatelange sexuelle Beziehung. Hanna erzählt ihm relativ wenig von sich. Michael besucht sie fast täglich und macht mit Hanna auch eine 4-tägige Radtour. Er entwickelt sich durch diese Beziehung sehr. So schafft er es, den durch eine monatelange Krankheit versäumten Unterrichtsstoff in kürzester Zeit nachzuholen und vermeidet damit, die Klasse wiederholen zu müssen. Er wird selbstsicher seinen Eltern und auch seinen Mitschülern und Mitschülerinnen gegenüber. Hanna lässt sich gerne von Michael vorlesen.
Unvermutet beendet jedoch Hanna die Beziehung, indem sie ohne Abschied und ohne eine Adresse zu hinterlassen die Stadt verlässt. Michael kann lediglich in Erfahrung bringen, dass Hanna nach Hamburg gezogen ist, und dies trotz eines Angebotes ihres Arbeitgebers, sie von der Straßenbahnschaffnerin zur Fahrerin auszubilden.
Michael besucht weiter die Schule, macht Abitur und beginnt ein Jurastudium. Sein Professor regt die Studenten an, einen in der Nähe stattfindenden KZ-Prozess als Beobachter zu besuchen. Hier trifft Michael nach sieben Jahren Hanna als Angeklagte wieder. Von seinen Erinnerungen eingeholt verfolgt er den Prozess mit Hingabe, und stellt fest, dass Hanna Analphabetin ist. Dies macht sie jedoch nicht öffentlich und Michael steht vor der Frage, ob er dem Vorsitzenden Richter davon Mitteilung machen soll. Er tut es nicht. Hanna wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Michael besucht Hanna nur einmal kurz vor ihrer Entlassung im Gefängnis, beginnt jedoch nach Jahren Bücher auf Kassette zu sprechen und diese Hanna ins Gefängnis zu schicken. Nach achtzehn Jahren Haft bekommt Michael einen Brief der Anstaltsleiterin, dass Hanna vorzeitig entlassen werden soll, und ob er sich um sie kümmern könne. Er tut es widerstrebend. Am Tag der Entlassung begeht Hanna jedoch Selbstmord.

Der Roman umfasst eine Zeit von 35 Jahren von 1958 bis 1993. Michael kann sich nie von Hanna lösen und wird auch immer wieder in ihr Leben einbezogen.
Der Roman gliedert sich in drei Teile.
  • Die Liebesbeziehung,
  • der Prozess und Hannas Haftzeit
  • sowie weitere 10 Jahre.


  • Der Roman ist in der Ich-Form geschrieben und arbeitet durchgehend mit Zeitsprüngen. Schlink hat eine sehr schöne und bildreiche Sprache, die mich schon auf den ersten Seiten gefangen nahm, da sie vor mir sofort ein genaues Bild dessen entstehen ließ, worüber er schreibt. (Bsp.: S. 5 - 14)
    Schlink verbindet in seinem Roman die persönlichen Schicksale und Verhaltensweisen von Hanna und Michael mit dem Thema Schuld und Sühne der Taten zur Zeit des Hitlerreiches. In diesen Text streut er Gedanken, Fragen, Überlegungen ein, auf die jeder Leser seine eigenen Antworten finden muss. Daher mein Untertitel: Ein Roman der unbeantworteten Fragen.

    Welche Fragen meine ich.
    Die erste Frage ist naturgemäß: Warum hat Michael dem Vorsitzenden Richter nicht mitgeteilt, dass Hanna Analphabetin ist und sie somit die Ladungen und Anklageschrift und das Buchmanuskript nicht hat lesen können, und dass ihre Aussage, sie habe den Bericht über den Brand geschrieben, somit nicht den Tatsachen entsprechen kann.
    Zweitens. Warum hat sich Hanna zu ihrer Entlastung nie dazu bekannt? (S. 127; 132; 136/38; 153/55)
    Daraus die Frage: Ist Scham ein so starkes Motiv, dass jemand sich lieber schuldig bekennt als einen Mangel zuzugeben? (S. 127) Auf S. 128 heißt es: Sie kämpfte für ihre Wahrheit und ihre Gerechtigkeit, und: ... sie kämpfte, um zu verbergen, was sie nicht kann. Und auf S. 132 heißt es sinngemäß: Hanna kämpfte um eine geringere Strafe, aber nicht um den Preis ihrer Bloßstellung als Analphabetin. Dazu die Beispiele S. 133: Wem kann man helfen, wem darf man helfen? Ferner die Meinung von Michaels Vater: Er führt Freiheit und Würde der Person des Menschen an. Dieser sei Subjekt und dürfe nicht zum Objekt gemacht werden. Und er fügt hinzu: Schon wieweit man das bei einem Kind tun darf, ist ein wirkliches Problem. Als Michael einwendet, der Andere würde später glücklich sein, erwidert der Vater: Wir reden nicht über Glück sondern über Würde und Freiheit. Später sagt er noch: Man muss ihm das letzte Wort lassen, aber man muss mit ihm reden, nicht hinter seinem Rücken mit jemand anderem. (S. 136 - 138)
    Auch bei den Studentenunruhen bringt Schlink den Begriff Scham ins Spiel. Hier wird diese im Zusammenhang mit der angenommenen Schuld der Eltern als Grund für Aggressivität angesehen. (S. 162/63)
    Weitere Frage: Warum kommt Michael nie von Hanna los? Erste Lieben sind doch eigentlich im Gedächtnis wunderschön, beim Wiedersehen der betreffenden Person nach einigen Jahren jedoch eher ernüchternd. Dazu Michaels Frage: Habe ich mich in sie verliebt als Preis dafür, dass sie mit mir geschlafen hat? (S. 28)
    Wie passen dazu seine Gedanken? z.B.: Er würde sich im Theater des Wohnortes nicht so mit Hanna zeigen wie im Theater der Nachbarstadt. (S. 70) Er steht also eigentlich nicht rückhaltlos hinter Hanna. Dieses ambivalente Verhalten belastet sein ganzes Leben. Auch seine Ehe dürfte daran gescheitert sein. Eine neue enge Beziehung ist er offenbar nicht mehr eingegangen. Wie ist weiterhin Michaels unterschiedliches Verhalten zu erklären? Einerseits schreibt er Hanna nie (S.179), besucht sie auch erst kurz vor ihrer Entlassung im Gefängnis (S.184), fragt, warum hätte ich ihr einen Platz in meinem Leben zubilligen sollen? (S. 187). Andererseits fragt er sich: Habe ich sie verleugnet, verraten? Bin ich ihr etwas schuldig geblieben, bin ich für ihren Tod verantwortlich? (S. 205). Warum hat er ihr Grab nur einmal besucht? (demzufolge war er auch nicht bei ihrer Beerdigung) (S.207).
    Dazu von mir die Frage: hilft der Mensch lieber indirekt, sozusagen anonym?

    Um das Thesenpapier nicht unzulässig zu verlängern gehe ich nicht auch noch auf die Fragen: Recht, Rechtsprechung, (Kollektiv-)Schuld, Verarbeitung der Taten des 3. Reiches ein. Das wird sich sicherlich aus dem Chat und den Beiträgen im Forum ergeben.

    Seitenanfang


     


    Zusammenfassung der Diskussion


    Unser Thema, "Der Vorleser", Roman von Bernhard Schlink, wurde vier Wochen diskutiert. Hierbei wurden in Forum, vor allem jedoch in den 4 Chats sehr unterschiedliche Meinungen geäußert. 9 Teilnehmer stellten 24 Beiträge ins Forum. Ein großer Teil der hier erwähnten Äußerungen stammt aus den Chats, die alle vier sehr intensiv genutzt wurden. Es fiel auf, dass ein großer Teil der Beiträge als Fragen gebracht wurde. Wegen der vorgegebenen Länge der Zusammenfassung können nicht alle Äußerungen erwähnt und die erwähnten nicht alle wörtlich gebracht werden. Gleichlautende Meinungen wurden gebündelt. Der besseren Übersichtlichkeit wegen, habe ich die Zusammenfassung in thematische Kapitel unterteilt.
    Hannas Analphabetismus. Die Einstiegsfrage im Chat, ob man Hannas Analphabetismus öffentlich machen dürfe, wurde von den Kollegteilnehmern unterschiedlich beantwortet. Während ein Teil dies bejahte, sprach sich ein gleich großer Teil dagegen aus. Es sei Hannas Würde zu berücksichtigen und ihre Einwilligung einzuholen. Hannas Scham vor der Bloßstellung sei nämlich so groß, dass sie ein härteres Urteil in Kauf nähme. Bemängelt wurde von allen, dass Michael keinen Versuch unternommen habe, mit Hanna über diese Frage zu sprechen. Gefragt wurde aber auch, ob Hanna die Konsequenzen ihres Verschweigens überhaupt übersähe, was auch unterschiedlich beurteilt wurde. Einerseits hieß es, Hanna sei schließlich nicht dumm und habe mit Geschick ihre Schwäche verborgen. Ferner sei jeder Erwachsene - soweit geistig gesund - für sein Handeln selber verantwortlich. Die Gegenmeinung lautete, Hanna sei wegen ihres Analphabetismus' verletzlich und reagiere mit Angst, Abwehr, Abspaltung der Gefühle. Zusätzlich wurde gefragt, ob man dem Richter diese Tatsache verschweigen und ihn damit der Gefahr eines Fehlurteils aussetzen dürfe?
    Das Verhältnis Hanna - Michael. Ein weiteres Thema war Hannas Verhältnis zu Michael und die daraus resultierende Schuld ihm gegenüber. Es wurde behauptet, Hanna sei gefühlskalt und charakterlich deformiert. Das sexuelle Verhältnis mit Michael sei als Missbrauch ihrerseits zu werten. Sie nutze Michael als Vorleser und Sexobjekt aus und habe ihre Macht gegenüber Michael ausgekostet. Es hieß, von Hannas Seite sei es keine Liebe. Michael sei minderjährig und sei ihr hörig gewesen und Hanna habe verantwortungslos gehandelt. Dadurch käme Michael von Hanna nicht los. Es gab aber auch die Meinung, Hanna habe Michael mehr geliebt als sie hat durchblicken lassen. Dazu die Frage: War Michael für Hanna eine vermisste Normalität? Ein Teilnehmer meinte, als Hanna im Gefängnis lesen und verstehen lernt, möchte sie Vergebung von Michael. Dies ist ihm unmöglich und sie kann so nicht weiter leben. Aber es hieß auch: Hanna und Michael nutzen jeder den anderen für seine Zwecke aus. Am Ende stehe auf beiden Seiten der Verrat am anderen. Die Beziehung Michaels zu Hanna sei nicht ausgelebt. Dann wurde gefragt: Warum sollte Michael Hanna im Gefängnis besuchen. Sie sei Verführerin und Verbrecherin.
    Aber auch Michaels Charakter und Verhalten wurden unterschiedlich beurteilt. Er sei in Persönlichkeit und Charakter schwerer fassbar als Hanna. Die Beziehung zu Hanna habe sein ganzes Leben geprägt, und er sei danach zu echter Liebe nicht mehr fähig gewesen. Er empfinde Schuld, weil er sich nie zu Hanna bekannt habe. Allerdings sei ein 15-jähriger nicht reif für eine doppelt so alte Frau. Er konnte danach nicht mehr so lieben wie damals und empfinde das als Unfähigkeit, Schwäche. Er habe Angst vor den Schmerzen neuer Liebe. Michael sei durch Hannas Demütigungen und eigenen Verrat mehrfach verletzt worden und komme von dieser seiner ersten Liebe nicht los. Aber es hieß auch: Für Michael sei Hanna ein Liebesabenteuer ohne innere Bindung gewesen. Er habe sich nie zu ihr bekannt und sich nicht für Hannas Leben interessiert. Michael sei indifferent. Er hätte eher Geld gegeben als Hanna persönlich aktiv zu helfen. Weitere Fragen: Warum fühlt er sich Hanna verpflichtet? Schreibt ihr aber nicht, besucht sie nicht? Hat aber auch keine anderen Beziehungen? Wodurch hat Michael seine Bindungsfähigkeit verloren? War Michael bindungsunfähig veranlagt? War es Michael peinlich, dass seine Freundin so viel älter war? Warum übernimmt er keine Verantwortung? Warum geht ihm sein Gefühl verloren, die Fähigkeit zu empfinden? War sein Verhältnis zu Hanna sexuelles Erlebnis oder Liebe? Warum ist er nicht zu Hannas Beerdigung gegangen? Zu dieser Frage gab es als mögliche Gründe: Sein schlechtes Gewissen und sein Versuch sich von Hanna zu lösen; aber auch: die Unmöglichkeit, sich von ihr zu lösen. Zwei weitere provozierende Fragen lauteten: Geheimnissen wir zu viel in Michael hinein? Hat Schlink die Person Michaels selbst nicht ganz in den Griff bekommen?
    Hannas Schuld als KZ-Aufseherin. Bei Hanna ging es dann um ihre Schuld durch ihre Tätigkeit im KZ. Dass sie schuldig sei, war unbestritten. Über die Größe der Schuld gab es unterschiedliche Meinungen. Dazu wurde geäußert: Wir wüssten nichts von Hannas Kindheit, Elternhaus, Heim, Ausbildung und ihren Gedanken. Ihr Verhalten sei eine Mischung aus Gehorsam, Pflichterfüllung, Obrigkeitsdenken und Machtgefühl. Sie sei jedoch offenbar fleißig, gewissenhaft, zur Vorarbeiterin geeignet, in ihrem Charakter sehr geradlinig. Nicht immer sei sie verantwortungslos. Hannas Funktion im Lager sei für sie Pflichterfüllung gewesen und ihre Beziehung zu Michael sei ihre Intimsphäre. Dadurch kam es zu der Frage, ob sich Hanna bei der Anwerbung durch die SS überhaupt der Folgen bewusst gewesen sei. Ihr Analphabetismus und die dadurch verursachte Unmündigkeit müssten berücksichtigt werden. Sie habe sich bei Siemens nicht für das Verbrechen sondern gegen die Beförderung entschieden. Andere meinten hingegen: Für Hannas Schuld sprächen ihr letztendlich freiwilliger Wechsel von Siemens zur SS, die von ihr im Lager zu verantwortenden Selektionen, ihre Untätigkeit in der Bombennacht und das Zugeben der Schuld vor Gericht, ohne Einsicht zu zeigen. Es wurde gesagt, Hanna müsse es klar gewesen sein, dass sie einer Organisation diente, die eine Stütze des Staates war. Sie habe willig Befehle ausgeführt, die sie zur Verbrecherin machten. Danach sei sie untergetaucht und habe die Vergangenheit verborgen. Oder einfach: Für mich ist Hanna schuldig. Bei dem Thema "Vorleserinnen im Lager" gingen die Meinungen ebenfalls auseinander. Ein Teil sah es als Versuch, diese Personen so lange wie möglich zu schonen, andere sahen darin das Loswerden von Zeuginnen ihres Analphabetismus. Hannas Bemerkung an den Richter: Was hätten Sie denn gemacht? ist für die einen ein Zeichen von Gleichgültigkeit für die anderen ein Hilfeschrei. Aber es wurde auch gefragt: Warum analysiert ihr das Gefühlsleben von Hanna, warum nicht das der Opfer? Ich verstehe euer Verständnis gegenüber Hanna als Täterin nicht. Das rief den Einwurf hervor: muss Hanna immer nur schuldig sein? Werden wir dem Menschen Hanna gerecht? Was täte ich, wenn Hanna meine Tochter wäre? Denkt an das Pfarrerehepaar Ensslin! Mit Schwarz - Weiß, Gut - Böse allein kommen wir nicht weiter. Wir werden den Menschen nicht gerecht, wenn wir sie nicht in ihrer Vielschichtigkeit sehen.
    Rechtsprechung. Auch die allgemeine Schwierigkeit der Rechtsprechung wurde diskutiert sowie die Schwierigkeit, in einem solchen Prozess Recht zu sprechen. Was sagen die Zeugen aus dem Dorf, was verschweigen sie? Hannas Analphabetismus wurde anfangs schon erwähnt. Darf der Richter sich um Verstehen bemühen? Dabei ginge es nicht um Entschuldigung sondern um Gewichtung, wobei wir zwischen juristischem und menschlichem Verstehen unterscheiden müssen. Auch philosophische Fragen wurden gestellt: Was ist Wahrheit? Was ist Recht? Was ist ein gerechtes Urteil? Dann wurde darauf hingewiesen, dass es hier um eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gehe und es wurde eingewandt: Mich stört die Toleranz gegenüber Hanna, und: müssen wir uns nicht auf die Seite der Opfer stellen, bis hin zu der Frage: Haben NS-Verbrecher ein Recht auf ein gerechtes Urteil? Aber auch: Ein Urteil soll der Sühne und damit der Versöhnung dienen. Auch für Hanna müsse Verständnis aufgebracht werden; sie sei letztlich auch irgendwie ein Opfer. Schließlich wurde ausgeführt: Die Wahrheit ist uns grundsätzlich verschlossen. Man kann nie die ganze Wahrheit erfahren. Man könne sich ihr nur nähern mit der Wahl verschiedener Blickwinkel und das gelte auch für die Suche nach Gerechtigkeit.
    Die Protagonisten als Stellvertreter gesellschaftlicher Gruppierungen und ihrer Gedankenwelt. Nun wurde jedoch darauf hingewiesen, dass wir uns von den Personen und Handlungen des Romans lösen müssten. Schlink schreibe keine Story, sondern setze sich mit gesellschaftlichen Strömungen auseinander. Er fokussiere seinen Roman auf die beiden Hauptpersonen. Sein Roman sei als Parabel für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Nachkriegszeit und als Gesellschaftskritik anzusehen. Dazu benutze er Beschreibungen und Handlungen von Personen. Man dürfe nicht von der Persönlichkeits- und Handlungsanalyse ausgehen, sondern von der Gedankenwelt der gesellschaftlichen Gruppen, die hier verkörpert werden sollen. Es hieß weiter, Hanna könne beispielsweise stellvertretend für Teile der Bevölkerung bzw. für das deutsche Volk stehen. Eine Vertreterin der Tätergeneration, Beispiel und Symbol der Deutschen der Nachkriegszeit, der schweigenden Kriegsgeneration, in gewisser Weise behindert. Daraus könne man schließen, wenn man Hanna jegliche Entlastung verweigere, verurteile man ein ganzes Volk. Oder Hanna als Tätertyp. Ein mit Mängeln behafteter Mensch, der plötzlich Macht über andere erhält. Oder: Ein normaler Mensch, bei dem die moralischen Sicherungen durchgebrannt seien. Hanna repräsentiere jedoch auch die Gruppe, die zum Komplizen des Systems wurde, und ohne die das Dritte Reich nicht bis zum Schluss funktioniert hätte.
    Michael hingegen sei Repräsentant der Gesellschaftsgruppe, die wenig fragt, nur Sündenböcke sieht, die Tragödie der Täter nicht erkennt. Er sei der Vertreter der bildungsbürgerlichen Elite der Nachkriegsgeneration, ratlos der Vergangenheit und Gegenwart gegenüber. Die einen hätten geschwiegen, die anderen nicht eindringlich genug gefragt. Zusätzlich wurde gefragt: Will Schlink durch die Liebesbeziehung zwischen Hanna und Michael ausdrücken, dass bisherige Ordnungen aufgehoben sind? Verdeutliche die Liebesbeziehung die Verstrickung der Nachkriegsgeneration mit der Nazivergangenheit. Stellt Schlink Schuld und Gegenschuld - Hanna und Michael - dar? Schon zu Beginn des Romans lässt Schlink Michael sagen: Oft genug habe ich im Laufe meines Lebens getan wofür ich mich nicht entschieden hatte und nicht getan, wofür ich mich entschieden hatte. Es, was immer es sein mag, handelt.
    Resümee. Als Ergebnis der Zusammenfassung ist festzuhalten: Das Thema hatte den Untertitel "Ein Roman der unbeantworteten Fragen? Finden wir Antworten?"
    Wir haben keine Antworten gefunden sondern die Zahl der Fragen vermehrt. Der Roman als solcher hat uns alle gleichermaßen in den Bann gezogen. Die Beurteilung der Personen und ihrer Handlungen war von Anfang an unterschiedlich und ist auch unterschiedlich geblieben. Über die Absichten des Autors konnte nur spekuliert werden. Einer Äußerung eines Teilnehmers dürften wir jedoch alle zustimmen. Diese Vergangenheit belastet uns noch immer. Wir können sie nicht verdrängen, wir müssen sie wach halten.

    Seitenanfang          Druckversion (pdf)