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Der Vorleser
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Kurzreferat
Seitenanfang Zusammenfassung der Diskussion
Unser Thema, "Der Vorleser", Roman von Bernhard Schlink, wurde vier Wochen diskutiert. Hierbei wurden in Forum, vor allem jedoch in den 4 Chats sehr unterschiedliche Meinungen geäußert. 9 Teilnehmer stellten 24 Beiträge ins Forum. Ein großer Teil der hier erwähnten Äußerungen stammt aus den Chats, die alle vier sehr intensiv genutzt wurden. Es fiel auf, dass ein großer Teil der Beiträge als Fragen gebracht wurde. Wegen der vorgegebenen Länge der Zusammenfassung können nicht alle Äußerungen erwähnt und die erwähnten nicht alle wörtlich gebracht werden. Gleichlautende Meinungen wurden gebündelt. Der besseren Übersichtlichkeit wegen, habe ich die Zusammenfassung in thematische Kapitel unterteilt. Hannas Analphabetismus. Die Einstiegsfrage im Chat, ob man Hannas Analphabetismus öffentlich machen dürfe, wurde von den Kollegteilnehmern unterschiedlich beantwortet. Während ein Teil dies bejahte, sprach sich ein gleich großer Teil dagegen aus. Es sei Hannas Würde zu berücksichtigen und ihre Einwilligung einzuholen. Hannas Scham vor der Bloßstellung sei nämlich so groß, dass sie ein härteres Urteil in Kauf nähme. Bemängelt wurde von allen, dass Michael keinen Versuch unternommen habe, mit Hanna über diese Frage zu sprechen. Gefragt wurde aber auch, ob Hanna die Konsequenzen ihres Verschweigens überhaupt übersähe, was auch unterschiedlich beurteilt wurde. Einerseits hieß es, Hanna sei schließlich nicht dumm und habe mit Geschick ihre Schwäche verborgen. Ferner sei jeder Erwachsene - soweit geistig gesund - für sein Handeln selber verantwortlich. Die Gegenmeinung lautete, Hanna sei wegen ihres Analphabetismus' verletzlich und reagiere mit Angst, Abwehr, Abspaltung der Gefühle. Zusätzlich wurde gefragt, ob man dem Richter diese Tatsache verschweigen und ihn damit der Gefahr eines Fehlurteils aussetzen dürfe? Das Verhältnis Hanna - Michael. Ein weiteres Thema war Hannas Verhältnis zu Michael und die daraus resultierende Schuld ihm gegenüber. Es wurde behauptet, Hanna sei gefühlskalt und charakterlich deformiert. Das sexuelle Verhältnis mit Michael sei als Missbrauch ihrerseits zu werten. Sie nutze Michael als Vorleser und Sexobjekt aus und habe ihre Macht gegenüber Michael ausgekostet. Es hieß, von Hannas Seite sei es keine Liebe. Michael sei minderjährig und sei ihr hörig gewesen und Hanna habe verantwortungslos gehandelt. Dadurch käme Michael von Hanna nicht los. Es gab aber auch die Meinung, Hanna habe Michael mehr geliebt als sie hat durchblicken lassen. Dazu die Frage: War Michael für Hanna eine vermisste Normalität? Ein Teilnehmer meinte, als Hanna im Gefängnis lesen und verstehen lernt, möchte sie Vergebung von Michael. Dies ist ihm unmöglich und sie kann so nicht weiter leben. Aber es hieß auch: Hanna und Michael nutzen jeder den anderen für seine Zwecke aus. Am Ende stehe auf beiden Seiten der Verrat am anderen. Die Beziehung Michaels zu Hanna sei nicht ausgelebt. Dann wurde gefragt: Warum sollte Michael Hanna im Gefängnis besuchen. Sie sei Verführerin und Verbrecherin. Aber auch Michaels Charakter und Verhalten wurden unterschiedlich beurteilt. Er sei in Persönlichkeit und Charakter schwerer fassbar als Hanna. Die Beziehung zu Hanna habe sein ganzes Leben geprägt, und er sei danach zu echter Liebe nicht mehr fähig gewesen. Er empfinde Schuld, weil er sich nie zu Hanna bekannt habe. Allerdings sei ein 15-jähriger nicht reif für eine doppelt so alte Frau. Er konnte danach nicht mehr so lieben wie damals und empfinde das als Unfähigkeit, Schwäche. Er habe Angst vor den Schmerzen neuer Liebe. Michael sei durch Hannas Demütigungen und eigenen Verrat mehrfach verletzt worden und komme von dieser seiner ersten Liebe nicht los. Aber es hieß auch: Für Michael sei Hanna ein Liebesabenteuer ohne innere Bindung gewesen. Er habe sich nie zu ihr bekannt und sich nicht für Hannas Leben interessiert. Michael sei indifferent. Er hätte eher Geld gegeben als Hanna persönlich aktiv zu helfen. Weitere Fragen: Warum fühlt er sich Hanna verpflichtet? Schreibt ihr aber nicht, besucht sie nicht? Hat aber auch keine anderen Beziehungen? Wodurch hat Michael seine Bindungsfähigkeit verloren? War Michael bindungsunfähig veranlagt? War es Michael peinlich, dass seine Freundin so viel älter war? Warum übernimmt er keine Verantwortung? Warum geht ihm sein Gefühl verloren, die Fähigkeit zu empfinden? War sein Verhältnis zu Hanna sexuelles Erlebnis oder Liebe? Warum ist er nicht zu Hannas Beerdigung gegangen? Zu dieser Frage gab es als mögliche Gründe: Sein schlechtes Gewissen und sein Versuch sich von Hanna zu lösen; aber auch: die Unmöglichkeit, sich von ihr zu lösen. Zwei weitere provozierende Fragen lauteten: Geheimnissen wir zu viel in Michael hinein? Hat Schlink die Person Michaels selbst nicht ganz in den Griff bekommen? Hannas Schuld als KZ-Aufseherin. Bei Hanna ging es dann um ihre Schuld durch ihre Tätigkeit im KZ. Dass sie schuldig sei, war unbestritten. Über die Größe der Schuld gab es unterschiedliche Meinungen. Dazu wurde geäußert: Wir wüssten nichts von Hannas Kindheit, Elternhaus, Heim, Ausbildung und ihren Gedanken. Ihr Verhalten sei eine Mischung aus Gehorsam, Pflichterfüllung, Obrigkeitsdenken und Machtgefühl. Sie sei jedoch offenbar fleißig, gewissenhaft, zur Vorarbeiterin geeignet, in ihrem Charakter sehr geradlinig. Nicht immer sei sie verantwortungslos. Hannas Funktion im Lager sei für sie Pflichterfüllung gewesen und ihre Beziehung zu Michael sei ihre Intimsphäre. Dadurch kam es zu der Frage, ob sich Hanna bei der Anwerbung durch die SS überhaupt der Folgen bewusst gewesen sei. Ihr Analphabetismus und die dadurch verursachte Unmündigkeit müssten berücksichtigt werden. Sie habe sich bei Siemens nicht für das Verbrechen sondern gegen die Beförderung entschieden. Andere meinten hingegen: Für Hannas Schuld sprächen ihr letztendlich freiwilliger Wechsel von Siemens zur SS, die von ihr im Lager zu verantwortenden Selektionen, ihre Untätigkeit in der Bombennacht und das Zugeben der Schuld vor Gericht, ohne Einsicht zu zeigen. Es wurde gesagt, Hanna müsse es klar gewesen sein, dass sie einer Organisation diente, die eine Stütze des Staates war. Sie habe willig Befehle ausgeführt, die sie zur Verbrecherin machten. Danach sei sie untergetaucht und habe die Vergangenheit verborgen. Oder einfach: Für mich ist Hanna schuldig. Bei dem Thema "Vorleserinnen im Lager" gingen die Meinungen ebenfalls auseinander. Ein Teil sah es als Versuch, diese Personen so lange wie möglich zu schonen, andere sahen darin das Loswerden von Zeuginnen ihres Analphabetismus. Hannas Bemerkung an den Richter: Was hätten Sie denn gemacht? ist für die einen ein Zeichen von Gleichgültigkeit für die anderen ein Hilfeschrei. Aber es wurde auch gefragt: Warum analysiert ihr das Gefühlsleben von Hanna, warum nicht das der Opfer? Ich verstehe euer Verständnis gegenüber Hanna als Täterin nicht. Das rief den Einwurf hervor: muss Hanna immer nur schuldig sein? Werden wir dem Menschen Hanna gerecht? Was täte ich, wenn Hanna meine Tochter wäre? Denkt an das Pfarrerehepaar Ensslin! Mit Schwarz - Weiß, Gut - Böse allein kommen wir nicht weiter. Wir werden den Menschen nicht gerecht, wenn wir sie nicht in ihrer Vielschichtigkeit sehen. Rechtsprechung. Auch die allgemeine Schwierigkeit der Rechtsprechung wurde diskutiert sowie die Schwierigkeit, in einem solchen Prozess Recht zu sprechen. Was sagen die Zeugen aus dem Dorf, was verschweigen sie? Hannas Analphabetismus wurde anfangs schon erwähnt. Darf der Richter sich um Verstehen bemühen? Dabei ginge es nicht um Entschuldigung sondern um Gewichtung, wobei wir zwischen juristischem und menschlichem Verstehen unterscheiden müssen. Auch philosophische Fragen wurden gestellt: Was ist Wahrheit? Was ist Recht? Was ist ein gerechtes Urteil? Dann wurde darauf hingewiesen, dass es hier um eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gehe und es wurde eingewandt: Mich stört die Toleranz gegenüber Hanna, und: müssen wir uns nicht auf die Seite der Opfer stellen, bis hin zu der Frage: Haben NS-Verbrecher ein Recht auf ein gerechtes Urteil? Aber auch: Ein Urteil soll der Sühne und damit der Versöhnung dienen. Auch für Hanna müsse Verständnis aufgebracht werden; sie sei letztlich auch irgendwie ein Opfer. Schließlich wurde ausgeführt: Die Wahrheit ist uns grundsätzlich verschlossen. Man kann nie die ganze Wahrheit erfahren. Man könne sich ihr nur nähern mit der Wahl verschiedener Blickwinkel und das gelte auch für die Suche nach Gerechtigkeit. Die Protagonisten als Stellvertreter gesellschaftlicher Gruppierungen und ihrer Gedankenwelt. Nun wurde jedoch darauf hingewiesen, dass wir uns von den Personen und Handlungen des Romans lösen müssten. Schlink schreibe keine Story, sondern setze sich mit gesellschaftlichen Strömungen auseinander. Er fokussiere seinen Roman auf die beiden Hauptpersonen. Sein Roman sei als Parabel für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Nachkriegszeit und als Gesellschaftskritik anzusehen. Dazu benutze er Beschreibungen und Handlungen von Personen. Man dürfe nicht von der Persönlichkeits- und Handlungsanalyse ausgehen, sondern von der Gedankenwelt der gesellschaftlichen Gruppen, die hier verkörpert werden sollen. Es hieß weiter, Hanna könne beispielsweise stellvertretend für Teile der Bevölkerung bzw. für das deutsche Volk stehen. Eine Vertreterin der Tätergeneration, Beispiel und Symbol der Deutschen der Nachkriegszeit, der schweigenden Kriegsgeneration, in gewisser Weise behindert. Daraus könne man schließen, wenn man Hanna jegliche Entlastung verweigere, verurteile man ein ganzes Volk. Oder Hanna als Tätertyp. Ein mit Mängeln behafteter Mensch, der plötzlich Macht über andere erhält. Oder: Ein normaler Mensch, bei dem die moralischen Sicherungen durchgebrannt seien. Hanna repräsentiere jedoch auch die Gruppe, die zum Komplizen des Systems wurde, und ohne die das Dritte Reich nicht bis zum Schluss funktioniert hätte. Michael hingegen sei Repräsentant der Gesellschaftsgruppe, die wenig fragt, nur Sündenböcke sieht, die Tragödie der Täter nicht erkennt. Er sei der Vertreter der bildungsbürgerlichen Elite der Nachkriegsgeneration, ratlos der Vergangenheit und Gegenwart gegenüber. Die einen hätten geschwiegen, die anderen nicht eindringlich genug gefragt. Zusätzlich wurde gefragt: Will Schlink durch die Liebesbeziehung zwischen Hanna und Michael ausdrücken, dass bisherige Ordnungen aufgehoben sind? Verdeutliche die Liebesbeziehung die Verstrickung der Nachkriegsgeneration mit der Nazivergangenheit. Stellt Schlink Schuld und Gegenschuld - Hanna und Michael - dar? Schon zu Beginn des Romans lässt Schlink Michael sagen: Oft genug habe ich im Laufe meines Lebens getan wofür ich mich nicht entschieden hatte und nicht getan, wofür ich mich entschieden hatte. Es, was immer es sein mag, handelt. Resümee. Als Ergebnis der Zusammenfassung ist festzuhalten: Das Thema hatte den Untertitel "Ein Roman der unbeantworteten Fragen? Finden wir Antworten?" Wir haben keine Antworten gefunden sondern die Zahl der Fragen vermehrt. Der Roman als solcher hat uns alle gleichermaßen in den Bann gezogen. Die Beurteilung der Personen und ihrer Handlungen war von Anfang an unterschiedlich und ist auch unterschiedlich geblieben. Über die Absichten des Autors konnte nur spekuliert werden. Einer Äußerung eines Teilnehmers dürften wir jedoch alle zustimmen. Diese Vergangenheit belastet uns noch immer. Wir können sie nicht verdrängen, wir müssen sie wach halten. Seitenanfang Druckversion (pdf) |