Religion in agnostischer Zeit

Bearbeitungszeit 03.01.2005 bis 13.02.2005
Moderator Werner Toporski


 
Kurzreferat

Vorbemerkung: Es geht bei diesem Thema nicht um persönliche Bekenntnisse, sondern um die Bedeutung von Religion für den Menschen allgemein, wenn man so will also um eine Art Anthropologie der Religion.

"Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden,
als unsere Schulweisheit sich träumen lässt."
                                        (Shakespeare, "Hamlet")

Nur was wir wahrnehmen können, existiert, sagt unser Verstand. Doch gibt es keine Kultur, die nicht in Geschichte oder Gegenwart einen Bezug zum Nicht-Wahrnehmbaren, Metaphysischen gesucht hätte. In der Regel hatte die Religion sogar staatstragende Funktion. Noch heute kann sie dominieren (Islam) oder als Gründung der Verfassung dienen (Deutschland, USA). Laizistische Staaten verweigern ihr zwar eine Rolle im Staat, lassen sie aber gewähren. (Frankreich, Türkei). Die Versuche des Kommunismus, Religion abzuschaffen, hatten sehr unterschiedlichen Erfolg (in Polen kaum, in der DDR durchaus).

1. Die Unumgänglichkeit zu glauben
Unser Verstand sucht nach Ursachen. Je besser wir unsere Umwelt verstehen, desto sicherer können wir darin überleben. Diese Ursachensuche beschränkt sich aber nicht auf das Lebenswichtige, sie ist uns Menschen ein generelles Bestreben. Und so gelangen wir zu den Fragen: Woher komme ich? Woher kommt die Welt? Und was ist Schicksal: Zufall oder höherer Wille?
Trotz des enormen Wissens über uns und die Welt können wir auch heute die letzten Rätsel nicht lösen. Stets landet unser Fragen bei der "prima causa" (erste Ursache, Entstehung der Welt), und die entzieht sich unserem Zugriff. Der Theist nennt das, was die Welt in Gang setzte und betreibt, "Gott", während der Atheist glaubt, dass es auch ohne Gott ginge. Beide wissen nicht, sondern glauben. Der Agnostiker bekennt sich zu seinem Nichtwissen, löst aber damit auch nicht das Problem.

2. Die Schwierigkeit zu glauben
Einst waren die Erde das Zentrum der Schöpfung und der Mensch ihre Krone. Gott hatte die Welt geschaffen, und war sie überschaubar genug, dass er auch die Rolle des "Vaters" spielen konnte, dem jeder Einzelne sich anvertrauen konnte.
Dann haben Kopernikus und Galilei die Erde zur Nebensache und Darwin uns Menschen zum Ergebnis der Evolution gemacht. Damit aber rückt Gott in eine Ferne, die es uns schwer macht zu glauben, ihm sei es auf den Materieklumpen Erde und das Lebewesen Mensch besonders angekommen. Die Welt wuchs ins Ungeheure und die Rolle des Menschen darin wurde immer marginaler. Wie passt Gott noch in dieses Bild? Welche Rolle spielt er darin? Der Zünder des Urknalls, und das war's? Vielleicht noch unter Zufügung einiger Naturgesetze und -konstanten?
Und was wird aus seiner Rolle als mein "Schutz und Schirm", als Vertrauter, an den ich mich im Gebet wenden kann? Kann Gott so groß sein, dass er mich Winzling auf der winzigen Erde, verloren im Gefüge von Abermilliarden Galaxien mit jeweils Abermilliarden Sternen, noch persönlich kennt? "Bei meinem Namen gerufen hat"?

3. Das Bedürfnis zu glauben
Aber da ist diese merkwürdige Diskrepanz: Die Kirchen sind leer, aber Spiritualismus und Esoterik-Markt haben Hochkonjunktur. Wir seien "unheilbar religiös", hat einer gesagt und damit gemeint, wir könnten gar nicht anders. Etwas treibt uns um: das Geheimnis von Leben und Tod, das Unbegreifliche des Schicksals, die Sehnsucht nach einer höheren Geborgenheit.
Anscheinend ist Religion ein Grundbedürfnis des Menschen. Sie gibt uns einen Ort in der Welt und verbindet unsere kleine Individualität mit der Größe des Universums. Und sie vermittelt einen Trost, den Menschen uns nicht bieten können. (Fehlt dieser Trost, weil die Menschen nicht glauben, steigt die Suizidrate.)

4. Ursachen dieses Bedürfnisses
Wenn uns aber dieses Bedürfnis angeboren ist (wofür seine weltweite Verbreitung spricht), dann aber warum? Welchen evolutionären Vorteil könnte der Mensch aus seinem Drang nach einer religiösen Bindung ziehen?
Hier wird es schwierig, weil die Ursprünge in vorgeschichtlichem Dunkel liegen. Mir scheint vor allem eine Linie interessant: In vielen (allen?) einfachen Kulturen spielen Beschwörungen und rituelle Tänze eine wichtige Rolle. Sie scheinen mir eine Kraftquelle: Der Einzelne schöpft daraus Selbstvertrauen und Mut, und die Gruppe verschweißt sich zu gemeinsamer Stärke!
Evolutionär betrachtet konnte also der frühe Mensch aus dem Ritus eine Kraft beziehen, über die kein Tier verfügte. Danach wäre die Begabung zur Religion für den Menschen kaum weniger wichtig als sein Verstand.
Eine zweite Linie hat keine evolutionäre, aber eine interessante philosophische Bedeutung. Indem der Mensch sich in Gott hineindenkt, gewinnt er eine Art "Archimedischen Punkt", von dem er sich gleichsam von außen betrachten kann. Durch Gottes Auge blickend erkennt er sich selbst.
Doch wie ist das in den östlichen Bundesländern, wo die religiöse Bindung unter der kommunistischen Herrschaft ja wirklich weitgehend zerstört worden ist? Gibt es dort auch jene Esoterikwelle? Irgendetwas anderes? Oder tatsächlich gar nichts?

5. Religion und Gesellschaft
Von den Ursprüngen zurück zum Hier und Heute. Die Bedeutung der Religionen hat bei uns abgenommen. Das kann man begrüßen, weil die Kirchen in der Geschichte so manches angerichtet haben. Man darf aber auch nicht übersehen, dass sie ein Band gemeinsamer Werte und Überzeugungen um die Gesellschaft geschlungen hatten. Dieses Band ist schwächer geworden, und an die Stelle der Religion ist keine Institution getreten, die uns Grundvorstellungen vermittelt. Wie wirkt sich das künftig aus?

Fragen, die wir uns stellen können
  1. Sind wir wirklich "unheilbar religiös", d. h. haben wir ein "metaphysisches Bedürfnis?"
  2. Welche Bedeutung hat Religion heute? Bietet sie uns noch Orientierung?
  3. Westen versus Islam: ein Kampf philosophischer gegen religiöse Werte?
  4. Wie wichtig (oder nicht) ist das Vaterbild Gottes? Brauchen wir es, um uns in der Welt geborgen zu fühlen?
  5. Wie erklären wir die Welt? Reibungspunkte zwischen Wissen und Glauben.



 
Zusammenfassung der Diskussion

Planck: "Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum
Erkennen. Die Religion aber braucht er zum Handeln".


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1. Begriffe
  • Glaube ist individuelle Überzeugung
  • Religion verbindet die Menschen einer Glaubensrichtung
  • Kirche ist eine religiöse Organisation (nicht bei allen Religionen).

  • 2. Warum glaubt der Mensch?
    "Glauben und Wissen sind kein Widerspruch, sondern wie Geschwister, die uns beide etwas zu sagen haben".
    Der Mensch will wissen und mag Wissenslücken nicht hinnehmen. Auch heute, wo wir an rationales Erkennen gewöhnt sind, gibt es Dinge, die sich der Erkenntnis verweigern: die Fragen nach dem Ursprung der Welt oder dem Sinn von Leben und Schicksal. Wo der Mensch nicht weiß, setzt sein Glaube ein, denn mit Gott (hier für alle Gottesbegriffe) lässt sich die Welt leichter erklären. Obendrein kann man sich ihm als einer höheren Macht anvertrauen und versuchen, ihn durch Gebete und Opfer für sich zu gewinnen. Nicht in allen Religionen gibt es einen persönlichen Gott, stets jedoch ein "überirdisches", dem Verstand nicht fassbares Ordnungsprinzip.

    3. Aberglaube
    Ohne eine solche Bindung scheint der Mensch nicht auszukommen. Wenn er sich nicht an Gott bindet, entwickelt er häufig andere übersinnliche Vorstellungen, wie sie sich heute in Esoterik, Astrologie, magischen Steinen u. ä. ausdrücken. Vor allem bei unsicheren Lebensumständen wächst diese Bereitschaft. Der damit verbundene Irrationalismus ist nicht ungefährlich ("Hexenverbrennungen").

    4. Die Entwicklung der Religion
    Einstein formuliert drei Stufen der Religionsentwicklung:
    1. die Furchtreligion ursprünglicher Kulturen
    2. die Moralreligion als Überzeugungs- und Gesetzesband immer größer werdender Gesellschaften
    3. eine "kosmische" Religiosität, in der sich der Mensch als Teil des Kosmos begreift (ohne Gottesbegriff).
    Ist Gott eine "Erfindung" des Menschen zur Abschreckung potentieller Übeltäter (Kritias, 460-403 v. Chr.) oder gar zur Belohnung islamistischer Märtyrer? Wohl kaum. Selbst, wenn man Gott als Konstrukt begreift, war er ungeheuer fruchtbar. Er war zu allen Zeiten die große Herausforderung des Menschen. Mit ihm haben sie nachgedacht über Schuld und Unschuld, Ethik und Moral, Gnade und Verdammnis, Feindesliebe kontra Auge um Auge. Sie haben versucht, seinen Willen zu ergründen und dem Leben einen Sinn zu geben.

    5. Religion und Kultur
    Eine Kulturgeschichte ohne Religion ist nicht denkbar. Noch heute üben die vielfältigen Ergebnisse der gegenseitigen Befruchtung eine hohe Faszination auf Gläubige und Ungläubige aus, ob sie nun Musik, Malerei oder Architektur betreffen. Warum wir so empfindsam mit einem Gefühl der "Erhabenheit" reagieren, muss offen bleiben, doch weist die Intensität der Gefühle auf eine evolutionäre Bedeutung hin.
    Gegenüber Philosophie und Wissenschaft ist die Rolle der Kirche ambivalent. Während sie über lange Zeiträume Erkenntnis behindert hat, war sie in der Ethik eine wichtige Quelle und hat unser Wertsystem mitgeprägt. Gott ist auch eine Metapher für die moralische Instanz, vor der sich der Mensch verantworten muss.
    Areligiöse Kulturen nehmen häufig Ideologien als Ersatz. In der DDR wurde Religion durchaus toleriert (Ausnahme SED-Mitglieder). Auch behinderte ein christliches Bekenntnis keineswegs immer eine Karriere (Merkel, Stolpe). Allerdings führte eine offensive atheistische Propaganda doch in der Bevölkerung zu einem weitgehenden Abrücken von religiösen Vorstellungen.

    6. Missbrauch und Fundamentalismus
    Religion war immer mit Macht verknüpft: Schon der Schamane hatte Einfluss, und je größer die Religionsgemeinschaften, desto größer auch die Versuchung der Priester, ihre Macht weltlich einzusetzen. Im "Abendland" bietet die katholische Kirche dafür eine Fülle von Beispielen (Kreuzzüge, "Reconquista", Inquisition, Gottesgnadentum usw.). Doch auch ohne Organisation üben Priester Macht aus ("Mullahs" etc.).
    Dem Machtanspruch von oben kommt fanatische Glaubensbereitschaft von unten entgegen. Da gilt nur die eigene Wahrheit: Naturkatastrophen werden zu Strafen Gottes, Gegner zu Teufeln und Darwins Lehre zu Ketzerei. Fundamentalismus ist also weniger von oben gesteuert als breites Bedürfnis. Er ist eine Wut aus Ohnmacht, in der man dann z.B. die eigene Bedrängnis einem "Teufel" anlastet (Islam - USA). Stets ist er irrational, ja er bekämpft rationales Wissen geradezu, wie sich im Kampf der Evangelikalen in den USA gegen den Urknall nicht weniger zeigt als in dem der Islamisten gegen den Geist der Aufklärung.

    7. Religion als Lebenshilfe
    Unser Leben ist endlich, und der Tod macht uns Angst. Kommen gläubige Menschen damit besser zurecht? Es scheint, dass sie Leid eher zu tragen bereit sind, indem sie ihr Schicksal als gottgewollt ansehen (Hiob) und ihm so einen Sinn geben. Glaube ist Hoffnung, vielleicht sogar auf ein Leben nach dem Tode.
    Generell ist die Sinnstiftung wohl eine der wichtigsten Funktionen der Religion. Doch selbstverständlich ist Atheisten Lebenssinn nicht verwehrt, denn auch die Einbindung in nichtreligiöse Wertvorstellungen und ein entsprechendes Handeln kann den Menschen tief befriedigen ("gläubige Atheisten").
    Gerade in unserer individualistischen Zeit, die uns vereinsamen lässt, kann wichtige Lebenshilfe auch aus der Gemeinde kommen, ob nun als Beistand in Not oder als Geborgenheit in Riten und Strukturen. Die Konstanz der Riten (kath. Kirche) scheint einem Bedürfnis nach Vertrautem entgegenzukommen. Die Kehrseite der Gemeinde allerdings ist der Konformitätszwang, der bis zur Abstrafung von Ketzern reichen kann.

    8. Die Vermittlung von Religion hier und heute
    Die Menschen suchen Geborgenheit und Wärme, doch gerade an denen mangelt es. Kirchen sind himmelstrebend, festlich oder nüchtern (Gotik - Barock - Moderne), einladend sind sie jedenfalls nicht. Sie bergen den Menschen nicht, und so wird in ihnen die Erhabenheit Gottes zur Gottesferne. Die Kirchen werden neue Wege gehen müssen, um die Menschen wieder zu erreichen.