Wie sollte eine "gute" Gesellschaft aussehen?

Bearbeitungszeit 14.02.2005 bis 20.03.2005
Moderator Alexander Andreeff


 
Kurzreferat

Eine "gute Gesellschaft" im kommunitaristischen Sinne ist eine Gesellschaft, in der Gegensätzlichkeiten wohlabgewogen ausgeglichen werden.

1. Angelpunkt für eine gute Gesellschaft ist das Verhältnis von Moral und Recht. Sie stützt sich vor allem auf Gesetze mit moralischer Rückendeckung. Entscheidend für die Akzeptanz gesetzlicher Bestimmungen ist die Übereinstimmung mit den moralischen Prämissen der Gesellschaft. Deshalb dürfen gesetzliche Bestimmungen nicht bloß Ausdruck ökonomischer Erwägungen sein, sondern müssen Werte einer Gemeinschaft widerspiegeln.
2. Freiheit und Ordnung bilden eine dialektische Einheit. Freiheit ohne ein gewisses Maß an Ordnung ist Anarchie. Freiheit oder Autonomie - wie es auch bezeichnet wird - und Ordnung bilden eine Symbiose, wie Regenpfeifer und Krokodil. In einer "guten" Gesellschaft stellt sich ein Gleichgewicht ein. An dieser Schnittstelle unterscheiden sich die Biographien der Menschen in Ost und West. In den Ländern Osteuropas wurde die soziale "Ordnung" als wichtigstes Ziel vertreten. In Westeuropa dagegen war das Streben nach Freiheit Grundprinzip der Wertorientierung. Beides scheint sich zu widersprechen. Aber nur scheinbar. Ohne "soziale" Sicherheit kann ich mein Recht auf Freiheit nicht verwirklichen. Andererseits darf das Streben nach sozialer Sicherheit nicht die Autonomie einschränken. Es ist also ein ausgewogenes Verhältnis anzustreben. Ohne dieses werden beide - Autonomie und Ordnung - unterminiert. Die Demokratie versucht einen "vernünftigen" Ausgleich von Freiheit und Ordnung zu erreichen.

Für die Gesetzgebung einer Gesellschaft ist die Position zur menschlichen Veranlagung bedeutsam. Wem stimmt man zu?
  • Rousseau: Die menschliche Natur ist von Geburt gutartig --> Liberalismus.
  • Augustinus: Der Mensch ist von Natur aus schlecht --> starker Staat.
  • Aristoteles: Der Mensch ist von Natur aus sowohl gut als auch schlecht (Dialektik).  
        Gesellschaftliche Umstände begünstigen das Eine oder das Andere.
  • Im Grunde waren die sozialistischen Staaten Anhänger des hl. Augustinus.
    Mir scheint, Deutschlands Politiker sind gegenwärtig Anhänger von Rousseau.

    Voraussetzungen für ein ausgewogenes Verhältnis sind:
  • Die moralischen Werte müssen verinnerlicht werden. Eine Bekräftigung reicht nicht aus.
        Dabei spielt die Religion eine wichtige Rolle.
  • Es müssen soziale Geflechte entwickelt werden, die diese Werte fundieren.
  • Der antagonistische Widerspruch zwischen umfassender Ordnung und umfassender
        Autonomie(Freiheit) muss reduziert werden.
  • Grundsätzlich gilt: Das Ich kann nicht ohne das Wir existieren.
     
    Die "Verinnerlichung" moralischer Werte erfolgt zwar das ganze Leben, aber die Kindheit ist prägend. Später erfolgt diese Verinnerlichung im Rahmen enger Beziehungen in einer Gruppe. In den osteuropäischen Ländern sollte dies mit Hilfe des "Kollektivs" geschehen. Dabei wurde auch versucht, moralische Werte zu entwickeln, die nicht im Konsens mit dem Menschen entstanden, z.B. die "führende Rolle der Arbeiterklasse".

    Im Mittelpunkt einer "Guten Gesellschaft" steht der Mensch. Freiheit & Ordnung, Moral & Gesetz sind die Blütenblätter. Die Wirtschaft ist der Stamm, der diese Blume erblühen lässt und nur dies ist die Aufgabe der Wirtschaft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

    Die EU - eine "gute" Gesellschaft?
    Die substanziellen Grundwerte bilden den Rahmen für eine Gemeinschaft, also auch der Gemeinschaft "Europa". Sie sind aber keinesfalls starr und unbeweglich. Sie sind eine historische Kategorie und müssen ständig den realen Gegebenheiten angepasst werden und werden auch angepasst.

    Solche Grundwerte sind:
    • Demokratie: Allerdings nicht als Mechanismus, etwa wie ein Vertrag. Verträge können gebrochen werden, wenn die Interessen mächtiger Gruppen in Konflikt geraten. Sie darf nicht zum Instrument degradiert werden. Die normative Bindung an die Demokratie ist Bestandteil des Grundgerüstes einer Gesellschaft der Gemeinschaften.
    • Verfassung: Sie muss Leitlinien für die Beziehungen der Gemeinschaften, aus denen die Gesellschaft besteht, sowohl untereinander als auch zur Gesellschaft als Ganzes enthalten. Die Verfassung zieht die Grenze zwischen den Entscheidungen, die von den einzelnen Gemeinschaften getroffen werden dürfen und denen, die von der Gesamtgesellschaft getroffen werden müssen (förderatives Prinzip). So gibt es auch Entscheidungen, die keine Mehrheitsentscheidungen sein dürfen. Z.B. Entzug des Wahlrechtes oder das Recht auf freie Meinungsäußerung.
    • Loyalität: Eine europäische Gesellschaft funktioniert nur, wenn sich jeder sowohl als Mitglied des Ganzen als auch des Teils fühlt. "Ich bin Europäer deutscher Nation aus Dresden in Sachsen." Es muss sich so eine abgestufte Verpflichtung entwickeln.
    • Achtung: Ein solches Europa hat nur Bestand, wenn die Mitglieder der einzelnen Nationen sich ihrer Kultur, Tradition und Werte bewusst sind und sie hochhalten. Das setzt aber auch die Achtung vor der Kultur, den Traditionen und Wertvorstellungen der Anderen voraus. Sich widersprechende Wertvorstellungen führen zu einem Verfall der Gemeinschaft. Dabei geht es um die grundlegenden humanistischen Wertvorstellungen und nicht um untergeordnete (z.B. Verbot des Essens von Schweinefleisch).
    Primat in einer guten Gesellschaft hat immer der Mensch. Alle Maßnahmen sind danach zu werten, ob sie dem Menschen im Allgemeinen nützen.

    Eine weitere interessante Frage für eine gute Gesellschaft ist, wie verhält sich Recht und Gerechtigkeit zu einander. Recht ist nicht gleich Gerechtigkeit.

    Liiteraturhinweis:
    Jonas, Hans; Das Prinzip Verantwortung; Suhrkamp 2003; ISBN 3-518-39992-6


     
    Zusammenfassung der Diskussion

    Zu diesem Thema gab es 9 Beiträge von 5 Teilnehmern im Forum und 5 Chats.

    Grundüberzeugung bei allen Beteiligten war, dass der Mensch ganz wesentlich von seiner Umwelt geformt und beeinflusst wird, wobei das "Gute" in ihm überwiegt. Bedeutungsvoll sind dabei Vorbilder in der Gesellschaft. Gegenwärtig scheinen diese Vorbilder in unserer Gesellschaft aber in den Individualismen, nicht Nachmachbarem zu verschwinden.

    Ein wichtiger Punkt in allen Diskussionen war die Gerechtigkeit. Dabei wurde sehr häufig die Gerechtigkeit "zerkleinert" z.B. Steuergerechtigkeit, Besitzgerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit usw. Dass Gerechtigkeit ein "moralisches" Recht ist, wurde angedeutet. Sehr viel wurde über die objektive und/oder subjektive Gerechtigkeit diskutiert. Heute ist Gerechtigkeit ein Grundanliegen der menschlichen Gesellschaft. Sie ist für das friedliche Zusammenleben einer Gemeinschaft von außerordentlicher Bedeutung. Nur ein Teil dieser Gerechtigkeit ist in schriftlich fixierten Rechten für alle verbindlich geregelt und Verletzungen werden strafrechtlich verfolgt. Diese in Gesetzen fixierten Rechte sind für das Zusammenleben in einer "guten" Gesellschaft aber durchaus notwendig, da Gerechtigkeit in den Augen des einzelnen Individuums meistens subjektiv beurteilt wird. Ein Teilnehmer versuchte diese Schwierigkeit bei der objektiven Wahrnehmung der Gerechtigkeit durch den Satz: "Gerecht ist..., wer von dem für das Wohlergehen Wichtigen nicht mehr für sich beansprucht als ihm zusteht ..." zu definieren.

    Übereinstimmung gab es zu der Relation von Freiheit und Ordnung. Man kann sie mit folgenden Worten zusammenfassen. So viel Freiheit wie möglich - so viel Ordnung wie nötig. Dieses von den Kommunitaristen vertretene Prinzip - z.B. Amitai Etzioni "Verantwortungsgesellschaft", Martin Luther King oder Rosa Luxemburg, um nur einige zu nennen - wird von allen unterstützt. Grundgedanke ist, dass weder die menschliche Existenz als Ganzes noch die individuelle Freiheit langfristig außerhalb der von einander abhängigen und einander überlappenden Gemeinschaften bestehen kann.
    Ordnungsregeln sind im Verlauf eines historischen Prozesses entstanden und verändert worden. Sie sind eine Übereinkunft zur Sicherung der wechselseitigen Freiheiten.
    Das setzt aber Macht voraus, um diese Regeln durchzusetzen.

    Aus dieser Machtnotwendigkeit für eine "gute" Gesellschaft entsteht aber in der "globalisierten" Welt ein Problem. Es fehlen global wirkende Machtstrukturen. Wie schwierig dies ist, wird in dem Versuch deutlich, ein vereinigtes Europa zu schaffen.

    Konsens bestand darin, dass die Menschen in einer "guten" Gesellschaft sich gegenseitig als Selbstzweck und nicht als Instrumente verstehen. Die Menschen in einer Gemeinschaft werden durch Bindungen aus Zuneigung und Verantwortung zusammengehalten. Sie bilden einen einheitlichen Organismus - die Gemeinschaft - und sind nicht nur Fragmente dieser Gemeinschaft , wie Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Konsument oder Händler und schon garnicht "Mitbürger".
    Eine "gute" Gesellschaft hält drei, miteinander teilweise oft unvereinbare Elemente, im Gleichgewicht: Staat, Markt und Gemeinschaft. Eine "gute" Gesellschaft versucht nicht diese Teilbereiche zu beseitigen, sondern sie angemessen zu stärken - sie aber auch zu zügeln, zu begrenzen. Das setzt ein sehr hohes Gemeinschaftsgefühl bei den einzelnen Individuen der Gesellschaft voraus.
    Ausgangspunkt aller Maßnahmen in einer "guten" Gesellschaft ist der Mensch. Markt, Staat und Gemeinschaft haben ihm zu dienen.