Über den Sinn des Lebens

Bearbeitungszeit 02.05.2005 bis 12.06.2005
Moderator Volkmar Gimpel


 
Kurzreferat

Im November 2004 fand an der Universität Leipzig im Rahmen der Sonntagsgespräche eine Diskussionsveranstaltung zum Thema "Der Sinn des Lebens" statt. Zu Beginn legten der Pfarrer der Leipziger Thomaskirche Christian Wolff und die Philosophin Ulla Wessels ihre Sicht zu dieser uralten Frage dar. Die Moderation der Diskussion hatte der Philosophieprofessor Georg Meggle. Die Referate von Wolff und Wessels stehen als pdf-Dateien in der Website, ebenso die Antrittsvorlesung von Meggle aus dem Jahre 1994 unter dem Titel "Das Leben eine Reise". Ich will diese Texte nicht kommentieren, sondern versuchen, eigene Gedanken an den Anfang unserer Diskussion zu stellen. Es wird aber gut sein, sie zu lesen.

1. Der Sinn des Lebens im Allgemeinen
Der Begriff "Leben" kann naturwissenschaftlich, philosophisch, ethisch, theologisch zu definieren versucht werden. Ganz allgemein ist Leben die Daseinsform aller Organismen, vom Einzeller bis zu hochkomplexen Systemen wie dem Menschen. Sie besteht aus bestimmten chemischen Elementen und deren Verbindungen, ist an physikalische Bedingungen wie Temperatur, Druck, elektrische Entladungen, Strahlungen gebunden und in ihnen werden biologische Prozesse realisiert (Stoffwechsel, Zellteilung, Vererbung u.a.). Die Suche nach extraterrestrischem Leben soll die Frage klären helfen, wie Leben auf der Erde entstanden ist.
Die lebenden Organismen verfügen jedoch über Eigenschaften, die sich der naturwissenschaftlichen Begründung entziehen und die um so deutlicher sichtbar werden, je höher die Organisationsform ist. Dazu gehört vor allem das, was als Psyche bezeichnet wird. Doch die Erklärung, was Leben ist, beantwortet nicht die Frage nach dessen Sinn.
Für gläubige Menschen ist das Leben ein Geschenk Gottes, beschrieben in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments. Und dieses Geschenk ist sinnhaft in sich. Am sechsten Tag zieht Gott die Bilanz seiner Schöpfung.
Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. (1. Mose 01,31)
Was Gott geschaffen hat, ist gut, hat also Sinn.
Für Agnostiker und Atheisten ist Leben Ergebnis der Evolution, die aus der Unendlichkeit kommt und in die Unendlichkeit führt, ohne Anfang und ohne Ende.
Was soll also die Frage nach dem Sinn des Lebens so allgemein? Es werden Wenige sein, Gläubige und Ungläubige, die sich damit beschäftigt haben. Und mancher von denen hat über dem Grübeln und der Suche nach einer Antwort den Verstand verloren.

2. Der Sinn menschlichen Lebens
Wie entstand menschliches Leben? Warum und seit wann gibt es Menschen? Was unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen?
Nach der Schöpfungsgeschichte schuf Gott den Menschen. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. (1. Mose 01,27)
Nach Aristoteles' Naturphilosophie und Darwins Evolutionstheorie ist der Mensch die höchste Stufe in der Entwicklung der Arten. Diese Stufenfolge enthält die Erkenntnis, dass in der abgestuften Ähnlichkeit der mehr oder minder kompliziert gebauten Lebewesen ein innerer Zusammenhang zum Ausdruck kommt. Wir wissen, dass das Genom des Menschen sich nur in wenigen Sequenzen von den Genomen anderer Lebewesen unterscheidet. Und dennoch ist er das einzige Lebewesen, das in der Lage ist, über die Welt und seine Stellung darin nachzudenken.
Wir wissen auch, dass sich der homo sapiens von Afrika aus über die ganze Erde verbreitete und inzwischen 6 Milliarden auf dem ganzen Planeten existieren, während andere Hominiden ausstarben. Uns treibt die Frage um, woher diese unglaubliche Anpassungsfähigkeit kommt. Wir zweifeln auch daran, dass die Erde der einzige Ort in der unendlichen Weite des Kosmos sein soll, in dem hochentwickelte Wesen mit ständig wachsenden Fähigkeiten leben. Bis heute ist weder der Beweis, dass es an anderer Stelle dem Menschen vergleichbare Lebewesen gibt noch der des Gegenteils auch nur in Ansätzen erkennbar.
Müssen wir uns damit abfinden, dass es eben so ist wie es ist und die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens entweder mit dem Glauben an einen übergeordneten Willen beantwortet werden muss oder mit dem Eingeständnis, dass sie nicht zu beantworten ist?
Die besondere Stellung des Menschen unter den Lebewesen und seine Auseinandersetzung mit sich selbst führte zur Entwicklung ethischer Regeln. Es war durchaus nicht so, dass der Schutz des Lebens von Anfang an oberste Priorität hatte. Die Entwicklung aus dem Tierreich ging einher mit den Gewohnheiten von Tieren: Feinde wurden getötet, um sich vor ihnen zu schützen. Das Alte Testament ist voll von Geschichten darüber und auch die antike Geschichte ist reich an Beispielen davon. Inquisition, Kreuzzüge und Todesstrafe bis heute stehen im Widerspruch zur Anerkennung des Lebens als göttliches Geschenk. Die Kriege über Jahrhunderte mit Millionen von Toten provozieren die Frage, ob die Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens für alle gilt oder ob darüber nach gut und böse unterschieden wird. Daran hat sicher auch Schiller gedacht, wenn er klagt:
     Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, verderblich ist des Tigers Zahn.
     Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.
Mit dem Sinn des Lebens haben auch die Fragen zu tun, wann menschliches Leben beginnt - mit der Zeugung oder mit der Geburt, was nach dem Tod kommt - ewiges Leben, Wiedergeburt oder das Nichts, was humanes Sterben ist, ob Behinderungen ein Leben sinnlos machen und anderes.
Zum Sinn menschlichen Lebens kann Vieles gehören, was im Verlaufe der Entwicklung typisch Menschliches geworden ist. Von Nietzsche stammt dieser Satz:
     Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.
Er will damit sagen, dass ohne das Schöne im Leben dieses seinen Sinn verliert.

3. Der Sinn meines Lebens
Mit "meinem Leben" ist nicht das des Volkmar Gimpel gemeint, sondern das jeden Einzelnen.
Sicher hat sich jede/jeder von uns schon die Frage gestellt, ob sie oder er ein sinnvolles Leben führte und führt. Gerade im fortgeschrittenen Alter ist der Rückblick auf die zurückliegenden Jahrzehnte damit verbunden. Wie haben wir unsere Zeit genutzt? Was haben wir unseren Kindern mitgegeben? War unsere Lebensleistung nützlich nicht nur für uns, sondern auch für die menschliche Gemeinschaft? Wo haben wir geirrt und wie sind wir mit unseren Irrtümern umgegangen? Es gibt viele weitere Fragen dieser Art und unsere eigenen Antworten darauf werden nicht immer mit denen übereinstimmen, die Beobachter von außen finden.
Hierher gehört auch die Frage, ob dem Leben eines Gewaltverbrechers, eines Mörders oder Massenmörders ein Sinn zugesprochen werden kann. Da wird mancher ratlos sein.
Und Selbstmörder? Das sind zweifellos Menschen, die zu dem Ergebnis gekommen sind, dass ihr Leben seinen Sinn verloren hat.
Ich möchte an den Schluss meiner Betrachtungen aber die optimistische Perspektive stellen, dass jeder Mensch in der Lage ist, ein sinnvolles Leben zu führen. Dabei können sich alle gegenseitig helfen.
Der große Spötter Erich Kästner sagte in Anlehnung an das carpe diem! von Horaz:
     Denkt an das 5. Gebot, schlagt eure Zeit nicht tot!


 
Zusammenfassung der Diskussion

Zu diesem Thema gab es 15 Beiträge im Diskussionsforum von 6 Teilnehmern und 6 Chats.
Vorrangig wurde darüber nachgedacht, was den Sinn des eigenen Lebens ausmacht. Antworten darauf sind leichter zu finden als auf die Frage nach dem Sinn des Lebens im Allgemeinen, sowohl des menschlichen Lebens als auch der Existenzform organischer Strukturen im weitesten Sinne.
Aus der Fülle der diskutierten Probleme möchte ich einige zusammenfassen, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben oder gar eine schlüssige und allgemeingültige Antwort darauf zu geben, was der Sinn des Lebens ist. Das war auch nicht das Ziel dieses Themas.

Wann wird die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt?
Die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens ist weniger ein Thema in jungen Jahren, sondern eher im fortgeschrittenen Alter. Aber auch das tut nicht jeder. Oft bedarf es eines Anlasses, sich ernsthaft Gedanken über sein Leben und dessen Sinn zu machen.
Ein Teilnehmer berichtete, dass er sich bei einer schweren Erkrankung der Endlichkeit seines Lebens bewusst wurde und nach erfolgreicher Therapie feststellen konnte, noch einmal davon gekommen zu sein. Er dachte darüber nach, wie sein Leben bisher verlaufen ist, ob es gut war und was vielleicht falsch gelaufen ist. Ein wichtiges Ergebnis ist die Freude an den Kindern und Enkelkindern in dem Bewusstsein, dass ein Stück von ihm und seiner Frau in diesen weiterleben wird. Da niemand weiß, wann für ihn das Ende kommt, möchte er die verbleibenden Jahre in Ruhe und Gelassenheit erleben und auch genießen.
Viele bemühen sich, ein nützliches Leben entsprechend den ethischen Normen unserer Gesellschaft zu führen, ohne den Sinn bewusst zu hinterfragen. Den meisten gelingt das auch. Dabei spielt die Erziehung der Kinder und die Weitergabe eigener Wertvorstellungen eine besondere Rolle. In diesem Zusammenhang wurden auch die Erhaltung der Art und die Erhaltung der Lebensmöglichkeiten auf der Erde als Sinn des Lebens erwähnt.

Sinn des Lebens als Gemeinsinn
Der Mensch lebt nicht allein, sondern in der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Das beginnt mit der Familie und geht bis zu großen Gruppen wie einem Volk oder der Menschheit in ihrer Gesamtheit. Im Chat wurde ein Zitat genannt: "Sinn ist zuallererst eine soziale Größe." In der Diskussion wurden eine Reihe von Beispielen genannt, wie dieser Gemeinsinn realisiert wird. Das kann die Hilfe für Nachbarn und Freunde sein, die Mitarbeit in gemeinnützigen Vereinen, die Organisierung von Initiativen auf verschiedenen Gebieten sowohl mit Älteren als auch mit Kindern und Jugendlichen. Ein Teilnehmer des Virtuellen Kollegs engagiert sich in seiner Gemeinde für Burkina Faso. Die Frage nach dem Warum beantwortet er damit, dass er zufrieden ist, anderen helfen zu können.
Diese Tätigkeiten sind vor allem ehrenamtlich, wobei Lob natürlich als angenehm empfunden wird, aber nicht Voraussetzung ist.

Zufriedenheit und Egoismus
Mit dem Gemeinsinn im Zusammenhang diskutierten wir über Altruismus - Zufriedenheit - Egoismus. Es besteht Übereinstimmung, dass Zufriedenheit wichtiges Kriterium für ein sinnvolles Leben ist. Aber es ist ein Unterschied, ob es sich um die Zufriedenheit handelt, Nützliches für die Gemeinschaft geleistet zu haben oder ob jemand damit zufrieden ist, für sich selbst ohne Rücksicht auf andere viel erreicht zu haben. Dann handelt derjenige egoistisch.
Die Bereitschaft vieler Menschen, mehr zu tun als für sich selbst, ist Voraussetzung für die humane Existenz der Gesellschaft insgesamt.

Lebenssinn und Gefühle
Nach übereinstimmender Auffassung sind die durch die Sinne vermittelten Gefühle wichtig für den Sinn des Lebens. Dazu wurde die Rolle der Musik als Beispiel für das Schöne im Leben diskutiert. Ohne das Schöne - ob als Musik, bildende Kunst, ein Gedicht, die Schönheit der Natur oder eines geliebten Menschen - wäre das Leben arm. Deshalb ist es wichtig, durch das Öffnen der Sinne die Gefühle für das Schöne zu entwickeln. Aber auch Schmerz und Trauer gehören zum menschlichen Leben.
In diesem Zusammenhang wurde darauf verwiesen, dass schon in sehr frühen Kulturen oft religiös geprägte Riten sich der Musik und des Tanzes bedienten.

Der Sinn des Lebens von Verbrechern
Kann das Leben eines Gewaltverbrechers, eines Massenmörders, eines Kriegsverbrechers sinnvoll sein? Bei der Diskussion dieser Frage wurde deutlich, dass es einen Unterschied in der Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens durch einen Menschen selbst und durch andere, durch die Öffentlichkeit gibt. Als extremes Beispiel wurde hier Hitler genannt. Er war sicher davon überzeugt, ein sinnvolles Leben zu führen, zumal er lange Zeit Unterstützung bei großen Teilen des deutschen Volkes fand. Das Urteil der Opfer seiner Politik fiel völlig anders aus und wurde allgemeine Erkenntnis, je mehr der ganze Umfang der Verbrechen nach 1945 bekannt wurde. Wenn es auch heute noch eine Minderheit gibt, die den Nationalsozialismus verherrlichen, zeigt das die Gefährlichkeit dieser Anschauungen und muss Anlass zu Wachsamkeit sein. Überzeugungstäter, gleich welcher Ideologie sie anhängen, sind immer eine Gefahr.
In diesem Zusammenhang wurde auch überlegt, ob der Tyrannenmord ein legitimes Mittel der Notwehr im Interesse der Unterdrückten und ihrer Befreiung von einem verbrecherischen Diktator ist. Mit Blick auf das (missglückte) Attentat an Hitler wurde das prinzipiell bejaht.
Erwähnt wurde schließlich auch, dass der Lebenssinn eines Triebtäters in dessen eigener Bewertung anders ausfällt. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein solcher Mensch den Sinn seines Lebens nicht im Töten oder Vergewaltigen sieht, sondern unter Zwängen handelt und vielleicht auch darunter leidet.

Gibt es unterschiedliche Werte des Lebens?
Es besteht Übereinstimmung, dass die unterschiedliche Bewertung menschlichen Lebens nach den ethischen Grundsätzen einer humanen Gesellschaft unzulässig und mit der Würde des Menschen nicht vereinbar ist. Gerade für uns Deutsche ist nach den schlimmen Erfahrungen im Dritten Reich, in dem "minderwertiges" Leben millionenfach ausgelöscht wurde, jede Form der Euthanasie zu verurteilen. Das gilt uneingeschränkt für alle Arten von Behinderungen und schließt auch aktive Sterbehilfe aus.
Nicht weiter diskutiert wurde die Frage, wo Leben im Mutterleib beginnt - mit der Zeugung, ab einem bestimmten Stadium der embryonalen Entwicklung oder mit der Geburt. Davon hängt letztlich die Entscheidung ab, unter welchen Bedingungen und zu welchen Zeiten eine Schwangerschaftsunterbrechung zulässig ist. Tatsache ist, dass von den meisten Menschen bestehendes Leben höher bewertet wird als werdendes.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass entsprechend unserem humanistischen Wertekanon das Leben ein einzigartiges Gut ist, das des Schutzes bedarf, auch wenn die Frage nach seinem Sinn nicht eindeutig beantwortet werden kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Versuch einer Antwort religiös bestimmt ist und das Leben als Geschenk Gottes verstanden wird oder agnostisch im Wunder der Natur und der Evolution gesehen wird. Beide finden ihre Auffassung in diesem Ausspruch Kants bestätigt:
"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir."