Es ist September 1961 in Budapest. Ich stehe an einem Fenster hoch oben über der Stadt, schaue auf das silbrige Band der Donau und das weißleuchtende Parlament mit den vielen Türmen. Meine Gedanken wandern zu den Freunden, die sich jetzt mit dem Fahrrad nach Visegrad am Donauknie hinaufquälen. Ich bin traurig und froh zugleich, dass ich nicht dabei sein kann, denn mein Hals schmerzt, die Nase läuft, der Husten quält. Ein Schauer nach dem anderen läuft mir über den Rücken – eine typische Sommergrippe hat mich erwischt.
Unsere Tour begann vor 10 Tagen. Wir waren nach 22 Stunden mit dem Pannonia-Express hundemüde auf dem Nyugati Palyaudvar (Westbahnhof) angekommen. Ein Mann kam auf uns zu, ca. 2 m groß, sehr füllig, mit einem krausen Wuschelkopf und dunkler Brille. Er redete lebhaft auf uns ein - ungarisch. Wir guckten ihn hilflos an. Da mischte sich eine Frau ein, mittleren Alters, nicht so groß wie er, sehr schmal, etwas längere Wuschelhaare, dunkle Brille. Sie fragte, ob wir die Radwandergruppe aus Berlin sind – auf Deutsch. Sie stellten sich mit Oly und Siri vor, waren verheiratet und unsere Betreuer und Dolmetscher für unsere Tour um den Plattensee. Wir waren skeptisch. Werden wir uns verstehen?
Aber wir hatten keine Zeit, weiter darüber zu philosophieren. Unsere Fahrräder waren weg! Wir hatten sie eigenhändig in Berlin in den Gepäckwagen geladen. Was nun? „Kein Problem!“ sagte Oly. Er telefonierte und organisierte energisch mit den Armen gestikulierend. Die Räder werden mit dem nächsten Zug am Keleti Palyaudvar (Ostbahnhof) ankommen, sie waren in Prag umgeladen worden. In der Wartezeit ging er mit uns in ein warmes Thermalbad. Keiner von uns kannte bisher so ein Bad mit den dampfenden, sprudelnden Quellen. Danach führte er uns durch eine sonst nicht öffentliche Höhle in den Bergen von Budapest. Mit unseren Taschenlampen tasteten wir uns die Wände entlang. Wir waren begeistert und vergaßen fast unsere Fahrräder.
Unterwegs war es passiert. Meine Freundin Eva war an einem Zaun hängen geblieben und hatte sich einen Dreiangel in ihren neuen Pullover gerissen. Siri nahm sie in den Arm, trocknete ihre Tränen, fing die fallenden Maschen mit einer Sicherheitsnadel auf und sagte: „Es gibt Schlimmeres!“
Inzwischen hatten wir Hunger bekommen und hätten gern ein Nationalgericht gegessen. Siri ahnte das und führte uns in eine kleine Csarda auf der Budaer Seite der Donau. Es gab eine ungarische Fischsuppe mit dem scharfen Paprika, der uns das Wasser in die Augen trieb. Durch die Zigeunermusik und den Tokajer-Wein wurden wir aber schnell wieder fröhlich. Und Siri hatte uns durch ihre Zuwendung gleich am ersten Tag bezaubert.
Am nächsten Morgen ging’s dann los - unsere wunderschöne, erlebnisreiche und abenteuerliche Fahrradtour um den Plattensee. Der Himmel spiegelte sich in dem flachen Wasser des Sees, an den Bergen reifte der Wein. Wir sahen alte Burgen und große Kirchen und Siri und Oly erzählten sehr temperamentvoll vieles über die Geschichte des Landes. Abends saßen wir unter dem Sternenhimmel und brieten in der Glut des Lagerfeuers Kartoffeln vom Feld. Oly sang mit lauter Stimme die Lieder des Nationaldichters Sandor Petöfi und Siri stellte uns Schriftsteller wie Mór Jokai oder Kálmán Mikszáth vor. Wir sprachen miteinander über die Gemeinsamkeiten und auch die Unterschiede des Lebens in unserer Heimat. Wir hatten alle das Gefühl, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Und die Sternschnuppen ließen in uns sehr jungen Leuten die Hoffnung wachsen, dass alle unsere Träume in Erfüllung gehen werden. - Während der ganzen Tour waren Siri und Oly unsere guten Geister. Alle kleinen und größeren Pannen reparierten sie mit den Worten: „Kein Problem!“ und „Es gibt Schlimmeres!“ Sie lasen uns alle Wünsche von den Augen ab und machten diese Tage für uns zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Dann sind wir wieder in Budapest angekommen. Am nächsten Tag soll es weiter gehen ins Gebirge zum Donauknie. Der Hals schmerzt, die Nase läuft, der Husten quält mich. Eine Rote-Kreuz-Tasche mit den nötigen Medikamenten haben wir dabei. Aber mich schüttelt es, wenn ich daran denke, auf das Fahrrad steigen zu müssen, um die Berge hinauf zu fahren. Da legt Siri ihren Arm um meinen Rücken und sagt, als ob sie meine Gedanken gehört hat: „Du musst im Bett bleiben, ich gebe dir den Schlüssel zu unserer Wohnung, ich sage der Nachbarin bescheid, sie kümmert sich um dich. Langweilen wirst du dich nicht, wir haben viele deutsche Bücher. In drei Tagen sind wir zurück, dann bist du gesund.“ - Ich bin völlig überrascht, gerührt und dankbar. Wir kennen uns erst so kurze Zeit. Eine Wohnung ist ein sehr persönlicher Ort mit den Geheimnissen des individuellen Lebens seiner Bewohner. Ich empfinde das Vertrauen von Siri und Oly als ein riesengroßes Geschenk. Vertrauen kann unabhängig von der Sprache, der Kultur und der Mentalität der Menschen entstehen.
Als die Freunde mit neuen Eindrücken aus Visegrad und Esztergom zurück sind, trenne ich mich von dem gemütlichen Heim, es war mir drei Tage ein zu Hause. In den folgenden Jahren wurde dieses Heim mein zweites zu Hause, denn ich war jedes Jahr in Budapest. Und immer hat Siri wie meine Mutter meine Gedanken gehört, bevor ich sie ausgesprochen habe. Nächtelang haben wir zu Dritt über Gott und die Welt miteinander geredet - ungarisch und deutsch durcheinander – die so verschiedenartige Sprache hinderte uns nicht. Wir verstanden uns - und verstehen uns noch immer.