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Townstories

Stand:


Mein Freund der Baum

Regina Burow

Er kommt mit Sicherheit jedes Jahr und wird mit Sehnsucht erwartet - der Frühling. Nun ist er da. Die Sträucher und Bäume schimmern in hellgrünen Tönen. Wenn ich vom Bahnhof Schöneweide nach Hause gehe, erhoffe ich mir schon die weiß-rosa Kerzen auf den letzten drei Kastanienbäumen, die auf dem Sternplatz noch stehen. In meiner Kindheit standen hier viele sehr große Kastanien, die der Verbreiterung der Straße weichen mussten. Nein, es dauert wohl noch ein Weilchen, bis die Kerzen leuchten. Aber da fällt mir etwas anderes auf - an einem Baum hängt ein kleines weißes Schild. Da, am nächsten Baum hängt auch ein Schild mit einer Zahl! Ich schaue mich um, alle Bäume sind so markiert. Was bedeutet das? Demnächst soll hier der Autobahnzubringer gebaut werden, müssen die Bäume etwa weg?

Hat „mein“ Baum auch eine Markierung? Er steht majestätisch auf der Wiese zwischen der Friedrich-Wolf-Bibliothek und der Kaiserskaufhalle am Sterndamm. Sie wirkt stolz und unanfechtbar – die mächtige Schwarzpappel. Die breite Krone mit den vielen Blättern, die an langen Stielen im Winde tanzen, scheint mit dem Himmel verwoben zu sein. Fast am Boden verzweigt sich der faltenreiche Stamm; es sieht aus, als ob vier Bäume aus der gleichen Wurzel geboren wurden. Sie ist eine wildgewachsene Pappel, denn in der Baumschule werden nur einstämmige Bäume gezüchtet, habe ich erfahren.

In alten Kulturen waren Bäume Heiligtümer. Die Kelten sahen in ihnen ein Symbol für ihren Lehrsatz von der Unendlichkeit des Lebens und der Endlichkeit des Todes. Ein Laubbaum ist im Winter kurzzeitig tot, dann erwacht er wieder zum Leben. Es ist eine ewige Erneuerung. Ein Volksstamm siedelte sich oft um einen heiligen Baum an, dieser wurde zum Baum des Stammes – zum Stammbaum. Manchmal treffen wir heute noch eine uralte Linde in der Mitte eines Dorfes. - Ein Baum versinnbildlicht auch den „Stammbaum“ in der Ahnenforschung durch seine immer neuen Verzweigungen. Und oftmals hat ein Baum in seinem langen Leben viele Generationen von Menschen erlebt.

Die Kelten pflegten vor 2000 Jahren bei der Geburt jedes Kindes zu seinem Schutz einen Baum zu pflanzen. Ich kann mich erinnern, dass meine Gartennachbarn einen Nussbaum pflanzten, als ihr Sohn geboren wurde. Vielleicht ist die Pappel auf der Wiese mein Lebensbaum. Seit ich mich erinnern kann, steht sie da. Aus dem Fenster der dritten Etage schaue ich ihr direkt ins Gesicht; ihre Größe und ihre Standfestigkeit trösten, ermutigen und beleben mich immer aufs Neue – besonders, wenn die Probleme unserer Zeit mit Krieg, Gewalt und Umweltzerstörung oftmals unlösbar erscheinen und mich mutlos machen, schenkt sie mir neue Hoffnung zum Leben und zum Handeln.

Als die Kaufhalle um 1970 gebaut wurde, hatte ich große Angst um „meinen“ Baum. Bulldozer räumten den Kinderspielplatz weg. Bagger rissen die Erde auf. Die ersten Pappeln an der Straße wurden gefällt. Jeden Tag schaute ich mutlos aus dem Fenster und sah im Traum meine prächtige Pappel schon am Boden liegen. Die Gräben der Bagger kamen ihr immer näher. - Aber dann bauten die Arbeiter einen Bretterzaun um den Stamm des Baumes – eine Schutzhülle. Trotzdem musste er stark leiden, wenn die Kranfahrer nicht aufpassten und die Schaufel des Baggers in der Krone hängen blieb. Aber mein Freund überlebte. Viele Jahre sind seitdem vergangen. Ich bewundere die Schönheit und die Weisheit des Baumes - ob es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter ist.

Und jetzt? Muss ich wieder um ihn zittern? Ich habe an ihm kein weißes Schild gefunden – das Zeichen der Registrierung im Kataster des Bezirksamtes. Im Amt für Umwelt und Natur beruhigt man mich. Nach der Fusion der beiden Stadtbezirke Treptow und Köpenick muss die verschieden gehandhabte Baumkontrolle in Übereinstimmung gebracht werden. Das ist eine langwierige Arbeit. Er wird sein Namensschild bekommen. So tanke ich jeden Morgen Energie und Freude für den neuen Tag, wenn ich „meinen“ Baum begrüße.