Der Weg zur Grenze war für mich in dieser Nacht nicht leicht.
Aus einer sonderbare Mischung unendlicher Freude und panischer Angst, entstand für ein paar Sekunden lähmende Atemnot. In diesen Minuten schien ich wahllos allem ausgeliefert. Meine Familie faßte sich bei den Händen und bildete so eine kleine Menschenkette. Niemand sollte sich zwischen uns drängen. Ich beobachtete argwöhnisch die Grenzer, die mit auf dem Rücken verschränkten Armen den Grenzstreifen säumten. Tatenlos mußten sie der Massenwanderung zusehen. Ihre Blicke waren hektisch, die Hände spielten mit den Fingern. Kein Befehl sagte ihnen jetzt, was zu tun ist. In dieser Stunde waren sie hilfloser denn je und sie erschienen mir wie graue Denkmäler aus längst vergangener Zeit.
Plötzlich löste sich ein junger Mann aus der Menge. Er rannte auf einen Grenzsoldaten zu, umarmte diesen, zog an seiner Mütze und hielt ihn am Arm fest. Mit hoch rotem Kopf brüllte er ihn an: "Junge, los komm! Was kann dir schon passieren, komm mit uns! Du bist frei, frei, frei ... Du wirst hier an der verdammten Grenze nicht mehr gebraucht. "
Dann verschwand der junge Mann im reißenden Strom der aufgeregten Berliner. Der desorientierte Soldat biß sich auf die Unterlippe, seine Verwirrung war augenscheinlich. Er war sich dessen bewußt das er eine Uniform trug. Somit war er eine Respektsperson und er fühlte sich in diesem Augenblick überfordert. Ich spürte das es ihm unmöglich war, eine sachliche Entscheidung zu treffen. Plötzlich gab er sich einen Ruck, riß sich den Uniformmantel vom Leib, warf die Mütze in die Luft und brüllte, was seine Stimmbänder hergaben: "Nehmt mich mit, in Gottes Namen, ... nehmt mich mit! Ich scheiß' auf die NVA! (Nationale Volksarmee) Was soll mir schon passieren! Wir sind frei, alle sind wir frei." Als ich erschrocken in sein junges Gesicht sah, flossen Tränen aus seinen braunen Augen. Sein Gesicht war leichenblaß und sein Blick starr in Richtung Westen gerichtet. Er war über sich selbst hinaus gewachsen. Der junge Soldat schloß sich einer Gruppe johlender Jugendlicher an, die ihm immer wieder auf die Schulter klopften. Jetzt war auch er einer von ihnen.
Für mich war das eben Erlebte überwältigend. Ich beobachtete wie die anderen Soldaten wie gelähmt auf ihren Plätzen standen. Keiner wagte einen Blickkontakt mit den Dienstgenossen. Jeder kämpfte für sich und ich wünschte mir in diesem Augenblick ihre Gedanken lesen zu können.
Schweigend nahm ich die Hand meines Mannes. Ich lächelte ihn an. Ich spürte seine Sorge um den Augenblick. Wird das hier auch alles gut gehen? Wir befanden uns mitten auf dem Grenzstreifen. Fürsorglich legte er seinen Arm um meine Schultern. Er dachte an China, Prag, an Vietnam. Russische Panzer, die auf wehrlose Menschen schossen. Die spontane Aktion des jungen Soldaten jagte ihm Unbehagen ein. Vor vielen Jahren stand auch er an der Grenze. Jetzt war er froh, daß diese Zeit lange zurücklag. In dieser ungewissen Situation mochte er nicht in der Haut eines Grenzsoldaten stecken. In diesem Augenblick fragte er sich, konnte die Armee wirklich tatenlos zusehen, wie die Menschenmassen ungehindert in den Westen strömten? Jeder Soldat mußte in diesem Moment die Hölle durch machen. Mein Mann hatte Achtung vor jedem hier Wache schiebenden Soldaten.
Ich spürte einen harten Schlag am Kopf. Die kalte Hand meiner Tochter hielt mich fest. Nein, keine trüben Gedanken. Ich wollte meine Tochter ohne Wenn und Aber in eine neue, völlig unbekannte Zukunft führen. Ich, ihre Mutter, hatte das Glück, ihr fest zur Seite stehen zu können. Es war eine wunderbare Nacht im Leben meiner Familie.
Nicol, die Freundin meiner Tochter, hielt ebenfalls die Hand meiner Tochter ganz fest. Vor Aufregung redete sie unaufhörlich. Es schien sie nicht im geringsten zu interessierte ob ihr jemand zuhörte oder nicht.
Meine Tochter dagegen war ganz still. Wortlos nahm sie alles staunend in sich auf. Die blonden Locken, die blauen Augen ließen sie wie einen kleinen Engel aussehen. Sie strahlte die tanzende Menge an. Sie genoß die brennenden Kerzen an den Straßenrändern. Ihr kindliches Herz, ihre Seele und ihr Verstand tauchten ein in eine fremde, überwältigende Welt. Hoffentlich nimmt uns das niemand mehr weg. Es soll alles so bleiben wie es ist, dachte ich gerührt. Ich wünschte mir so sehr, daß die Zeit stehen bleibt. Keine Uhr sollte mehr ticken. Eine Art von Rausch und Glückseligkeit überwältigte mich. Jetzt konnte auch ich keine Tränen mehr zurückhalten.
Es wird nicht mehr lange dauern und ich werde meinem Vater, der seit vielen Jahren in Westberlin lebt, das erste Mal im anderen Teil der Stadt gegenüber stehen. Meine Tochter sah mich fragend an. "Mutti, wohin gehen wir?" fragte sie mich." Ich mußte nicht mehr antworten denn jetzt stand plötzlich mein Vater uns gegenüber. In seinen zitternden Händen hielt er eine brennende Kerze und eine Flasche Sekt. "Ihr ahnt nicht, wie ich mich freue! Kinder, daß ich das noch erlebe! Herzlich willkommen...," begrüßte er uns mit einem breitem Lächeln. Niemand war dieser Situation mehr gewachsen. Alle heulten hemmungslos darauf los. Das alles ist nur ein Traum, dachte ich. Mein Vater umarmte mich. Ich sah Maria, seine zweite Frau, die ebenfalls mit einer brennenden Kerze vor mir stand. Sofort fielen wir uns in die Arme, hielten uns ganz fest. Wir weinten, wie in dieser historischen Nacht Millionen Menschen an dieser bisher unmenschlichen Grenze weinten. Die Flasche Sekt wurde in die Runde gereicht. Alle, auch die Kinder, nahmen einen kräftigen Schluck daraus.
Meine Tochter sah ihren Großvater strahlend an. "Opa, jetzt bin ich auch im Westen. Jeden Tag kann ich dich besuchen. Wir können zusammen spazierengehen. Ich freue mich so ..."
Maria streichelte Winnie über die blonden Haare. Nicol stand dicht neben ihrer Freundin. Sie stieß Winnie in die Seite. "Jetzt hast du keinen Westopa mehr. Du hast nur einen Opa, einen stink normalen Opa, so einen, wie ich ihn auch habe. Ost und West gibt es nicht mehr. Wir sind jetzt eine Stadt."
Alle lachten und knufften Nicol in die Seite. Maria meinte: "Na, wenigstens das hört jetzt auf. Es wurde auch langsam Zeit. Aber, daß alles so schnell gehen würde, hätte keiner von uns gedacht! Die letzten Wochen waren spannender als ein Krimi. Doch kommt, laßt uns nach Hause gehen. Ich habe etwas vorbereitet und vielleicht habt ihr ja Hunger ."
"Wenn der Kartoffelsalat nicht zu wäßrig von dem vielen Heulen ist, dann habe ich wirklich Hunger", meinte mein Mann. Wieder lief meine Familie wie im Traum durch die taghellen Straßen von Berlin. Die großen, bunten Schaufenster nahmen wir nur verschwommen wahr. Wir mußten uns konzentrieren und fest an den Händen halten um nicht von der jubelnden Menge auseinander gerissen zu werden.
Endlich standen wir vor Vaters Wohnungstür. Er sah mich bedeutungsvoll an. "Bist du dir dessen bewußt, obwohl wir immer in einer Stadt gelebt haben, wirst du jetzt das erste Mal die Wohnung deines Vaters betreten."Ich senkte meinen Blick. Das war schon eine komische Sache. Als 11 jähriges Mädchen erlebte ich die Grenzschließung und als 39 jährige Frau, die Grenzöffnung. Immer weinten die Berliner sehr viel. Sie waren den politischen Ereignissen schonungslos ausgesetzt. Jetzt fragte ich mich, was bringt uns die Zukunft? Kann meine Tochter ohne Krieg weiter leben? Menschen, die der Kapitalismus geprägt hat und Menschen, die im Sozialismus aufgewachsen sind, werden die gemeinsame Ziele haben können? Sprechen wir wirklich eine deutsche Sprache?
Dann stellte ich mir keine Fragen mehr, denn die Antwort liegt wie so oft nicht in den Händen der vielen, einfachen Menschen auf der ganzen Welt. Diese Nacht war zu schön um über Dinge nach zu grübeln, die erst die nahe Zukunft beantworten wird.
Angelika Luebcke