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Townstories

Stand:


Leben im Schatten der Mauer

von Günter Schöffler


(Zusammenfassung)

Die "Berliner Mauer", die von 1961 bis 1989 Westberlin umschloss, und deren Sicherungssystem zum Territorium der DDR hin gestaffelt war, sollte die Flucht deren Bürger unmöglich machen. In ihrer unmittelbaren Nähe wohnten - auf beiden Seiten - Menschen; zu ihnen gehörte im "Osten" der Autor dieses Textes. Er berichtet darin von Ausnahmesituationen und von Alltäglichkeiten, die es auch gab.

Vornweg: Nach dem 13. August 1961 schotteten Ostberlin und die DDR ihre Grenzen zu Westberlin durch den Bau der "Mauer", die in Wirklichkeit ein tief gestaffeltes System von Grenzsicherungsanlagen war, ab. Der angebliche "Antifaschistische Schutzwall" folgte den vormaligen Grenzlinien der Berliner Stadtbezirke. Wo solche auf Straßenmitten verliefen, wurden die Häuser auf der Ostseite geräumt. Ansonsten existierte ein "Grenzgebiet", dessen Betreten nur mit Sonderausweisen möglich war; das war jedoch zu Teilen bewohnt.
Im Ortsteil Baumschulenweg des Stadtbezirkes Treptow bildet der kleine Heidekampgraben die Grenze zu Neukölln. Treptow besaß 13 Kilometer "Mauer" zu den Westberliner Bezirken Kreuzberg und Neukölln. An ihr wurden zwischen 1961 und 1989 fünfzehn Menschen erschossen.

Es passierte beim Frühstück. Die Frau stellte gerade die Teekanne auf das Stövchen zurück, als ihr Blick aus dem Fenster auf den Heidekampgraben fiel. "Sieh mal", sagte sie zu dem Mann, "da sind Stockenten auf dem Bach, zum allerersten Mal!" Zwei Enten taten sich auf dem Wasser wohl, mit strammgrünem Halsgefieder der Erpel, sein Weibchen trug blaue Flügelbinden. Sie waren gut auszumachen, denn das Grabengeläuf wurde kürzlich ausgelichtet.

Die beiden stand nun am Fenster, und es kamen Erinnerungen an jene Zeiten zu ihnen, in denen die politischen Verhältnisse zum undurchdringlichen Dickicht verkommen waren. In deren Abfolge wurde dieser kleine Fließ zu einer unüberwindbaren Grenze zwischen zwei sich übelwollenden Weltsystemen gemacht. "Weißt du noch", fragte die Frau, "Wie wir vor dem 13. August hier unten noch unsere Wäsche trockneten oder mit dem Jungen nach einem kleinen Grabenhopser zum Spielplatz im Schulenburgpark gingen?", und sie setzte als Lagebestimmung gleich noch hinzu: "im Westen". Der Mann betrachtete derweil nachdenklich diesen Streifen Land, der im Grenzregime so mit Pestiziden vollgetränkt wurde, dass er noch immer fast kahl war.

Einen Tag nach der Grenzziehung im August '61 schauten sie, aus dem Urlaub vorzeitig zurückgekehrt, ebenfalls aus diesem Fenster. An den Heidekampgraben war ein Zaun aus Stacheldraht gezogen worden, davor Doppelposten der "Kampfgruppen" mit Karabiner und Kalaschnikoffs noch mit den runden Magazinen. Am anderen Ufer liefen an den Kleingärten Menschen hin und her, winkten, riefen, schimpften, weinten.

"Wie fühlten wir uns damals?", fragte der Mann, eigentlich sich selbst, und die Frau fügte bei: "Wissen wir es überhaupt noch so genau?" In Phasen einer Ruhe wie in diesem Moment treibt zwar manches aus den Tiefen der Erinnerung an die Oberfläche der Bewusstheit, aber es sollte ihm gegenüber Achtsamkeit geübt werden. So wie es auch, zum Beispiel, bei Aussagen von Politikern geboten ist. Was Exponenten dieser Spezies damals verkündeten, ob von diesseits oder jenseits dieser brutal plazierten Grenze, entsprach kaum den Ansichten der beiden, wobei sie immerhin den Aussagen aus der Westregion einen höheren Wahrheitsgehalt zubilligten. Gewiss waren sie erschüttert, doch das ganz große Elend kam nicht über sie. Das Grenzregime brachte ihnen viele Erschwernisse, und sie fühlten sich schon manches Mal wie Mäuse in einem Käfig oder wie Menschen hinter Gittern, aber erstaunlich schnell setzte sich auch jenes Leben, das man das alltägliche nennt, fort. Es waren sogar einige Vorzüge, wenn auch von minderem Gewicht, feststellbar : die Arbeitseinkommen waren wieder gleichgestellt' weil niemand mehr in Westberlin mit 1 : 5 und mehr entlohnt wurde, beim Friseur waren Termine zu bekommen, selbst für sie gab es auf einmal Blumen, und beim Schuhmacher wurden auch sie wieder freundlich begrüßt. Außerdem begann sich, einige Zeit später, das Dogma der Politik ein wenig zu lockern. Darüber hinaus hatten beide weder Verwandte noch Bekannte "auf der anderen Seite", die Eltern und Geschwister lebten ebenfalls in der DDR, und zu Verwandtschaftsangehörigen in Westdeutschland durften sie auch vorher nicht fahren.

So beobachteten die beiden zwar mit Zorn, aber ohne tiefgehende Verzweiflung die folgende Verstärkung der Sperranlagen: ein zweiter Stacheldrahtzaun, Schützengräben, ein niedriger Stacheldrahtverhau gegen ankriechende Grenzverletzer. Die erste Mauer. Spanische Reiter, erst eingegraben, später einbetoniert, gegen Autodurchbrüche. Eine Rollbahn für Kontrollfahrten. Die komplette, starke Ausleuchtung bei Nacht mit eigener Stromversorgung. Zeitweise auf Menschen dressierte Schäferhunde an Laufdrähten. Wachtürme, Signalzäune dazwischen. Die neue, höhere Mauer im L-Profil, die selbst Panzer nicht mehr umstürzen konnten. Schließlich eine Blechwand gegen das Hinterland.

Während der ersten Jahre gehörte ihr Wohnblock zum deklarierten "Grenzgebiet", für Besucher mussten sie Betretungserlaubnisscheine beantragen. Für Ausländer gab es keine Genehmigung, aber da war doch die Cousine der Frau aus Australien. "Kannst du dich noch an das Drama mit ihr erinnern?", fragte seine Frau. Er bejahte mit einem Lächeln. Sie wollte unbedingt in die Wohnung im Grenzgebiet, das schon am Fußsteig des Heidekampweges begann. Sie schlichen also mit ihr hinein, die Angst vor der Entdeckung durch Grenzer war geringer als die vor Denunzianten. Für die Cousine waren diese Minuten die aufregendsten ihrer Reise, und die ging schließlich um die ganze Welt.

Später wurde das Haus und seine Nachbarn aus dem Grenzgebietsregime herausgenommen, die Vorgrenze an die hintere Hausecke verlegt. Ihr Balkon blieb jedoch nachwievor über dem Hochsicherheitsstreifen, und was von ihm abstürzte, war üblicherweise verloren. "Weißt du noch von der Aktion mit deinem herunter gefallenen Trauring?", fragte die Frau den Mann. "Aber ja", erwiderte der, "es passierte mir beim Auswedeln des Staubtuches!" Danach observierte er mit einem Fernglas die Fläche unter dem Balkon. Bevor er noch fündig wurde, jagte ein Streifenwagen heran, denn natürlich hatten die Soldaten auf dem Wachturm, gleich neben dem Haus, sein verdächtiges Verhalten gemeldet. Er entdeckte den Ring innerhalb eines am Haus liegenden stählernen Kreuzgitters. Das trug nach oben zu nadelscharfe Stahlspitzen, die bei einem Betreten nicht nur die Schuhsohlen durchstechen würden. Er rief also den Grenzern seinen Verlust zu, und die versprachen zu helfen, sofern ihre Vorgesetzten solches erlaubten. Das dauerte zwar eine Weile, aber dann ging es los. Einer der beiden schraubte die Autoantenne ab und nutzte sie als eine Art Angelhaken, mit dem er, durch einen Maschendrahtzaun hindurch, den Ehering aufspießte. Der Mann lief sodann in die Parterrewohnung, in die hinein der Soldat das Schmuckstück schleuderte. Als Gegenleistung flog eine Schachtel "Westzigaretten" aus dem "Intershop" in die Gegenrichtung, die die Grenzsoldaten sehr schnell einsteckten.

Nach der Rekapitulierung dieser etwas heiteren Episode fragte der Mann, ob sie denn noch wisse, seit wann diese Kreuzgitter mit den scharfen Spitzen unmittelbar hinter ihrem Haus lagen. Sogleich wurden beide ernst. "Ja, da waren doch diese beiden Jugendlichen, die glaubten, in einer Nacht die Grenze überwinden zu können." Sie waren durch ein Kellerfenster ihres Hauses in den Grenzstreifen geklettert, weshalb bald danach eben diese schlimmen Hindernisse ausgelegt wurden. "Ist dir noch erinnerlich, wie ich dir zuschrie: Schnell auf den Teppich runter!?", fragte noch der Mann. Sie saßen damals beim Fernsehen, als plötzlich am Haus Maschinenpistolen losballerten. Der Mann wunderte sich noch immer über seine kurze Reaktionszeit, er dachte damals sofort an Querschläger. Das Schießen war teuflisch laut und scharf, so ganz anders als im Kino oder im Fernsehen. Nachdem sie ihre Ängste ein bißchen kanalisiert hatten, und es wieder still war, schauten sie vorsichtig aus dem Fenster und sahen zwei Körper reglos kurz vor der Mauer liegen. Als diese aber auf Zuruf aufstanden, waren sie glücklich. Die Grenzsoldaten hatten nicht genau gezielt.

Es war den Westberliner Jugendlichen ein Leichtes, im Osten Fensterscheiben zu zerwerfen. Vermutlich sahen sie sich sogar als Kämpfer für die Freiheit, "so wie diese Vandalen heutzutage, die Wurfanker auf die Oberleitungen der Eisenbahn schleudern und behaupten, solches für die Stilllegung von Atomkraftwerken zu tun", warf der Mann ein. Als eines Abends solch ein Stein durch ihre Balkontür flog, bekamen sie einen gehörigen Schreck.

Anfang 1989 wurde der Mann zum Invalidenrentner und erwarb sich dadurch ein Dauervisum fürs Westliche. Nun konnte er endlich auch das Westufer des Heidekampgrabens besuchen. Um die richtige Wohnung auszumachen, wedelte diesmal die Frau mit einem Staubtuch. Nachdem einer ihrer Söhne den "Ehrendienst" bei den Grenztruppen der DDR hintersichgebracht hatte, durfte er zum 90. Geburtstag seines Großvaters nach Westdeutschland reisen. Er unterbrach die Anfahrt illegal in Westberlin, um sich an "ihren" Graben zu hocken und seinen Eltern über die "Mauer" hinweg ein vereinbartes Pfeiffsignal zu geben. Die standen derweil auf dem Balkon und machten unbeteiligte Gesichter.

"Ja, das war im September '89", spezifizierte die Frau. Am 9. November saßen die beiden, schon für die Nacht gerüstet, vor dem Fernseher, als die Nachricht von der Grenzöffnung verbreitet wurde. Schnell kleideten sie sich wieder an und rannten zum "Kontrollpunkt Sonnenallee" - den der Mann am Spätnachmittag des gleichen Tages schon einmal passiert hatte, akkurat inspiziert. Überall aus den Häusern kamen Menschen und liefen dem einen Ziel zu, dem Mann kamen plötzlich, und wohl unbegründet, die Ratten des Fängers von Hameln in den Sinn. Es war jedoch vor den Grenzübergangsschneisen ein sehr fröhliches Gedränge, alle waren nett miteinander, das fassungslose Kopfschütteln die verbreitetste Ausdrucksform, und als die komplette Füllung einer Gaststätte am Heidekampweg anrückte, gab es auch noch Sekt zu trinken. Die beiden fuhren nicht zum Kurfürstendamm, sondern sie gingen nur den Weg am Heidekampgraben entlang. Endlich standen sie gemeinsam auf der Westseite und schauten auf ihre Wohnung. Sie hatten vorsorglich das Licht brennen lassen.


Günter S.