Das Buch von George Orwell „1984“ wurde bei uns von den staatlichen Organen als „Schund- und Schmutzliteratur“ bezeichnet, es stand auf dem Index. Wer mit solch einem Buch erwischt wurde oder es sogar an andere verlieh, konnte mit Gefängnis bestraft werden wegen staatsgefährdender, antikommunistischer Propaganda. Es wurde parteipolitisch rezensiert, das hatte uns zu genügen. Ich hätte aber zu gerne selbst gelesen, was in dem Buch stand.
Nach dem Mauerbau wurde die Grenze von Tag zu Tag dichter. Auch Westberliner durften nicht mehr in den Osten kommen. Mit der Post schicken, ging auch nicht, alle Päckchen wurden kontrol-liert, viel weniger brisante Bücher blieben in den östlichen Zollbüros hängen.
So versuchte ich einen anderen Weg. Im Sommer fuhr ich jedes Jahr zu Freunden nach Ungarn. Ungarn hatte für uns nicht nur wegen seiner romantischen Landschaft, die wir uns mit dem Ruck-sack erwanderten, und dem Film „Ich denke oft an Piroschka“ eine unheimliche Anziehungskraft. Die ungarischen Politiker hatten nach dem Volksaufstand 1956 die ideologischen Zügel etwas gelo-ckert, die Schaufenster waren farbig ansprechend gestaltet, es gab modische Bekleidung und west-liche Literatur zu kaufen. Das Buch, das ich unbedingt lesen wollte, gab es dort allerdings auch nicht. Aber meine ungarischen Freunde kannten „Bundis“, d.h. sie hatten Freunde in der Bundesre-publik Deutschland, die brachten das Buch mit nach Ungarn. Ich versteckte es bei der Rückreise zwischen die schmutzige Wäsche und mit großem Zittern im Bauch und etwas Glück schaffte ich es, das Buch durch die Grenzkontrollen nach Hause zu bringen. Heimlich lief es unter Freunden von Hand zu Hand.
Die Zeit verging, es kam die Vorwendezeit mit den Versammlungen der Bürgerbewegung und die Mitarbeit in Friedenskreisen. Da fiel mir das Buch ein. Was mache ich damit? Soll ich es verbren-nen, falls einmal eine Haussuchung stattfindet? Ich steckte es in den hintersten Winkel und ver-schob das Verbrennen immer wieder. Dann kam die Wende.
Und nun stand ich vor dem Buchladen und sah das Buch im Schaufenster. Ich kam mir wie eine ge-spaltene Persönlichkeit vor. Die Angst um dieses Buch war wieder da, und die Wut, der Zorn, die Ohnmacht und die Traurigkeit, nicht die Bücher und Zeitungen zu bekommen, die ich gerne lesen wollte, um mir selbst eine Meinung bilden zu können, stiegen wieder hoch, und gleichzeitig war da diese unendliche Freude, dass es nun anders war. Ich konnte alle Bücher der Welt lesen. Vor der fast unendlichen Vielfalt hatte ich keine Angst, ich werde finden, was für meine Meinungsbildung interessant ist. So lief ich zum Bahnhof Neukölln zurück und fuhr froh und zufrieden mit der S-Bahn wieder über dem Südring nach Hause.
Die Karl-Marx-Straße hat sich in den letzten Jahren weiter verändert. Meine Schuhe kaufe ich im-mer noch dort, weil es in unserem Ortsteil keinen Schuhladen gibt. Das Antiquariat hatte inzwi-schen Räumungsverkauf, auch andere Geschäfte mussten schließen. Dafür gibt es große Kaufhäuser mit einem riesigen Warenangebot. Manchmal denke:
„Wer braucht das alles?“
Und wenn ich manche Zeitung aufschlage, habe ich dasselbe unheimliche Gefühl wie früher, dass der Leser für dumm gehalten wird. Aber nun habe ich die Möglichkeit, eine andere Zeitung zu le-sen. Und wenn die S-Bahn mit mir nach dem Bahnhof Baumschulenweg um die Linkskurve fährt, ist die Stimme nun endgültig n i c h t mehr da: “ Letzter Bahnhof im Demokratischen Sektor!“