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Townstories

Stand:


Die Wunde

von Christiane Bauer


Erst am dritten Tag finden wir sie. Meine Mutter. Im Krankenhaus in O. Mit einer Platzwunde am Kopf. Es ist der 16. August 1961. Was war passiert?
Am 13., einem strahlenden Sonntag, verlässt Mutter gegen 8 Uhr die Wohnung, um zum Großvater nach Reinickendorf zu fahren. Er hat gerade seine Wohnung renovieren lassen und sie will ihm beim Saubermachen helfen. Wir Kinder stehen erst später auf, von Vater geweckt. Er erzählt kurz, was passiert ist. Auf dem Wohnzimmertisch liegt das ND ausgebreitet. Ich lese die riesigen, in drohendem Schwarz gehaltenen Überschriften und bin geschockt. Irgendwie kann ich nicht so richtig fassen, was ich da lese, doch klingt alles für mich so endgültig. Die Bahnhöfe gesperrt, man kommt nicht mehr nach Westberlin. Wo ist Mutter? Hat sie es noch geschafft, mit der S-Bahn? Der Vormittag vergeht, ohne eine Nachricht. Durch unsere Straße rollen inzwischen Panzer aus der Kaserne Richtung Berlin. Vaters Freund, er hat einen PKW, bietet sich an, ihn nach Wilhelmsruh zu fahren, um zu sehen, was los ist. Den ganzen Tag dudelt das Radio. Es wird von Menschenansammlungen, Stacheldrahtsperren, Verzweiflungstaten berichtet. Doch am Nachmittag kommt ein Telegramm: Irmchen nicht eingetroffen. Gruß Vater. In mir beginnen sich Bilder abzuspulen. Mutter ist eine sehr gute Schwimmerin. Alte Fotos aus der Heimat. Schon mit 14 macht sie den Freischwimmer. Wenn sie nun versucht hat, irgendeinen Fluss oder Kanal zu durchschwimmen und angeschossen ist. Es ist schrecklich. Ich darf mir nichts anmerken lassen, meine Schwester ist ja erst 5. Wir sitzen einfach nur am Fenster und gucken. Am nächsten Tag geht Vater zur Schule. Parteigruppe. Die Genossen sind keine Hilfe. Sie wird abgehauen sein. Aber, wie denn, sie lässt doch nicht ihre drei Kinder und ihren Mann im Stich. Vater erzählt das völlig sachlich. Zeigt vor mir keine Emotion. Bin fassungslos. Ich gehe runter zu unseren Hausbesitzern und helfe in ihrem Möbelgeschäft. Staub wischen. Irgendwas muss ich tun. Da sehe ich meine Freundin vorbeilaufen. Ich renne raus und sage nur, Mutter ist weg, wir wissen nicht, wohin. Wir gehen zusammen zu ihr nach Hause und ich erzähle alles. Ihre Eltern sind erschüttert. Gleich gibt es Mittag, davor ein Gebet. Am Nachmittag kommt meine 2. Schwester aus dem Ferienlager. Der Schlüssel ist bei einer Nachbarin. Wir erzählen alles und warten, sitzen wieder am Fenster. Ich habe auf einmal Angst, meine Mutter nicht wiederzusehen. Am nächsten Tag beginne ich, für meinen Vater und meine Schwestern Mittag zu kochen. Ich bin 13 und brauchte das bisher nicht zu machen. Das Kochbuch neben den Topf gelegt und es geht los. Bratwürste. In die Pfanne kommt Marina oder Sonja, weiß ich nicht mehr so genau. Die Würstchen müssen schräg eingeritzt werden, damit sie ein krustiges Oberteil bekommen. Dann lerne ich noch Königsberger Klopse mit Kapernsoße und Eier mit Senfsoße. Die Soßen sind tückisch, immer gibt es Klümpchen. So vergeht wieder ein Tag des Wartens und der Ungewissheit. Dann, endlich, am Mittwoch die befreiende Nachricht: Mutter liegt hier im Krankenhaus. Gehirnerschütterung. Wir besuchen sie. Sie erkennt uns kaum. Wirkt schwach und zerbrechlich. Wir erfahren, was geschehen war. Nachdem sie am Sonntag am Bahnhof mitbekommen hat, dass keine Züge mehr in Richtung Westberlin fahren, will sie wieder nach Hause gehen. Auf der Hauptstrasse, die sie überqueren will, rollen unentwegt Panzer. Sie geht bis zur Straßenmitte, erkennt, dass kein Durchkommen möglich ist, will wieder auf den Bürgersteig zurück und wird von einem Motorrad erfasst. Sie verliert das Bewusstsein. Eine Platzwunde klafft in ihrem Kopf und sie kommt ins Krankenhaus. Das alles spielt sich praktisch fast direkt vor unserem Haus ab. Durch die ganzen Wirren hat man uns nicht benachrichtigt.
28 Jahre später erst soll die Wunde, die an jenem Tag in die Stadt geschlagen wurde, endlich wieder zuheilen können. Ein langer Heilungsprozess wird nötig sein. Werden Narben zurückbleiben, wie bei meiner Mutter?
30.07.2003