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Townstories

Stand:


Ein Berliner als Tourist in seiner Stadt

von Jutta Polley


Kurzfassung
Damals
Heute
Vor fünfundzwanzig Jahren
Wieder in der Gegenwart
(am Brandenburger Tor)

Kein anderer Bau verkörpert "mein Berlin" mehr als das Brandenburger Tor.

Damals
Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als mein Vater mit mir durch den Tiergarten ging, entlang der "Puppenallee", wie die Berliner, die Strasse nannten, die zum Brandenburger Tor führte, da alle paar Meter auf beiden Seiten lebensgrosse Statuen von berühmten Persönlichkeiten standen. Papa erzählte mir dabei von der glorreichen Kaiserzeit, als der Kaiser und seine Regimenter auf herausgeputzten Pferden durch das Tor ritten und die Menschen rechts und links der Allee ihnen während der grossen Parade zu jubelten. Es klang für mich wie ein Märchen und ich war traurig, dass ich zu der Zeit noch nicht auf der Welt gewesen bin. Hinter dem Brandenburger Tor begann die Strasse "Unter den Linden". Papa summte den Schlager "Untern Linden untern Linden, gehen spazieren die Mägdelein..." und schaute mich dabei verschmitzt lächelnd an. Kurze Zeit danach begann der zweite Weltkrieg, an dessen Ende die "Reichshauptstadt" in ein Trümmerfeld verwandelt worden war. Wenige der alten Bauten aus dem 18. Jahrhundert waren noch vorhanden, und durch Bomben und Granateinschüsse so zerstört, dass der Anblick Entsetzen und tiefe Trauer hervorrief. Nichts war von der alten Pracht zu sehen, sie liess sich nur erahnen.

Heute
Anlässlich eines Besuches von Hans und Ilse, Verwandte meines Mannes, habe ich das nebenstehende Bild aufgenommen. Sie stammen ursprünglich aus der Uckermark und zogen Anfang der Fünfziger Jahre nach Kaiserslautern in die Pfalz. Sie kannten von Berlin durch ihre früheren Besuche den westlichen Teil und waren jetzt Ende der Neunziger wieder hier, um sich das vereinigte und veränderte Berlin anzuschauen. Einmal wieder "Unter den Linden" spazieren gehen und durch das Brandenburger Tor zu laufen, war ihnen eine Reise wert. Ihr Erstaunen war gross, als sie die rege Bautätigkeit rund ums Tor sahen. Die neue Kuppel auf dem Reichstag war gerade ein paar Tage zuvor zur Besichtigung freigegeben und so nahmen wir die fast einstündige Wartezeit in Kauf, um sie zu betreten und um von der Dachterrasse aus über Berlin blicken zu können. Später sassen wir dann im "Café Dressler" und stärkten uns bei Kaffee und Torte. Und während wir so über das alte und neue Berlin plauderten und genüsslich die Torte verspeisten, kam mir die Erinnerung an einen ebenso langen Spaziergang . Damals hatte ich auch die Rolle des Erzählers übernommen, wie heute und versucht eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart zu bauen. Ich begann meinem Besuch nachfolgende Geschichte zu erzählen.

Vor fünfundzwanzig Jahren
Als Jens, mein jüngster Sohn 10 Jahre alt war, führten wir manchmal Gespräche, in denen ich ihm von Berlins Mitte, von der Prachtstrasse "Unter den Linden" , von dem Pergamon-Museum, der Humboldt-Universität und anderen imposanten Bauten des alten Berlins erzählte. Natürlich kannte er von Fotografien in Zeitungen oder Bildern aus dem Fernsehen schon das eine oder andere Gebäude. Aber davor gestanden und es mit eigenen Augen betrachtet, hatte er noch nie. S e i n Berlin reichte nur bis zur Mauer, die seit 1961 unser Westberlin wie ein Bollwerk umgab. Egal, ob wir im Sommer nach Tegel oder Wannsee fuhren, ob wir die Oma in Spandau besuchten oder nur bei uns in Rudow spazieren gingen. Sein Berlin hiess "West-Berlin" und konnte nur per Flugzeug oder Bahn, oder mit dem Auto über zwei ganz bestimmte Strassen verlassen werden.

Ich hatte bei meinen Erzählungen in seinen Augen solche Neugierde und Sehnsucht entdeckt, wie sie bei manchen Menschen beim Anblick weit entfernter Sehenswürdigkeiten entstehen. Also entschloss ich mich, den zu der Zeit möglichen Behördenweg zu beschreiten und einen Passierschein für einen Tagesaufenthalt in Ostberlin, der "Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik" zu beantragen. Ich fuhr also mit Bus- und und U-Bahn zu der für uns zuständigen Dienststelle am Waterloo-Ufer. Es gab in West-Berlin nur 2 oder 3 dieser eigens dafür eingerichteten Büros, die mit Angestellten der Ostberliner Verwaltungsbehörden und der Volkspolizei besetzt waren. Diese Büros wurden während der Öffnungszeiten immer stark von den Westberliner Bürgern in Anspruch genommen, da es die einzige Möglichkeit war, Verwandte im Ostteil der Stadt zu besuchen. Man musste sich daher auf lange Wartezeiten einstellen. Ich bekam einen Postkarten grossen Antrag zum ausfüllen. Die üblichen Personalien, Frage nach dem Beruf und mitreisenden Kindern. Gewissenhaft ausgefüllt gab ich die Karte ab. Der Volkspolizist las sich alles durch und machte mehrere Stempel auf den Antrag. Dann gab er mir einen Nummernzettel und sagte: "In drei Tagen können Sie die Einreiseerlaubnis abholen." Auf dem Nachhauseweg dachte ich, hoffentlich ist in der nächsten Woche schönes Wetter. Nach drei Tagen machte ich mich wieder auf den gleichen Weg. Die gleichen überfüllten Räume, aber völlig andere Gesichter hinter den Tischen. Trotz meines Zettels mit der Nummer darauf, mußte ich nochmals eine Nummer aus einem Automaten ziehen und wieder warten. Endlich wurde meine aufgerufen. Man händigte mir eine grüne Klappkarte mit meinen darauf eingetragenen Personalien und dem vorgeschriebenen Grenzübergang " Friedrichstrasse" aus. Eine Seite war mit einem E für Einreise, die andere Seite mit einem A für Ausreise versehen. Zusätzlich bekam ich noch ein Blatt zum Ausfüllen beim Grenzübergang auf dem "Erklärung über mitgeführte Gegenstände und Zahlungsmittel" stand.

Ich machte eine Pause in meiner Erzählung und bestellte mir noch ein Kännchen Kaffee. "Mein Gott - war das alles kompliziert," sagte Ilse und ich konnte das nur bestätigen. Ich wollte ja nur von einem Teil Berlins in einen anderen Teil von Berlin fahren. Aber leider hatten die politischen Ereignisse dafür gesorgt, dass mitten durch Berlin eine festgemauerte Grenze entstanden war.
"Na und nun, wie geht deine Geschichte weiter," fragte mich Hans, "bist du dann mit Jens rüber gefahren?"
"Ja, " antwortete ich und erzählte weiter.

Es war an einem Sonnabend als ich mit Jens "nach drüben" fuhr, wie wir Westberliner uns ausdrückten. Auf dem U-Bahnhof Kochstrasse tönte es aus dem Lautsprecher: Letzter Bahnhof in Westberlin - nächster Halt Friedrichstrasse." Obwohl zwischen den beiden Stationen noch zwei Bahnhöfe liegen, fuhr der Zug ohne anzuhalten durch. Mein Sohn guckte durch die Scheibe und flüsterte mir zu: "Da stehen Vopos auf dem Bahnsteig." Es war die übliche Bewachung der für Ostberliner geschlossenen Bahnhöfe.
Bahnhof Friedrichstrasse- seit eh` und je - ein Umsteigebahnhof. Lange, breite Gänge, mehrere Stockwerke übereinander. Viele Treppen, die zu den einzelnen Bahnsteigen und zur S- und Fernbahn führen. Wir stiegen aus, liefen Treppen hoch und wieder runter, über mit Pfeilen und Kennzeichen versehene Gänge, die rechts und links durch hohe weiss angestrichene Platten aus Pappe oder Holz begrenzt waren, bis zu der aus einzelnen kleinen engen Bretterbuden bestehenden Passkontrolle. Zwischen rot-weissen Absperrgittern bildete sich eine lange Menschenschlange. Es dauerte länger als eine halbe Stunde, ehe wir endlich auf die Strasse traten. Wir atmeten erst einmal durch, und Jens fragte mich: "Sind wir nun endlich im Osten? Ich komme mir ja vor, wie ein Ausländer!"
Wir gingen ein Stück über die Friedrichstrasse in Richtung "Unter den Linden" und bogen dann links in diese breite, weltweit bekannte Allee ein. Mir fielen sofort die Bäume auf der Mittelpromenade auf, die offensichtlich erst nach dem Krieg angepflanzt worden waren, denn sonst hätten ihre Kronen üppiger sein müssen. Wir liefen vorbei an der alten Staatsbibliothek, der Humboldt-Universität und dem Lustgarten bis zum Berliner Dom. Ich wurde für ihn zur Stadtführerin und spannte den Bogen von der Kaiser- über die Hitler- und Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Die Auslagen in den wenigen Geschäften, die es gab, interessierten weder ihn noch mich. Obgleich an diesem Samstag die Strasse durchaus belebt war, vermittelte sie mir eine gewisse Trostlosigkeit. Die Atmosphäre, die diese Strasse einst aufzuweisen hatte, war meiner Empfindung nach total verschwunden. Mein Sohn hatte mehr als 1000 Fragen und ich gab nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft. Im Operncafé gegenüber der "Neuen Wache" legten wir eine Pause ein, um etwas zu essen. An einem Ecktisch am Fenster wurden wir "platziert" an dem schon ein älteres Ehepaar sass. Freundlich machte der Herr meinen Sohn auf die gerade stattfindende Wachablösung aufmerksam und erklärte ihm bereitwillig, genau wie ein Opa seinem Enkel, den Sinn und Zweck dieses Mahnmals. Das Zeremoniell der Wachablösung mit militärischer Perfektion fand mein 10 Jahre alter Sohn äusserst spannend, denn so etwas hatte er noch nicht gesehen. Später liefen wir zurück in Richtung "Brandenburger Tor". Jens konnte es kaum erwarten , es von ganz nah zu sehen. Gross war seine und auch meine Enttäuschung, denn auch auf Ostberliner Seite war es ebenfalls weiträumig abgesperrt. Einmal anfassen oder drunter durchgehen war also unmöglich. So machten wir kehrt und traten den Heimweg an.
Zufrieden und irgendwie auch glücklich hatte mein Sohn all die Bauten von Schadow und Schinkel betrachtet. Wenngleich sie nicht mehr so vollkommen dastanden wie einst und ihre Mauern und Türmchen noch immer die Zeichen des Krieges trugen, hatten sie in ihm doch einen tiefen Eindruck von der einstigen Pracht und dem Glanz des alten Berlin hinterlassen. Aus tiefstem Herzen, mit einem sonderbaren Glanz in den Augen, sagte er zu mir einen Satz, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde.

"Mutti, jetzt weiss ich, dass ich in der grössten Stadt Deutschlands, der Hauptstadt Deutschlands lebe. Das hier ist - die Hauptstadt Deutschlands!"

Wieder in der Gegenwart
Nachdem ich dieses Erlebnis meinem Besuch geschildert hatte, blickten wir uns gegenseitig an und waren der gleichen Meinung. Es ist einfach gut und schön, dass es keine Mauer mehr gibt. Berlin ist wieder Berlin, auch wenn es sich sehr verändert hat. Aber - solange das "Brandenburger Tor" noch steht und " Unter den Linden" die Bäume noch blühen, wird B e r l i n nicht untergehen.

Übrigens gehörte mein Sohn zu den ersten Westberlinern, die am 9. November 1989 über die löchrig gewordene Mauer kletterten und zum Brandenburger Tor liefen.



jupy, März 2002