Es ist Wochenende. Ein Sommerwochenende im Jahre 1956. Ich bin sechs Jahre alt und gehe an diesem herrlich Sommertag mit meiner Mutter nach Wendenschloß, in die öffentliche Badeanstalt. Wendenschloß ist ein kleiner Bezirk in Köpenick. Hier stehen wunderschöne Villen die von einem Wald und mit viel Wasser umgeben sind. Die Badeanstalt ist neu. Es gibt weißen Sand, satte, grüne Spielwiesen, eine Schaukel, eine kleine Gaststätte und das Allerbeste auf der ganzen Welt, ein lange, lange Rutschbahn direkt hinein in das Wasser.
Am Wochenende hatte meine berufstätige Mutti immer Zeit für mich. Dann gingen wir gemeinsam in die Badeanstalt und tobten uns so richtig aus. Ich konnte mit fünf Jahren schon schwimmen, aber trotzdem durfte ich das noch nicht ohne Aufsicht tun. Nur in Muttis Begleitung schwamm ich fröhlich neben ihr her und schnatterte ihr vergnügt die Ohren voll. Alleine erlaubte mir meine Mutter nur bis zum Bauchnabel in`s Wasser zu gehen, wobei ich zugeben muß, daß damals mein Bauchnabel ziemlich dicht unter dem Hals lag. Wie auch immer, ich rannte in der Badeanstalt voraus, suchte uns einen schönen sonnigen Liegeplatz im warmen Sand und zog mich rasch um. Meine Mutter machte sich eine Sandkopfstütze und ich rannte schon mal vor, um die Wassertemperatur zu prüfen.
Plötzlich sah ich einen langen, schwarzen Gummischlauch im flachen Wasser liegen. Iiii, das fand ich eklig. Trotzdem das Ding mir Angst einjagte, zog ich ihn heraus und legte ihn in den feuchten Sand. Ich stellte fest, daß dieser Schlauch einen Kopf und zwei hintere Flossen und zwei vordere Flossen hatte. Ich rief nach meiner Mutter. Sie kam und ich zeigte ihr meinen komischen Fund. Mutti lachte, zog das Gummiding zurück in das Wasser, säuberte ihn und blies ihn auf. Das schwarze Gummimonster wurde ein wunderschöner Seelöwe. Ich freute mich, denn ich hatte endlich etwas zum spielen. Die Freude wehrte aber nicht lange, denn Mutter bestand darauf diesen Fund beim Bademeister abzugeben. Ich fand das nicht so wichtig. Es war ja schließlich kein Piratenschatz aus Gold und Silber. Außerdem hieß er Benjamin. Es war mein Benjamin, denn ich hatte ihn gefunden. Der Bademeister versprach mir wenn der Besitzer ihn nicht abholt, bekomme ich ihn in der nächsten Woche zurück. Enttäuscht zuckte ich mit den Achseln und war mit meiner Mutter eingeschnappt.
Das nächste Wochenende kam. Die Sonne schien herrlich warm. Mutti und ich machten uns auf den Weg in die Badeanstalt. Ich rannte sofort zum Bademeister um Benjamien abzuholen, aber er sagte mir, daß mein Seelöwe als Vorlage für ein Kunstobjekt gebraucht wird. Ich müßte mich noch eine Woche gedulden und dann bekomme ich ihn ganz bestimmt zurück. Blödes Kunstobjekt, dachte ich. Was kann das schon sein. Schlecht gelaunt ging ich auf die lange, lange Rutsche und rutschte ganz langsam in das kühle Wasser. Dieses Wochenende war damals super blöd für mich.
Wann ich tatsächlich meinen Seelöwen wieder bekam und wie lange ich mit ihm spielte bevor die Nähte platzten, weiß ich heute nicht mehr. Aber das Kunstobjekt, das kann ich auch noch im zwanzigsten Jahrhundert bewundern. Ein großer, aus schwarzem Marmor angefertigter Seelöwe steht seit 1956 in der Badeanstalt. Stolz schaut er in die Sonne und bewacht die immer noch grünen Liegewiesen im Strandbad Wendenschloß. Tausende Kinder toben bis heute auf ihm herum. Sie schmusen mit ihm, sie streicheln ihn und rutschen ausgelassen auf Benjamien hin und her. Er ist in diesem Strandbad der Liebling vieler Badegäste. Nur wenn ich komme, dann kommt es mir so vor, als stelle er sich auf seine hinteren Flossen, gluckst mir fröhlich entgegen und schlägt sich vor Übermut die vorderen Schwimmflossen gegen seine riesige Marmorbrust. Natürlich streichel auch ich ihn und selbstverständlich sonne ich mich nur auf der mittelsten Liegewiese, dicht neben meinem alten Freund. Benjamien und ich, das ist eine lebenslange Freundschaft. ... und wenn ich Glück habe, kann ich meinen Seelöwen noch viele Jahre besuchen.