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Townstories

Stand:


17 Uhr am Hermann-Platz in Berlin - 18. März 1999

von Margot Gruner


Heute herrscht klarer Sonnenschein, es ist aber ausgesprochen kühl. Auf dem Hermann-Platz ist das übliche Nachmittags-Menschengewimmel unterwegs.
Es ist Markttag und an den Blumen-, Gemüse-, Textilständen stehen Schau- und Kauflustige. Hier am Stand gibt es Hausschuhe in vielen Farben, aber nur in einer Form und alle aus dem gleichen Material, sehr rationell für den Hersteller. Die Kosten sind 5,- DM pro Paar. Eine junge Frau mit einem ziemlich bepackten Kinderwagen, in dem das Kind kaum Platz hat, kauft gleich 3 Paar. Ihr Gesicht sieht leicht verquollen und müde aus. Der Verkäu-fer freut sich über das Geschäft und steckt den Einkauf für die Kundin in eine Plastetüte. Die Frau verstaut das Päckchen hinter dem Kind und geht weiter. Ihr langes Haar weht im Wind.
Eine andere junge Frau mit schwarzem Kurzhaar, den Rucksack für alle Gelegenheiten auf dem Rücken, wie ihn die jungen Mädchen überall mit sich herumschleppen, sucht sich grüne Hausschuhe aus und zahlt mit einem 5,- DM-Schein.
Der Verkäufer ruft lauthals seinem Partner, der am anderen Stand-Ende Socken verkauft, zu: "Heute der erste Kreuzberger Dollar!" und schwenkt den grünen Schein, bevor er ihn in die Geldtasche steckt. Die grünen Schuhe verschwinden im Rucksack, ohne Plastetüte. Am Kerzen- und Duftmittelstand ist es ganz leer, aber ein unbeschreiblich exotischer Duft zieht den Marktbesuchern in die Nase. Am Gemüsestand wird gut gekauft. Die Verkäuferin ruft mit lauter Stimme: "Na, junge Frau, woll'n Se noch'n Blumenkohl? Schöne Erd-beeren hab' ick ooch, 3 Schalen für 6,- DM!"
Die alte Frau, die vor ihr steht, mit Wollschal und Strickhandschuhen, sagt:
"Nee, nee, is man jut. Heute will ick bloß neue Kartoffel. Neh'm Se sich man det Jeld aus meen Protejuchhee!"
Die beiden anderen Verkäuferinnen handeln ebenfalls mit ihren Kunden. Der dicke, junge Bursche im Trai-ningsanzug meint gemütlich: "Ick brauch' noch Obst, ick mach' jrade ‚ne Obstdiät!"
An den Textilständen ist das übliche Gewühle am Ausgehängten und Ausgelegten. "Mama, koofste mir det T-Shirt?" Ein Steppke zupft seiner Mutter am Jackenärmel herum. "Wozu willste denn nu' schon wieder een T-Shirt? Und denn noch so'n rotet?" "Wir wollen Fußball spielen und ick bin inne rote Elf, Mama!" Mama läßt sich breitschlagen und knappe 5,- DM für so ein Kinder-T-Shirt sind gerade noch so zwischendurch erschwing-lich. Der Mann mit dem Würstchen-Bauchladen dreht auch wieder seine Runden. Der leckere Duft läßt den Vorbeischlendernden das Wasser im Munde zusammen laufen.
"Hier gibt's frische Riesenwiener, hier gibt's frische Bockwurst mit Schrippe, Senf und Ketschup! Die Riesen-wiener 2,- DM, die Bockwurst mit Brötchen 3,-DM. Kauft Leute, kauft bevor der Euro kommt!" Schon finden sich 3 Käufer bei ihm ein und lassen sich die warmen Würste schmecken.
An den Ampeln, die zum Kaufhaus "Karstadt" leiten, ist ein wahrer Menschenstau. Viele Kopftuch-Frauen und -Mädchen sind hier zu sehen. Die meisten von ihnen haben Kinder an der Hand. Alle hasten und eilen weiter. Die einen sind schon mit ihren Einkäufen beladen, die anderen haben die Einkäufe noch vor sich. "Karstadt" baut um, aber der Verkauf geht weiter.
Die Schaufenster sind z.Z. leicht verstaubt, aber sicher werden die Auslagen etwas später als Schnäppchen ver-kauft.
Und da sitzt er. An der Straßenkreuzung auf der Ecke des Schutzgitters. Die Strickmütze ist fast bis über beide Augen gezogen, er hat Handschuhe an, er ist in einen dünnen Mantel gewickelt und die Hosenbeine schlottern um die mageren Beine. Er hält einen weißen Plastebecher in der einen Hand und in der anderen ein Pappschild auf dem steht:
"Aids macht einsam!"
Er ist in dem ganzen Verkehrs- und Menschengetümmel wahrlich sehr einsam. Alleingelassen mit seiner Krank-heit. Sehr wenig Geldstücke und auch nur kleine Münzen liegen auf dem Bechergrund. Mir scheint, er hat sich aufgegeben, ist nicht mehr in der Lage zu kämpfen.
Es ist kalt, viel zu kalt für ihn und viel zu kalt für mich, um mich noch weiter um zu sehen. Auch mein Obulus wird ihn nicht mehr erwärmen.

Margot Gruner