Es ist kühl, aber die Sonne scheint. Es ist der Juni. Auf die neben stehende Bank setzt sich ein Paar mit Blumen. Genau: heute haben wir einen Sonnabend - den Hochzeitstag. Mit diesem Gedanken strömt eine prächtig angekleidete Leutengruppe aus dem Rathaus, aus dem vor kurzem restaurierten "weißen Schwan" von Kaunas. Ein junger Mann in neuem Anzug (Bräutigam, meine ich) lässt die Hand eines jungen Mädchens in langem weißem Kleid (das ist die Braut, daran zweifle ich nicht) nicht los. Beide sind gespannt, aufgeregt, aber glücklich.
Ein starker Windstoß reißt mir ein Heft aus den Händen weg. Auf dem Pflaster liegt mein Heft. Auf seiner aufgeschlagenen Seite ist es in fetten Buchstaben geschrieben: "Franz Kafka". Das bringt mich in meine Realität zurück: ich habe doch heute meine letzte Prüfung. Weltliteratur… Ich lese weiter, wiederhole.
Wenn es draußen das gute Wetter ist, gehen wir oft während der Pausen auf den Rathausplatz spazieren. Wir sitzen da oft, plaudern. Da bummeln oft viele Studenten. Sie studieren nicht nur an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Vilniusser Universität in Kaunas (wo ich schon drei Jahre lang Deutsch studiere), sondern auch an der Kunstakademie. Die beiden Hochschulen befinden sich in einer kleinen Straße neben dem Rathausplatz (Muitines Str.)
Die Hochzeitsteilnehmer trinken Sekt, machen sich laut. Jetzt gehen sie den ganzen Rathausplatz hindurch zur Kathedrale, meine ich: um das Segnen des Gottes für die Union zweier Leute zu bekommen. Wie schön scheint das weiße Brautkleid im Sonnenlicht auf dem Grunde der roten Kathedralesteine! Die Hochzeitsteilnehmer verschwinden hinter die große Kirchentür…
Ich lese über F.Kafka weiter. Aber meine Gedanken sind irgendwo… Vielleicht gehe ich schon… Es reicht…
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Die Prüfung ist bestanden! Jetzt beginnt der richtige Sommer!
Mit einigen Mitstudentinnen beschließen wir heute noch ein wenig zusammen zu bleiben. Wir werden uns doch den ganzen Sommer lang nicht sehen. Wir laufen zum Zusammenflusspark: da in der Nähe fließen zwei größte Flusse Litauens Nemunas und Neris zusammen. An diesem historisch wichtigen Ort wurde im XIII Jh. die Steinburg gebaut, um gegen die feindlichen Angriffe der Kreutzritter zu schützen. Das ist die erste Schutzsburg und Stadtmauer. Um die Burg herum wurde die Siedlung gegründet, die auf die jetzige Stadt aufwuchs. Sonnabends verbringen hier immer viele Leute ihre Freizeit.
Da an der Kaunasser Burg sind wieder Hochzeitsteilnehmer zu sehen. Da sind aber schon die anderen Leute. Sie trinken Sekt, machen Photos. Vor einigen Jahren haben wir da auch einige Photos gemacht. Die Photos waren wirklich gut. Kaunasser Burg, Türme von Rathaus und Jesuitenkirche schenken den Bildern Schönheit und Bedeutung dazu: wir verewigen unsere Jugend auf dem Hintergrund der ewig stehenden Symbole von Kaunas.
Die Sonne scheint. Es ist ruhig im Herzen. Es ist schön im Juni in Kaunas. Da fühle ich mich zuhause…