Vor einem drei viertel Jahr war Maurizio, ihr Sohn, mit Frau und Tochter nach Rom gezogen. Eure berühmten Geschlechtertürme gehen mir auf die Nerven, hatte er ihnen dargetan, und dafür, dass San Gimignano als Weltkulturerbe auf irgendeiner UNESCO-Liste steht, kann ich mir nichts kaufen. Und würden sie ihn dreist mit Wildschweinsalami, sogar getrüffelt, vollstopfen und täglich den Vernaccia zum Trunke geben, er müsse weg von hier. Seitdem sitzen die Alten allein in ihrem Ziegelsteinhaus, auf das der Schatten des Torre Grossa, des ,,Dicken", erst fällt, wenn die Sonne tief über dem Hügelland des Chianti steht. Eltern sind für die Kinder nun mal so selbstverständlich, dass sie deren Anliegen kaum wahrnehmen.
Die jungen Leute wohnten seitdem im XI. Municipio von Rom, ihr Stadtteil hieß Garbatella, von dem die Alten bis dahin noch nie etwas gehört hatten, und der in den touristischen Stadtführern nicht vorkommt. Es ist ja auch ein für das hoch bejahrte Rom blutjunges Quartier im Süden, in das hinein die Campagna ihre letzten Hügel schiebt. Angedacht als Gartenstadt wurde Garbatella nach Mussolinis Machtantritt zwischen 1925 und 30 als Arbeiterviertel, womöglich als eine Art Arbeiterghetto, gebaut, ursprünglich nur mit einer einzigen Straßenbahnlinie an Rom gebunden, zwischendrin Gaswerke, Industrie, ein Großmarkt. Zu den Gartenhäusern wurden Wohnblöcke beträchtlicher Ausmaße gestellt, von außen prächtig anzusehen, innen meist sehr bescheiden, die Amtsgebäude in faschistisch-antiker Aufgeblasenheit. Am Piazza Bartolomeo Romano im Zentrum entstand ein kolossaler Halbrundbau mit dem ,,Palladium"-Kino, das längst geschlossen war, ihm gegenüber ein gleich pompöser Bau, welcher einst ein Stundenhotel der besonderen Art beherbergte. Hier konnten Familien baden, denn in den tollen neuen Häusern gab es fast keine Badezimmer: es kam auf die Fassade an - dass das auch heute noch so ist, wussten selbst die alten Leute aus der Toskana. Ihr Sohn hatte das Glück, in einem hübschen, -beinahe stadtvillenartigen Häusergeviert nahebei in der Via Luigi Fincati eine Mietwohnung zu erwischen. Die meisten Behausungen waren in Eigentumswohnungen umgewandelt worden und somit für ihn unerschwinglich. Das Innenkarree, in schlechter Zeit Gemüsegarten, paradierte mit vielerlei Blumen, ein Jasminstrauch unter dem Balkon schickte tags und nachts zuckersüßen Duft hochwärts.
Endlich hatten sich die Alten aufgerafft, die Kinder in Rom zu besuchen, mit Omnibus und Eisenbahn nicht ohne Mühen. Sie hielten ohnehin wenig vom Reisen, besuchten nur einmal im Jahr Siena, wenn dort auf dem schrägen Campo die Pferde um den Palio delle Contrade galoppierten. Maurizio erwartete sie in Rom beim Termini-Bahnhof. Garbatella hat eine eigene Metrostation. Gleich am ersten Abend unternahmen sie einen Spaziergang durch ein gewelltes Gartenviertel, das sie ein wenig mit der großen Stadt versöhnte. In den Vorgärten zeigten Apfelsinen- und Zitronenbäume ihre Früchte her, etwas zurück die pummeligen Oliven, und an den Mauern kletterte blühend die Bougainvillea. Als sie schließlich das klare Wasser vom ,,Carlotta"-Brunnen tranken, fühlten sie sich ein bisschen wie zu Hause.
Sohn und Schwiegertochter hatten tagsüber keine Zeit für sie, die Enkelin täuschte Vollbeschäftigung vor, doch war das Interesse der Alten an Sehenswürdigkeiten ohnehin genüßlich. Freilich fiel der zweite, und vorletzte, Besuchstag auf einen Mittwoch, und da wollten die beiden die allwöchentliche Audienz des Papstes auf dem Petersplatz besehen.
Natürlich waren sie viel zu früh am Ort und gingen deshalb noch in den Petersdom, nachdem sie zuvor von Sicherheitsbeamten wie Verbrecher inspiziert worden waren. Die Kirche schien wie ein Gigant auf sie herabzusehen, und sie fühlten sich so winzig, dass ihnen nicht einmal der Sinn nach Beten stand. Sie fassten sich an den Händen und gingen hastig auf das Grab des Petrus zu,
dessen fünfundneunzig Lampen wenigstens etwas Wärme versprachen. Dabei passierten sie das sehr alte Bronzedenkmal jenes Jüngers auf dem Thron, vor dem Menschen in einer Schlange standen. Sie bemerkten mit Entsetzen, dass einer nach dem anderen einen Zeh des Petrus anfasste und sich dann grienend den Blitzlichtkameras zuwandte. Verstört verließen sie den Dom.
Sie mussten sich auf dem riesigen, von Berninis Säulenkolonnaden wie Besitz ergreifend umfassten Ort weit hinten einen Stehplatz suchen. Auf der umzäunten Freifläche unmittelbar vor dem Dom war bereits der Baldachin des Papstes aufgebaut, darunter dessen Thron. Die vielen Stühle davor stand en für hohe kirchliche Würdenträger und andere bedeutsame Menschen, sie machten aber auch einige Brautpaare aus. Die Fläche des Petersplatzes vor diesem erhöhten Areal war bis noch hinter den Bernini-Brunnen wiederum umgattert und nur nach Vorzeigen eines ,,Bigliettos" für die heutige ,,Udienza Generale Di Sua Santita" erstaunlicherweise gebührenfrei, zu betreten. Hier saßen die Gruppen, deren Anträge vom Vatikan positiv beschieden worden waren. Als sie pünktlich um 10 Uhr von einem Sekretär namentlich begrüßt wurden, bewerkstelligten sie, von den Stühlen aufspringend ein so lautes Spektakel, wie es die beiden aus San Gimignano nicht einmal auf dem Jahrmarkt erlebt hatten. Es waren Hunderte oder vielleicht Tausende. Später kam, endlich, der Papst vom Vatikan her im ,,Papamobil", das zu ihrer Verblüffung die Stufen zur erhöhten Freifläche hinauffahren konnte. Die wenigen Schritte zum Sessel musste er geführt werden, seinen verkrümmten Körper konnte er auf einem aus der Armlehne des Thrones gedrehten Tischchen abstützen. Sie konnten all dieses auf vier Großbildschirmen minutiös verfolgen, welche durch mehrere Lautsprecherbatterien komplettiert waren. Über Mikrofon begrüßte Johannes Paul II. alle Sprachgruppen und trug die Tageslosungen der Bibel in deren Idiom vor, ausgewählte Pilger wurden von ihm namentlich erwähnt. Inzwischen war mehr als eine Stunde vergangen, sodass den Alten das Stehen zunehmend schwerer fiel. Als das Defilee der Kardinäle, die Mann für Mann den Ring des Papstes küssen durften, begann, verließen die beiden den Piazza San Pietro. Sie waren im Inneren zwiespältig erregt.
Auf der breiten Via della Conciliazione spazierten sie zum Tiber hinunter, vor sich den gewaltigen Rundbau der Engelsburg, auf einer quadratischen Bastion hochgestellt. Wenigstens hatte der riesige Engel im Kugelhof, der sich dereinst auf der Spitze des Palais reckte, sein Schwert in die reichlich krumme Scheide gesteckt. Kaiser Hadrian hatte sich den unteren Teil als sein Mausoleum bauen lassen, im 2. Jh. nach der Geburt des Sohnes jenes Gottes, dem in Demut zu dienen die katholischen Würdenträger, die sie gerade beobachtet hatten, vorgeben. Weil der Tod womöglich der Einzige ist, der sich nicht durch Irgendetwas beeindrucken läßt, musste Hadrian bereits vom Erdenrund abtreten, bevor sein Totenhaus fertig war: ,,Mors certa, hora incerta" - der Tod ist gewiss, die Stunde ist ungewiss, das wussten die alten Römer, aber nicht ihr Kaiser. Als zwölf Jahrhunderte später, in denen das Mausoleum zur Festung verkommen war, die Päpste die Engelsburg übernahmen, ließen sie sie gleich fünf Stockwerke höher bauen - immer schon schien ihnen ihre Rolle und der Ruhm bedeutungsvoll.
Ponte San'Angelo, die Engelsbrücke nebenbei, stammt auch aus Hadrians Zeiten, ihre zehn Engelsstatuen wurden später in Berninis Werkstatt aus Marmor geschlagen. Kaum hatten die beiden, tief beeindruckt, das altehrwürdige Viadukt betreten, tauchten vier kleine Kinder auf, die sich vor ihnen aufbauten. Ihre Gesichter lächelten so sanft wie die Kinder in Verrochios Zeichnungen aus der Renaissance. In den Händen hielten sie leere Pappkartons, mit denen sie singend und lachend vor den Gesichtern der Alten, die gern stehengeblieben waren, herumfuchtelten. Sie freuten sich über das lustige Spiel der Kleinen. Plötzlich wurde der Frau durch einen fünften Knaben, der sich derweil von hinten angeschlichen hatte, die Handtasche weggerissen. Der rannte mit dem Diebesgut blitzschnell die Steintreppe am Anfang der Brücke zum Ufer hinunter und verschwand. Als die beiden sich umwandten, waren die Jungen mit den Pappen schon jenseits des Überganges. Die Alten zitterten vor Schreck wie Espenlaub, die Frau rang um Luft, sie klammerten sich an das Brückengeländer. Endlich konnten sie weinen. Da umfassten sie sich und beschlossen, noch an diesem Tag nach Hause zu fahren - und niemand könnte sie dazu bringen, eine Münze in die Fontana di Trevi zu werfen.