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Dietrich Bösenberg


Erinnerungen an Flucht und Vertreibung am Ende des 2. Weltkriegs
Unsere Familie lebte in dem Teil Schlesiens, der bis zum Kriegsende von Kriegshandlungen verschont geblieben war. Unsere Mutter mit ihren 4 Kindern zwischen 3 und 12 Jahren – der Vater war ein Jahr zuvor gefallen – stand mit der herannahenden Front immer wieder vor der schwierigen Frage, was sie zum Wohle der Familie unternehmen sollte und könnte - abwarten oder sich den vielen Flüchtlingen Richtung Westen anschliessen. - Aus den Erinnerungen der 4 Geschwister an diese schwere Zeit entstanden 50 Jahre später die nachfolgenden mosaikartigen Schilderungen.


Missglückte Flucht aus G., Mai 1945
Bis wenige Tage vor dem Ende des Krieges war, wie gesagt, unsere Heimatstadt von Kampfeinwirkungen verschont geblieben. Sie war voll von Flüchtlingen und ständig rollten lange Kolonnen weiterer Menschen auf der Flucht durch die Straßen. Hinzu kamen zurück flutende deutsche Soldaten auf dem Wege zu irgendwelchen neuen Positionen, teilweise schon in Auflösung begriffen.
Ausgelöst von in der Stadt kursierenden Berichten über chaotische Zustände bei der Besetzung durch russische Truppen, versuchten viele Familien, im letzten Moment vor Kriegsende in den Westen Deutschlands in den amerikanischen Einflussbereich zu gelangen, wo man sich ein günstigeres Schicksal erhoffte.
So hatte schließlich auch unsere Mutter beschlossen, mit ihren 4 Kindern die Flucht nach Westen zu versuchen.. Am Tag vor dem Waffenstillstand war es gelungen, einen jungen deutscher Soldaten zu finden, der mit einem offenen Wehrmachts-Lkw bis jenseits der Elbe gelangen wollte, wo er die amerikanischen Truppen vermutete. Er war bereit, uns, d.h. eine Gruppe von ca. 20 Frauen und Kindern, mitzunehmen und ließ uns auf die Ladefläche steigen, wo neben Reserve-Benzinkanistern gerade noch Platz für uns und unser minimales Gepäck war. Am Abend des 7. Mai 1945 verließen wir die Stadt, kurz nach der Abfahrt hörten wir starke Detonationen, die vermutlich auf die Sprengung der letzten Brücke zurückzuführen waren.
Die Fahrt führte ins absolut Ungewisse, da weder die Zuverlässigkeit des Fahrers noch die Chancen für ein Durchkommen einigermaßen abschätzbar waren. Immer wieder gab es Stopps und Unterbrechungen, das eine Mal wegen unpassierbarer Straßen, ein anderes Mal wegen zu hörender Schießereien oder anderer gefährlicher Situationen.. Wiederholt ereigneten sich Unfälle, als z. B. unser Fahrzeug in den Straßengraben gerutscht war und nur mit Mühe mit Hilfe von zufällig in der Nähe vorhandenen Pferden einer Flüchtlingskolonne herausgezogen worden konnte. In einem anderen Fall half eine deutsche, auf der Flucht befindliche Zugmaschine aus einer ähnlichen Situation. Schließlich stoppten russische Truppen in der Gegend von T. in der Tschechei endgültig die Weiterfahrt und alle Personen wurden in ein nahes Bauernhaus eingewiesen.
Der erstaunlicherweise noch bewirtschaftete Hof war keineswegs sicher, denn immer wieder erschienen militärische und zivile Patrouillen auf der Suche nach versteckten SS-Leuten. Mehrfach wurden alle Anwesenden, Frauen und Kinder, an die Wand gestellt, mit Maschinenpistolen bedroht und entsprechend ausgefragt. Groß war die Erleichterung, dass niemand gefunden wurde, wobei wir erst später erfuhren, dass unser Lkw-Fahrer sich auf dem Heuboden des Hofes versteckt hatte und nur durch Zufall unentdeckt geblieben war, weil der Aufgang durch eine Stalltür überdeckt wurde.

Auf den umliegenden Wiesen waren in großem Umfang militärische Ausrüstungsgegenstände weggeworfen worden. Für die ahnungslos spielenden Kinder entstanden daraus erhebliche Gefahren, denn sie sammelten u.a. auch Waffen und Munition auf, darunter sogar Panzerfäuste. Einmal hat irgend jemand im letzten Moment einen Jungen davon abgehalten, eine Panzerfaust tatsächlich abzuschießen, was zu unvorstellbaren Schäden und Problemen geführt hätte.

In Erinnerung blieb uns allen auch eine große Abteilung entwaffneter Soldaten fremder Herkunft, die in der Nähe des Bauernhofes auf dem blanken Boden im Freien lagerten. Eingeprägt haben sich vor allem ihre sehr eindrucksvollen Gesänge, die immer wieder zu hören waren. Erst später verstanden wir, dass es sich wohl um Angehörige einer ehemaligen russischen Militäreinheit handelte, die auf deutscher Seite gekämpft hatte und deren Schicksal besiegelt war.
Ein Fortsetzung unserer Fahrt in Richtung Westen war nicht mehr möglich und die ganze Flüchtlingsgruppe wurde gezwungen, an den Ausgangsort zurückzukehren. Der Weg nach G. musste zum großen Teil zu Fuß zurückgelegt werden.


Die letzten Monate in G., von Mai 1945 – Februar 1946
Nach Rückkehr vom misslungenen Fluchtversuch fanden wir unser Haus von russischem Militär besetzt, die zurückgebliebenen deutschen Bewohner des Mehrfamilienhauses hatten ihre Wohnungen verlassen. müssen. Unsere Wohnung war zwar intakt, jedoch durften wir sie nicht mehr beziehen und mussten uns irgendwo eine andere Unterkunft besorgen, was angesichts der chaotischen Verhältnisse sehr schwierig war.
Zu Beginn war es uns Kindern gelungen, trotz der Besetzung doch mehrmals unbemerkt die Wohnung zu betreten. Während die russischen Offiziere in unserem ehemaligen Wohnzimmer feierten, konnten wir einige wichtige Utensilien, wie Bettdecken, aber auch Kinderspielsachen u.ä. aus dem Fenster in den Garten werfen, von wo wir sie in unsere provisorische Unterkunft brachten.

Immer schwieriger geworden war die Ernährung, da Lebensmittelmarken nicht mehr existierten und nach kurzer Zeit die polnische Verwaltung die polnische Währung eingeführt hatte. Die deutsche Bevölkerung hatte jedoch praktisch keine Verdienstmöglichkeiten, deutsches Geld wurde weder akzeptiert noch ausgezahlt. In dieser Lage war es wichtig, dass auch wir älteren Kinder mit 11 und 12 Jahren zur Beschaffung von Lebensmitteln beitrugen. Häufig gingen wir morgens noch bei Dunkelheit mit Rucksäcken auf die umliegenden Felder, um dort liegende Kohlköpfe und sonstiges Gemüse aufzusammeln. Die deutschen Besitzer waren einverstanden, da sie selbst nicht für sich ernten durften. – Auch mussten wir beim einzigen noch arbeitenden deutschen Bäcker um Brot anstehen, wobei es oft vor kam, dass wir nach stundenlangem Warten nichts mehr ergatterten und mit leeren Händen und Mägen zurückkehrten.

Nicht ungefährlich, aber notwendig waren Touren, die die beiden älteren Geschwister unternahmen, um Kohle vom weit entfernten Bahnhof zu besorgen, was nur durch regelrechtes Stehlen möglich war. Dies musste natürlich bei Dunkelheit geschehen, wobei wir mehrfach nur knapp einer Entdeckung entkamen, deren Folgen nicht auszudenken waren.

In der letzten Phase wurde unsere Familie erneut aus dem bis dahin provisorisch bewohnten Haus gewiesen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als in einer verlassenen, bei der Besetzung der Stadt geplünderten Villa unterzukriechen. Im verwüsteten Garten des Anwesens lagen Berge von Gerümpel, neben zerstörtem Mobiliar auch Waffen, Pistolen, Munition und Bajonette. Im Keller des Hauses fanden wir verweste Tierkadaver, Ratten liefen überall herum. Trotz der totalen Verwüstung des Hauses mussten wir uns dort für einige Wochen einrichten. Dazu konnten wir provisorisch einen alten Herd herrichten, zum Feuern wurde zerbrochenes Mobiliar verwendet. Das Essen für die fünfköpfige Familie bestand zeitweise nur noch aus irgendwo gefundenen Kartoffeln und Mehlbrei, der mit Wasser und Süßstoff angerührt worden war. Auf dem Küchenboden tanzten buchstäblich die Mäuse herum. Minimale Beträge zum Erwerb von einigen wenigen Lebensmitteln konnte unsere Mutter durch Putzarbeit bei mitleidigen polnischen Familien verdienen.
Schließlich wurde unser sofortiger Abtransport angeordnet und wir wurden mit minimalem Gepäck zunächst in eine alte Kaserne eingewiesen, um am nächsten Tag zum Hauptbahnhof zu ziehen. Dort standen Viehwaggons bereit, die wir zu besteigen hatten, wobei so viele Menschen in einen Wagen kamen, dass quälende Enge herrschte. Zum Glück – es war Februar 1946 und bitter kalt – hatten wir ein stehen gebliebenes Öfchen gefunden, das wir unbemerkt einladen konnten. Holz wurde durch Demontieren herrenloser Leiterwagen besorgt. Und noch ein Glücksfall war es, dass wir eine schwere Kette "organisieren" konnten, mit der unsere Waggontüre von innen gesichert wurde. So entgingen wir dem Schicksal vieler anderer Waggons, die auf der Fahrt in Richtung Westen von aufspringenden räuberischen Banden zusätzlich ausgeplündert wurden.
Nach Überschreiten der Grenze zu Ostdeutschland und Aufenthalten in mehreren Auffanglagern, wurden die im Zug befindlichen Flüchtlinge in weiter entfernt liegende Regionen Deutschlands verteilt. Unsere Familie fand sich nach tagelanger Fahrt in Ostfriesland wieder.

Dietrich Bösenberg
Juli 2009