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Eine Familien Geschichte unserer Zeit -
Die 1930er Jahre und später
"Vor mehr als einem halben Jahrhundert" klingt weit entfernt, wenn man dieses Etikett an sein eigenes Leben heftet - aber Erinnerungen und Ereignisse in den 1930er Jahren von individuellen Juden in Deutschland unter Hitler müssten für die folgenden Generationen und besonders für unsere Kinder und Enkel dokumentiert sein. Die letzteren können sich in späteren Jahren vielleicht wundern, warum der Großvater einen Schottischen Namen, jedoch aber keine Schottischen Verwandten oder Ahnen hatte.
Unsere Familie - mein Vater, Dr. Michael Siegel, meine Mutter Mathilde, Schwester Maria Beate und ich - lebten bis in die 1930er Jahre ein normales deutsch-jüdisches bürgerliches Leben in München. Die Familiengeschichte meines Vaters habe ich schon bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Franken erforscht. Wir wohnten in einer 4 Zimmer Wohnung im 4. Stock in der Possartstraße 10 in Bogenhausen, wo ich im Februar 1921 auf die Welt kam. Zusammen mit seinem Vetter, Dr. Julius Siegel, war mein Vater geschäftsführender Rechtsanwalt in der sehr bekannten, von seinem Onkel, Leopold Siegel, in den 1890er Jahren in der Weinstraße 11 in München gegründeten 'Kanzlei Siegel', die viele nicht-jüdische sowie jüdische Klienten hatte. Unter den ersteren befanden sich auch Mitglieder der Wittelsbacher königlichen bayerischen Familie. Mein Vater war ein Jude mit liberaler Neigung, obwohl er aus einer orthodoxen jüdischen Familie stammte. Er war prominent und aktiv in der Liberalen jüdischen Gemeinde - er war ein typischer Deutscher Jude, der sich sowohl seiner Nationalität als auch seines Glaubens ganz bewußt war. Außerdem war er ein großer Optimist und Idealist, der 1933 ernstlich glaubte, daß Hitler und sein Regime nur ein kurzfristiges und unwahrscheinliches Phänomen sei.
Jedoch, schon im März 1933 passierte folgendes: Ladenfenster etlicher jüdischer Geschäfte wurden zerschlagen. Der Inhaber eines dieser Geschäfte war Herr Max Uhlfelder, der Besitzer des Kaufhauses Uhlfelder im Tal. Herr Uhlfelder selbst wurde in damalige noch gesetzwiderige 'Schutzhaft' in das Konzentrationslager Dachau genommen. Mein Vater war Herr Uhlfelders Rechtsanwalt. Er machte einen Termin in dem Polizeipräsidium um sich über die Behandlung seines Klienten zu beschweren. Zu der Zeit war der Polizeipräsident ein gewißer Heydrich, der S.A Straßenlümmel als sogenannte "Hilfspolizisten' rekrutierte und benützte. Im Polizeipräsidium haben diese "Hilfspolizisten" meinen Vater fürchterlich körperlich angegriffen, unter anderem ihm einige Vorderzähne ausgeschlagen und das Trommelfell in einem Ohr zerstört. Nach dieser Behandlung hat man ihm dann die Hosenbeine abgeschnitten und ihn blutend, ohne Socken oder Schuhe, barfuß, durch das Zentrum von München getrieben, umgeben von der jetzt mit Gewehren bewaffneten SA Truppe und mit einem Schild um seinen Hals hängend, mit den Worten "Ich bin Jude aber ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren" . Es wurden zwei Fotos dieses Marsches von einem Herrn Heinrich Sanden aufgenommen. Die Negative wurden so schnell wie möglich in die USA verschifft und diese bekannten Bilder sind daraufhin in der ganzen Welt veröffentlicht worden. Sie werden auch heute noch reproduziert in Schulbüchern, Zeitungen und in Fernsehsendungen.
Diese Ausschreitung hätte vielleicht die meisten Männer dazu bewegt, umgehend auszuwandern. Mein Vater, trotz allem was ihm persöhnlich passierte, glaubte immer noch daran, daß es seine Pflicht als Mensch und Jurist wäre, weiterhin anderen zu helfen.
Im März 1933 war ich gerade 12 Jahre alt. Nach den üblichen vier Jahren in der Volksschule (Gebeleschule) besuchte ich das Wilhelmsgymnasium. Ungefähr zu dieser Zeit erstand ein neues Gesetz, das nur Kinder von jüdischen Frontkämpfern (im ersten Weltkrieg) erlaubte in einem Gymnasium zu studieren. Als Kind verlor mein Vater den Daumen an seiner rechten Hand in einer Futterschneidmaschine auf dem Bauernhof seines Vaters. Ohne Daumen konnte er natürlich kein Gewehr halten und er wurde deshalb bei dem Militär nicht angenommen. Anstatt, war er ein Skilehrer mit Offiziersrang bei der Armee, der im Winter Mannschaften im Skifahren ausbildete. Ich war gezwungen, das Gymnasium zu verlaßen und war dann während der nächsten fünf Jahre Schüler in der Höheren Handelsschule der Hansaheime, die ich bis zur Obersekundareife besuchte. Ich kann mich haupsächlich nur noch an die unangenehmen Episoden in dieser Zeit und in dieser Schule erinnern. Als jüdische Jungen mußten wir in den hintersten Pulten sitzen. Unsere Noten, besonders in Deutsch, waren immer schlecht weil: "Juden kein Deutsch lernen können" wie mein Herr Professor zu sagen pflegte. An die jüdischen Jungen in meiner Klasse wurden selten Fragen gestellt aber man hörte an deren Stelle des öfteren antisemitische Bemerkungen von einigen der Professoren, besonders von den jüngeren. Man hat uns bestenfalls als 'nicht-existierend' in der Schule behandelt. Meine Klassen-kameraden waren beinahe alle bei der Hitlerjugend. Ich wurde manchmal auch körperlich angegriffen. Was aber am meisten verletzend war, war die Tatsache, daß man von manchen der nicht-jüdischen Mitschülern oft verhöhnt, beleidigt und ausgelacht wurde und daß man jeden Tag mit ausgestrecktem Arm und "Heil Hitler" die Professoren begrüßen mußte.
Zu Hause sprach man ungern von Politik oder Ausschreitungen. Man hatte Angst vor Mikrofonen, die vielleicht in der Wohnung versteckt waren.
In 1937 faßten meine Eltern den Entschluß, daß ich einen Beruf lernen mußte, der mir in der ganzen Welt von Nutzen sein könnte. Eine Weiterbildung auf der Universität war für mich auf jeden Fall gesetzlich unmöglich. Zu dieser Zeit versuchten meine Eltern auch ein Visum für die USA zu bekommen. Das brachte weitere Probleme, weil man nach Erhalt der nötigen Garantien aus Amerika auf eine Quota kam, die jährlich nur einer geringen festgelegten Anzahl von Deutschen Juden die Einreise nach Amerika ermöglichte. Abgesehen von sehr vielen bürokratischen Hinternissen billigten die Nazis, daß Juden auswanderten, aber unter der strengen Bedingung, daß sie ihr Vermögen in Deutschland gesperrt hinterließen. Gleichzeitig hatten aber sehr viele Länder große Einwanderungsbeschränkungen, weil die ganz Welt wirtschaftlich durch schwierige Zeiten ging.
Ganz abgesehen von diesen Problemen bestandt noch die sehr dringende Frage für meinen Vater: was für einen Beruf er, als Familienvorstand, ausüben könnte? Er war ein Advokat, der seine deutsche Muttersprache und das deutsche Gesetz beherrschte. Der Besitz dieser zwei Eigenschaften taugte wenig in anderen Ländern.
Nach Beendung meiner Schulzeit brachte mich mein Vater als Brauereilehrling für ein ganzes Jahr in der Schlossbrauerei Kaltenberg unter, die damals in dem Besitz der jüdischen Familie Schülein war. Heute gehört sie Prinz Luitpold und Prinzessin Irmgard von Bayern. Ich wohnte in einem Zimmer in dem Turm des Schlosses. Arbeitszeit war von 6 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags. Ich ging durch jede Sparte in der Brauerei. Die Arbeit war körperlich anstrengend aber gefiel mir. Ich fühlte mich dort wohl und hatte niemals irgend welche Schwierigkeiten mit meinen Mitarbeitern. Ich wurde wie jeder andere Lehrling behandelt.
Nach Abschluß der 12 Monate in der Schlossbrauerei Kaltenberg wurde ich am 1. November 1938 als Student in der Münchner Brauereischule Dr. Dömens und Dr. Heller aufgenommen. Mein Vater sprach auch noch davon, daß ich darauffolgend in der weltbekannten Brauereischule Weihenstephan in der Tschechei mein Diplom als Braumeister machen sollte.
Die Ereignisse in der Kristallnacht am 9. November 1938 änderten alle Pläne. An diesem Tag verließ mein Vater die Wohnung vor 7 Uhr morgen um in seine Kanzlei zu gehen. Kurz darauf wurde meine Mutter telefonisch von einer unbekannten Stimme gewarnt, daß die ganze Familie umgehend München verlaßen sollte, weil schlimme Dinge den Münchner Juden bevorstehen. Meine Mutter, meine Schwester und ich fuhren in unserem Auto in die Kanzlei meines Vaters. Er wollte von einem 'weggehen' überhaupt nichts wißen und es dauerte einige Zeit, bis meine Mutter ihn, mit Tränen, endlich davon überzeugen konnte, die telefonische Warnung ernst zu nehmen.
Es wurde beschlossen, daß ich, wie normal, in die Brauereischule gehen sollte, während meine Eltern und Schwester zu ihren Freunden, der Familie Schülein, mit dem Auto nach Kaltenberg fahren würden. Mein Vater gab mir noch 50 Mark in die Hand, falls ich Geld brauchen sollte.
Nach dem Vormittagsuntericht in der Brauereischule ging ich, wie üblich, nach Hause zum Mittagsessen. Unsere Putzfrau warnte mich, daß die Gestapo schon zweimal da gewesen wäre, um meinen Vater und mich zu verhaften. Sie bittete mich so schnell wie möglich das Haus auf der Hintertreppe zu verlassen, was ich auch tat. Der Rat war gut, denn ganz kurze Zeit darauf kam die Gestapo wieder an der Vordertüre an. Irgendwo kaufte ich mir etwas zum Essen und ging dann wieder zurück zum Nachmittags-unterricht.
Um 4 Uhr war es Schulschluß. Nach Hause gehen traute ich mich nicht, aber ich telefonierte. 'Nein', von meinen Eltern hatte sie nichts gehört und 'nein' auf meine Frage ob ich nach Hause gehen könnte , so sagte die Putzfrau. Ich entschloß mich den Eltern nachzufahren und kaufte am Hauptbahnhof ein Billet nach Kaltenberg. 2 Stunden später war ich in der Schlossbrauerei und erfuhr nicht nur, daß meine Eltern schon wieder weg waren, sondern auch, daß die Gestapo kurz nach ihrer Abfahrt kam und Herrn Schülein verhaftete. Also hier zu bleiben war sinnlos. Ich ging zurück zum Bahnhof und wartete längere Zeit auf einen Zug zurück nach München wo ich spät Abends eintraf. Nach Hause konnte ich nicht gehen, wo meine Eltern waren wußte ich nicht, und ich wollte nicht verhaftet werden. Ich entschloß mich zu meiner Großmutter zu gehen, ca. 20 Minuten entfernt, wo ich kurz vor Mitternacht war. Ihre Straße war vollkommen leer. Meine Mutter öffnete die Türe der Wohnung und 'zerrte' mich herein. Den ganzen Tag und Abend standen SA Männer vor dem Haus. Sie wollten meine beiden Onkel verhaften, die aber schon längst über die Gartenmauer der Parterrewohnung geflohen waren und Obdach bei nicht-jüdischen Freunden fanden. Meine Mutter erklärte, daß mein Vater, der noch einen gültigen Reisepaß hatte, mit der Bahn nach Luxemburg gefahren sei. Dort lebte eine seiner Schwestern. Wir blieben noch einen Tag bei meiner Großmutter und dann war die Verhaftungsgefahr und die wahnsinnige Zerstörungsperiode vorüber. Mein Vater kam zirka 2 Wochen später aus dem Ausland zurück.
Ein Weiterbesuch der Brauereischule war jetzt unmöglich. Und dann kam für meine Eltern ein schwieriger Entscheidungs-punkt: meine vier Jahre jüngere Schwester und ich müßten so schnell wie möglich aus Deutschland heraus. Meine Schwester, gerade 14. Jahre alt, kam mit einem "Kindertransport" nach England und wurde dort von einer nicht-jüdischen Witwe herzlich aufgenommen. Sie besuchte eine gute Schule und studierte später an der Universität.
Durch ehemalige Münchner Freunde, die in England lebten, erhielt ich ein Visum, bedingend, nach meiner Ausbildung, wieder zu emigrieren. Ich verließ München um Mitternacht am 21 März 1939. Meine Eltern segneten mich, meine Mutter weinte, aber ich war weniger traurig als aufgeregt über das was mir bevorstand. 24 Stunden später, mit den gebilligten 10 Mark in der Tasche und 2 Koffern, wurde ich von unseren Freunden von der Liverpool Street Station in London abgeholt.
In Kürze fand ich ein Zimmer in einem 'boarding house' in der Bloomsbury Gegend und verdiente £1 pro Woche als Mitarbeiter in dem nahe gelegenden "Jüdischen Flüchtlings Komitee" im 'Bloomsbury House'. Ich mußte natürlich selbst für mich sorgen. Mein Zimmer hatte einen kleinen Gas Ring zum kochen und kostete wöchentlich 11 Schillinge (20 Schillinge = £1). Meine Lieblingsmahlzeit bestand lediglich aus einer Dose Annanaswürfel mit Schlagrahm ! Ein paar Wochen später nahm ich eine Stelle als Kinofilmvorführerlehrling in Liverpool an. Das war ein großer Fehler. Ich lernte nichts, das Kino hatte Holzbänke und war ein einem der ärmsten Viertel von Liverpool gelegen. Ich hatte kein Geld zurück nach London zu fahren und ich war mehr als froh, daß mein Vater mir ein Zugbillet senden konnte. Am 18 August 1939 war ich wieder in London bei dem "Jüdischen Flüchtlings Komitee".
Zwei Wochen nach meiner Rückkehr aus Liverpool brach der Krieg aus und, als deutscher Staatsbürger, wurde ich über Nacht ein "feindlicher Ausländer". Vier Wochen später mußte ich vor einem Gerichtshof erscheinen, dessen Aufgabe es war, zu entscheiden, ob ich ein wahrer Flüchtling sei. Ich hatte keine Schwierigkeiten das mit Hilfe des bekannten Fotos meines Vaters zu beweisen.
Die Stimmung in England änderte sich dramatisch mit der Niederlage von Frankreich. Die Englische Regierung beschloß alle "feindlichen Ausländer" zu internieren. Es dauerte nicht lange bis sich die meisten meiner Freunde und Bekannten hinter Stacheldraht in verschiedenen Lagern im Land befanden. Ich erwartete täglich einen Besuch von der Polizei. Sie kamen auch eines Tages in das Büro des "Jüdischen Flüchtlings Komitee" um mich abzuholen. Bei dem Abschiednehmen begegnete ich dem Präsidenten, der mich kannte. Er bat die zwei Polizisten in sein Arbeitszimmer und ich wartete außen. Nach kurzer Zeit erschien er wieder und erklärte, daß ich nicht interniert würde, er hätte mit einem Staatsminister gesprochen.
Von meinen Eltern hörte ich natürlich direkt nichts, da es seit Kriegsausbruch weder Post noch Telefon Verbindung mit Deutschland gab. Indirekt, durch Familienangehörige in der USA, wußte ich, daß sie gesund waren und weiterhin in München in unserer Wohnung lebten.
Im Juli 1940 änderte sich mein Leben radikal. Ich, und viele andere jüdische Flüchtliche, hatten die Möglichkeit sich freiwillig bei der Englischen Armee zu melden. Anfangs konnten wir nur in das "Pioneer Corps" eintreten. Diese Armee Gruppe befaßte sich haupsächlich mit Baukonstruktion aller Art. Dann, drei Jahre später, konnten wir Kampfkräften beitreten und aus Hans Peter Siegel wurde Hugh Peter Sinclair in dem "Royal Tank Regiment". Im November 1943 wurden wir mit tropischer Uniform ausgerüstet und in Schottland eingeschifft. Der Dampfer war ein nicht sehr großes ehemaliges Passagierschiff, jetzt ein sehr volles Truppentransportschiff. Unser Ziel war ein militärisches Geheimnis. Nach einer achtwöchigen und sehr unangenehmen Seereise, mit vielen seekranken Soldaten, durch einen stürmischen Atlantischen Ozean, das Mittelmeer, den Suez Kanal und die Rote See erreichten wir Bombay. Weitere Tank Ausbildung folgte in Poona, wo ich leider einige Wochen im Krankenhaus verbrachte und dann in eine niederigere ärtztliche Kategorie gesetzt wurde. Meine Kameraden gingen nach Burma und kämpften gegen die Japaner. Ich wurde in das Generalhauptquartier nach New Delhi versetzt, wo ich in der Adjutantgeneral-Abteilung bis Juli 1946 tätig war. Der Krieg war zu Ende und im August 1946 machte ich die Rückfahrt mit dem Schiff nach England, in wesentlich größerem Komfort als drei Jahre vorher. Mein sechs Jahre langer Dienst in der Armee lief auf das Ende zu. Ich war 25 Jahre alt und hatte immer noch keine fertige Ausbildung oder Beruf.
Während des Krieges, und während wir jüdische Flüchtlinge im Englischen Militär dienten, blieben wir staatenlos. Das 'Dritte Reich' hatte uns unsere Geburtsnationalität gesetzlich entzogen. Nach meiner Rückkehr aus Indien mußte ich mich als 'staatenloser Ausländer' wieder bei der Londoner Polizei melden. Auf meine Britische Staatsbürgerschaft mußte ich noch ein paar Monate lang warten. In Amerika war das anders: jeder Soldat in der Amerikanischen Armee war automatisch Amerikaner.
Meine erste Stellung war als Prokurist in einem Bäckereimaschinenfabrik-Betrieb. Unter anderem war es auch meine Aufgabe, diese Maschinen vorzuführen. Zu diesem Zweck mußte ich im September 1947 nach Genf fliegen. Nach vollendeter Vorführung gönnte ich mir 7 Tage Ferien in einem am Seeufer gelegenen Hotel, am Vierwaldstättersee. Leider wußte ich nicht, daß die Hotelabwässer, ohne Säuberung, direkt in den See geleitet wurden, neben dem Floß von dem ich täglich schwamm. Zu der Zeit existierte ein starker Ausbruch von spinaler Kinderlähmung. Zwei Wochen nach meiner Rückkehr nach London wurde ich in ein Krankenhaus gebracht. Mein ganzer Körper fühlte sich wie an Feuer und ich konnte mich nicht bewegen. Nach ein paar Tagen war es meiner Freundin Susan möglich mich täglich zu besuchen. Wir waren 'unoffiziell' verlobt. Jetzt war ich im Krankenhaus, beinahe vollkommen gelähmt, mittellos aber fest entschieden, daß ich wieder auf die Beine kommen muß, um sie heiraten zu können. Ich erhielt unablässige Therapie. Ich konnte das Krankenhaus nach 9 Monaten mit Hilfe von Tragschienen an beiden Beinen verlaßen. Laufen war sehr langsam und sehr schwierig.
Die in Nürnberg geborene Susan und ich feierten unsere Hochzeit im März 1949, nachdem ich zu dem Zeitpunkt wieder arbeitsfähig war. Ich hatte eine Stellung als Prokurist bei einem Fabrikanten von Brillenrahmen und Susan arbeitete als Sekretärin bei einer großen weltbekannten Firma. Unser gemeinsames Einkommen war gerade ausreichend um die Miete der Wohnung, Nahrungsmittel und Transportkosten zu und von unseren Arbeitsplätzen zu bestreiten.
Im April 1951 erwarb ich eine neue und besser bezahlte Stellung als Assistent für den Kontrakt Abwickler in dem Londoner Büro eines großen Unternehmens, das in Südamerika Nichteisenmetall Gruben und Schmelzen hatte. Diese Spezialarbeit sagte mir sehr zu und ich erlernte interessante Fachkenntnisse. Nach sieben Jahren wurde ich ein mitleitender Direktor der Londoner Branche und drei Jahre später vorsitzender Direktor. Meine vielen Geschäftsreisen erstreckten sich weit über Europa hinaus, einschließlich China, Sowiet Rußland und natürlich Südamerika. In den letzten acht Jahren waren meine Geschäftsreisen besonders schön, weil ich meistens von meiner Frau begleitet wurde.
In 1976 war eine drei Monate lange ungeplante Unterbrechung in meinem hektischen Leben, weil ich einen Herzinfarkt hatte. Nach 33 sehr erfüllenden Jahren mit der Firma ging ich Ende 1984 in Pension.
Susan und ich haben zwei wunderbare Kinder, Monica unsere Tochter und Jonathan unser Sohn. Monica und ihr Mann Brian haben 2 Töchter, und leben in Atlanta, Georgia. Jonathan heiratete Alison und sie wohnen mit ihren zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter, nicht sehr weit von uns entfernt. Susan und ich sind uns sehr bewußt, daß wir in unserem Leben viel mehr Glück hatten als viele andere.
Seit Anfang meines sogenannten Ruhestandes, habe ich mehr als je zu tun. Ich habe gelernt einen Computer zu benützen. Das habe ich hauptsächlich Jonathan zu verdanken, der ein Computer Fachman ist. Ich habe mich unter anderem auch sehr intensiv für Familienvorschung interessiert und habe jetzt za. 800 Familienangehörige auf meinem Computer die schon bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zurück gehen.. Und das geht immer weiter, der Kreis wird immer größer. Weiterhin bin ich seit 1991 in dem Englischen Gegenstück zu dem Deutschen "Seniorenstudium" tätig. Ich gründete und wurde vorsitzender Leiter einer lokalen Senioren Gruppe, der "Harrow University of the Third Age" (Harrow U3A). Jetzt haben wir mehr als 850 Mitglieder sowie unsere eigene Web Seite auf dem Internet. Zur Zeit betreiben wir 60 verschiedene Klassen. Im ganzen Land hat die "University of the Third Age" heute ca. 63,000 Mitglieder in 350 lokalen Gruppen. Nach 5 Jahren als vorsitzender Leiter wurde ich als Präsident von Harrow U3A ernannt. Abgesehen von fortlaufenden Arbeiten für Harrow U3A bin ich jetzt auch für die Nationale U3A. besonders auf dem Internet Bereich, tätig.
Jetzt muß ich nochmals in die Vergangenheit greifen. Im September 1940 war ich ein Rekrut in dem Pioneer Corps in Ilfracombe, Devon, als ich einen Brief aus London erhielte mit einem Telegram. Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Das Telegram kam von meinen Eltern aus Kobe in Japan. Es war an unsere Freunde in London gerichtet und lautete: "travelling to Peru stop please inform children - Michael Tilde" Es ist noch heute unmöglich meine Gefühle zu beschreiben als ich das Stück Papier in der Hand hielte. Meine erste Reaktion war meine Schwester telefonisch zu benachrichtigen. Aber wie und mit welchen Schwierigkeiten es meinen Eltern noch gelang, zu diesem Zeitpunkt 1940 zu entfliehen, konnte ich erst viel später erfahren. Meine Mutter führte ein Tagebuch in dem sie die Reise ausführlich beschrieb. Am 8. September sind sie von Berlin mit dem Trans-Sibirischen Expresszug abgefahren, eine Reise die damals während des kurz bestehenden Nichtangriffspaktes zwischen Deutschland und dem Sowietischen Staat noch legal möglich war. Die lange Bahnresie ging über Moskau, Omsk, Siberien, Korea nach Fusan und von dort mit Schiff nach Japan und Kobe. Schließlich folgte die lange Überqueerung des Pazifischen Meeres, über Los Angeles nach Callao (Lima) in Peru. Von Berlin nach Lima dauerte die Reise zwei Monate, immer östlich reisend und um die halbe Welt.
Von da ab lebten meine Eltern in Lima bis sie starben,
meine Mutter 1970 im Alter von 76 Jahren und mein Vater im Alter von 96 Jahren
1979. Beide konnten glücklicherweise ihre fünf Enkelkinder erleben, unsere
zwei und die drei meiner Schwester. Am Anfang hatten meine Eltern eine sehr
schwierige Zeit in Peru, gesundheitlich und finanziell. Das besserte sich, als
mein Vater 1953 bei den Bayerischen Landesgerichten wieder als Rechtsanwalt
zugelassen wurde. Er konnte nun für sich und seine Frau eine neue Existenz
schaffen. Seine Haupttätigkeit bestand darin, jüdische Flüchtlinge,
hauptsächlich in Peru, in Wiedergutmachungs-Anträgen vor Deutschen Behörden
und vor Gericht zu vertreten, was er mit großem Erfolg trotz seines Alters
machte. Außerdem wurde er viel von der Botschaft der Bundes-republik in Lima
über Peruanisches und Deutches Recht als deren Rechtsberater in Anspruch
genommen. Anläßlich seines 90. Geburtstags erhielt mein Vater von dem
deutschen Botschafter in Lima, im Namen des Bundespräsidenten "Das Große
Verdienstkreuz" der Bundes-republik Deutschland, 'in Anerkennung der um
Staat und Volk erworbenen besonderen Verdienste'. Auf den Verleih dieser Ehre
war mein Vater besonders stoltz. Vielleicht ging ihm bei dieser Gelegenheit der
Gedanke kurz durch den Kopf, daß er Recht hatte als er bei der Untat im März
1933 sich dachte
"Ich werde euch alle überleben".
PS: In meiner unmittelbaren Familie habe ich folgende
Familienangehörige in den Auschwitz/Theresienstadt KZ Lagern verloren:
meine mütterliche Großmutter (Witwe) und ihr ältester Sohn (ledig), der ein
erster Weltkrieg Frontsoldat mit eisernem Kreuz war, sowie eine verheiratete
Tante, eine meines Vater's Schwestern.
H. Peter Sinclair Dezember 1997