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Liselotte Lieber, Jg. 1920 


 

Zivilcourage

Frankfurt am Main war 1945 ein zentraler Punkt für die Siegermächte, sie hatten hier ihre Militärmissionen eingerichtet. Fast täglich tauchte in der Weinkellerei, in der ich damals beschäftigt war, ein Angehöriger einer Mission mit einem Requisitionsschein auf, das hieß: Beschlagnahme von Waren bzw. Gütern.

Ich hatte diese Scheine anzunehmen und dem Kellermeister die entsprechenden Anweisungen zur Auslieferung von Wein und Spirituosen zu geben.- Im Verkaufsraum gab es zwischen Angestellten und Kunden als Trennung eine einfache Holzbalustrade, und das war letztendlich mein Glück. Vor mir stand ein Russe mit seinem Schein, den er mir in die Hand drückte, um zugleich mit der anderen Hand nach meiner Armbanduhr zu grabschen. Spontan schlug ich ihm mit einem Holzlineal, daß ich zufällig in der Hand hatte, auf die Finger, blitzartig wurde mir die Gefährlichkeit der Situation bewußt und ich flüchtete in den Nebenraum.

Der Russe war so perplex, daß er nicht sofort reagierte, aber dann schwang er sich über die Balustrade und wollte mich verfolgen. Fast wäre es ihm gelungen, wenn da nicht zufällig einige kräftige Kellereiarbeiter im Weg gestanden hätten. Der Russe kam nicht voran, aber er gab auch nicht gleich auf. Wie mir später berichtet wurde, soll er auch noch durch einige Räume gestürmt sein, ehe er aufgab.

Ich hatte mich längst über eine Gerüstleiter ins Nachbargrundstück gerettet und hatte auf dem Nachhauseweg ein flaues Gefühl, ob ich ihm nicht noch einmal begegnen würde.


Liselotte Lieber, Oktober 1998