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Hildegard Neufeld


Aufeinander zugehen!
Zum 50.Jahrestag des Kriegsendes 1995 veröffentlichte das Goethe-Institut in Moskau einen 320-Seiten-Band „Was im Gedächtnis beibt“. Das Buch enthält Zeitzeugenberichte von 45 Sowjetbürgern und 39 Deutschen. Beide, ehemalige Kriegsgegner und Feinde, finden sich vereint in dem zweisprachigen Buch. Sie erinnern sich an das Ende des Zweiten Weltkrieges, und einige der deutschen, aber auch der sowjetischen Zeitzeugen schildern den langdauernden Abbau ihrer Feindbilder.
In seinem Fazit schreibt der Herausgeber Pawel Fraenkel: „Eine der deutschen Zeitzeuginnen (und bezieht sich dabei auf meinen Beitrag) hat nach einem langen Weg ihr negatives Verhältnis zum ehemaligen Feind überwunden - sie hat einen Schritt auf ihn zu gemacht. Dabei hat sich ihr die Wahrheit ihres Landsmannes, des Schriftstellers Wilhelm Raabe, eröffnet, der schrieb: 'Nichts bildet den Menschen mehr als Menschenschicksal sehen'. Dieses Buch ist unser gemeinsamer Versuch, diesen notwendigen Schritt aufeinander zuzugehen, indem wir viele Menschenschicksale kennenlernen“.

... und hier mein persönlicher Bericht zum 50.Jahrestag des Kriegsendes 1995

Als der Krieg zuende ging, war ich 21 Jahre alt und auf der Flucht vor der heranrückenden sowjetischen Armee. In einer stürmischen dunklen Nacht gelangte ich von der Weichselmündung aus über die Ostsee nach Dänemark. Das Kriegsende erlebte ich in einem Flüchtlingslager auf Fünen. Das war zugleich der Beginn einer zweieinhalbjährigen Internierung.
Was empfand ich am 8.Mai 1945 als die Nachricht vom Kriegschluss mich erreichte? Es war der Gedanke an die Grausamkeit der sowjetischen Kriegsmacht, der mich seit der persönlichen Konfrontation mit dem Kriegsgeschehen beherrschte und auch angesichts des Kriegsendes, des wieder gewonnenen Friedens, nur wenig Erleichterung, aber kein Gefühl der Befreiung, der Entlastung aufkommen liess. Die Menschen, die sich in den dänischen Lagern befanden (es waren fast ausschliesslich Frauen und Kinder), waren vor allem aus Ost- und Westpreussen geflüchtet und hatten zumeist nahe Angehörige zurück lassen müssen. War der Krieg in der Heimat wirklich zuende oder wurde weiter getötet und gequält, lautete die bange Frage, auf die es lange keine Antwort gab.
Dachten wir damals an Deutschland, an die Zukunft, an Schuld und Schicksal? Wohl kaum. Ich dachte nur an mich, an meine Eltern und Angehörigen daheim, die nun, nach Kriegsende noch Opfer des Krieges werden sollten. Meine Mutter wurde von Soldaten der Sowjetarmee erschossen, mein Vater, der sie hatte schützen wollen, für immer verletzt. Es dauerte fast noch ein Jahr, bevor die ersten Nachrichten von Zuhause im Internierungslager eintrafen.
Der Verlust meiner Mutter, der Tod und das Schicksal vieler meiner Angehörigen, die teils nach Sibirien verschleppt worden waren, traf mich schwer. Es war nicht die Trauer allein, die das Bild des Krieges, das Bild eines grausamen, erbarmungslosen Feindes, immer wieder wachrief. Vielleicht war es Hass, ganz gewiss aber eine Schuldzuweisung, in die ich, ohne zu differenzieren, wohl alle Sowjetbürger einbezog. -
Ich beschloss, dieses Land, dem ich durch Erzählungen meiner Grosseltern seit früher Kindheit an verbunden gewesen war, aufzusuchen. Auf mehreren Reisen, die mich durch weite Gebiete der Sowjetunion führten, lernte ich nicht nur das Land, sondern auch einige seiner Bewohner kennen. Hier erfuhr ich von ihren Schicksalen und was der Krieg ihnen angetan hatte. Hier begegnete ich Menschen, die durch den Krieg unendlich viel erlitten hatten und doch keinen Hass erkennen liessen, weder Vorwurf noch Klage äusserten. Ich habe ein Land kennen gelernt, in dem ich den Feind vermutete und fast schon Freunde fand.

„Nichts bildet den Menschen mehr, als Menschenschicksal sehen“, schrieb einst Wilhelm Raabe. Ich habe das erfahren, vor allem durch persönliche Begegnungen – wenn auch erst lange nach dem Krieg.