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Prof. Dr. Reinhardt Rüdel, Jg. 1937 |
Eigentlich hatte ich gar nicht vor, die Expo 2000 zu besuchen. Was ich nach der Eröffnung in den verschiedenen Medien so gehört und gelesen hatte, war ja wirklich nicht gerade begeisternd gewesen. Aber dann fand ich in einer Zeitschrift für Muskelkranke einen kurzen positiven Bericht mit dem Hinweis: "Für Rollstuhlfahrer hervorragender, aufmerksamer Service". Na, da wollte ich mir dann dieses angebliche Milleniumsereignis eben doch nicht entgehen lassen.
Es war ein schneller Entschluss, und deshalb habe ich natürlich das günstige Bahnticket nicht mehr bekommen. Das macht dem Rollstuhlfahrer aber nichts aus: Mit Bahncard und ermässigtem Expo-Eintritt für mich, und mit freier Fahrt und freiem Eintritt für meine Begleiterin waren die Grundkosten genauso reduziert. Und wir konnten uns sogar unsere Reisezeiten und -routen nach unserem Geschmack aussuchen.
Der wichtigste Gesamteindruck zuerst: Noch nie habe ich mich zwei Tage lang als Rollstuhlfahrer so bevorzugt gefühlt wie auf dieser Expo! Schon bei der Ankunft im Bahnhof Hannover-Laatzen wurde ich höflich nach meinen Rückreisedaten gefragt, damit meine Verladung rechtzeitig vorgeplant werde. Beim Eintritt ins Gelände dann gleich höfliches Winken zum besonderen Rollstuhleingang und schon waren wir zwei in diesem merkwürdigen Mixtum aus Rummelplatz, Kunstarena, Selbstdarstellung der Nationen, Zukunftsvision, Technik- und vor allem Multimediashow.
Wir waren gut beraten, in dem (zugegebenermassen nicht ganz billigen) SAS-Radisson-Hotel auf dem Expo-Gelände ein Zimmer zu buchen. So konnten wir gleich unser Gepäck loswerden, uns ein bisschen frisch machen und ins Getümmel werfen. Alle Wege waren breit, Stufen gab's fast keine, und wo tatsächlich welche waren, z.B. zu der Open-air-Tribüne an der Expo-Plaza, da konnte man 50 Meter an ihnen entlangfahren, bis sie sich in eine gemächliche Rampe verwandelten, toll! Und die grosse Freitreppe zur Expo-Plaza kann mit zwei grossen Aufzügen überwunden werden, bei denen mindestens 2 Rollis in eine Kabine passen.
Warum aber fühlte ich mich sogar bevorzugt? Nun, die am häufigsten geübte Kritik, das lange Warten an den beliebten Pavillons, gilt für uns Rollstuhlfahrer nicht! Jede, wirklich jede Nation hatte an uns gedacht und entweder einen besonderen Einlass gebaut (in Fällen, bei denen die Fussgänger erst Treppen überwinden mussten) oder liess die Rollis elegant an der Spitze der Warteschlange einscheren. Und diese unterschiedlichen Möglichkeiten musste man nicht erst mühsam erfragen, den gesonderten Einlass nicht erbitten, nein, überall standen freundliche Hostessen oder Stewards, die einem schon von weitem winkten: hier geht's lang, dort ist der Aufzug. Ich konnte es erst gar nicht fassen! Und auch in den einzelnen Hallen ging das so weiter. Einmal gab's einen längeren Rollstuhl-unfreundlichen Fussabstreifer. Da hatte man extra einen Rolli-Nebenweg ausgezeichnet! Und Treppen sind nun schliesslich unvermeidlich. Aber immer, wo ein Rollstuhlhindernis (sei es aus architektonischen oder künstlerischen Gründen) eingebaut war, gab auch da eine elegante Umgehung. Und wirklich bei jeder Umgehung eine freundliche Hilfe, d.h. nicht etwa nur Schilder und Hinweiszeichen, sondern geschulte junge Damen und Herren.
Bei diesem Riesenareal ist dies schon eine bemerkenswerte Leistung der Ausstellungsleitung; denn der muss man diese Aufmerksamkeit wohl zuschreiben. Von selbst wären alle diese vielen Architekten und Pavillonbauer wohl nicht so Rollstuhl-bewusst gewesen.
Eine Halle im sogenannten Themenpark muss ich besonders erwähnen. Bei der Chemieausstellung gibt es kleine Züge, die einen, wie auf einem Volksfest, auf etwa 300 gewundenen Metern an verschiedenen Dioramen vorbeifahren. Abfahrts- und Ankunftsstation liegen erhöht. Hier hatten die Veranstalter doch tatsächlich einen Raupen-Treppensteiger mit Rollstuhl vorrätig. Ein geschulter junger Mann half mir beim Umsteigen und bediente stolz für mich sein Gerät. Diese Dienstleistung anzunehmen war, ehrlich gesagt, eindrucksvoller als die Dioramenrunde.
Meine Begeisterung geht aber noch weiter. Nicht nur die Ausstellungsleitung muss gelobt werden, auch die Besucher waren vorbildlich. Stellen Sie sich vor: da haben sich die Leute mitunter zwei Stunden lang zu einem Halleneingang in einer Serpentinenschlange Schritt für Schritt vorgeschoben, und nun müssen sie sich ansehen, wie ein Rollifahrer mit seiner Begleitung an der Schlange vorbeirollt und sich an die Spitze setzt. Genau das habe ich in den zwei Tagen mindestens zwanzig Mal getan und nie ein böses Wort gehört, nie einen schiefen Blick gesehen! Die Leute fanden das alle richtig, sind zur Seite gerückt, haben dabei freundlich gelächelt!
Vielleicht darf ich auch noch auf ein kleines heikles Problem zu sprechen kommen. Bei vielen Grossveranstaltungen kennt der Rollstuhlfahrer Toilettenprobleme: Man muss vorausplanen oder grosse Wege zurückrollen, Schlüssel besorgen, meist warten vor den Rollitoiletten Schlangen. Nichts dergleichen auf der Expo. Überall gab es Rollstuhltoiletten und überall waren sie mit riesigen Schildern ausgezeichnet (und alle waren auch tatsächlich sauber!).
Abschliessend möchte ich noch über Flambée berichten, die grosse Lichtershow, die jeden Abend um 22.30 über und in dem künstlichen Expo-See abgezogen wird, und die sich natürlich niemand entgehen lassen sollte, der in Hannover übernachten kann. Hier, so berichtete man uns, beginnt sich die Tribüne bereits zweieinhalb Stunden vorher zu füllen, ab 22 Uhr gibt's auch schon gar keine schlechten Stehplätze mehr. Die Rolli-Fahrer können sich bis zur letzten Minute im Gelände tummeln, gemütlich zu abend essen, oder die allmählich sich leerenden Hallen in Ruhe anschauen, denn sie haben ihren reservierten Rollistellplatz vor der Tribüne sicher. Aus Logenplätzen, sozusagen, können sie sich (selbstverständlich mit ihren Begleitern) das Spektakel ansehen.
Wie viel Kapazität zum Schauen der einzelne hat, das ist ja unterschiedlich. Manch einer mag sich gar nicht mehr als die 5 für ihn wichtigsten Pavillons "reinziehen" und tut das ausführlich in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit. Das Warten an den Eingängen nimmt er zum Studieren des Katalogs oder zum Aufschreiben seiner Eindrücke. Der Rollstuhlfahrer aber kann in der gleichen Zeit das Doppelte und Dreifache sehen, wenn er will, und da er schon mal sitzt, tun ihm am Abend die Beine nicht weh. Das tun sie wohl seinem Begleiter, der zwar nicht so viel anstehen muss, wie die normalen Fussgänger, der dafür aber unter Umständen ein gewaltiges Laufpensum absolvieren muss. Der Rollifahrer, wie gesagt, hat's am allerbesten auf der Expo, richtig privilegiert ist er. Und weil ihm das so selten passiert, war für mich diese erste deutsche Weltausstellung ein einzigartiger Genuss.
Übrigens: den deutschen Pavillon fand ich am hinreissendsten.