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Prof. Dr. Reinhardt Rüdel, Jg. 1937

Mit dem Rollstuhl auf dem höchsten Kirchturm der Welt

Jedes Jahr im Juni organisiert die Ulmer Münsterbaumeisterin, meine "rotarische" Freundin Ingrid Rommel, eine ganz besondere Veranstaltung für Rollstuhlfahrer: Zusammen mit dem Reha-Team Hilscher aus Dillingen/Donau und der Hilfsmittelfirma Haas & Alber in Balingen schafft sie mit Hilfe von Spezialtreppensteigern die sonst doch sehr Erdgebundenen auf den großen Viereckkranz des Ulmer Münsterturms. Mir hatte sie schon dreimal das freundliche Angebot gemacht, an einer dieser Turmbesteigungen teilzunehmen, aber jedes Jahr hatte ich an diesem Tag eine andere Verpflichtung. Dieses Jahr überraschte die Chefin der Ulmer Bauhütte ihr rollstuhlpflichtiges Clubmitglied anläßlich seiner Einführung in das Präsidentenamt des Rotary-Clubs Ulm/Neu-Ulm, mit dem erneuten Angebot: "Morgen früh müssen Sie aber wirklich mit hinauf Herr Präsident!". Und da es sich von meinen beruflichen Verpflichtungen her einrichten ließ, sagte ich zu.

Die verwendete Art von Treppensteigern ist mir wohl vertraut; ich besitze selbst seit über 10 Jahren ein derartiges Gerät. Meines stammt aus der ersten Serie, wenn ich mich nicht irre, und ich lasse mich damit jede Woche zweimal in die Praxis meines Krankengymnasten hinaufziehen. Das besondere an dieser Art von Steigern ist, daß sich mit ihnen auch gewendelte Treppen meistern lassen. Einfachere Geräte, die nach Art eines Kettenfahrzeugs Treppen hinaufkrabbeln, können keinerlei Kurven vertragen, da sie dabei umkippen würden. Sie haben dafür den Vorteil einfacherer Bedienung. Bei den Wendeltreppensteigern braucht der Führer schon einiges Geschick und manchmal auch ziemlich Kraft. Bei ungleichmäßiger Stufenhöhe und Änderungen im Drehwinkel sind sogar heftige Rucke und Stöße nicht zu vermeiden. Ich kenne alle diese Tücken gut und bin drauf eingestellt. Welches Könnens und welcher Kraftanstrengung es bedarf, um einen gut 80 kg schweren Mann auf den Münsterturm hinaufzuziehen, das hatte ich mir dennoch nicht ausmalen können. Im Nachhinein kann ich nur sagen: "Alle Achtung vor dem Reha-Team!"

Zunächst aber begann alles ganz gemütlich. Als ich um 9 Uhr vor dem Münster ankam, waren die Baumeisterin und ihre Helfer bereits versammelt. Drei Rollstuhlfahrerinnen aus dem Seniorenheim der Arbeiterwohlfahrt in Neu-Ulm waren auch schon hergebracht worden. Mit etwas angespannten Mienen beobachten sie die letzten Vorbereitungen. Vier Treppensteiger neuster Bauart standen in Reih und Glied vor dem nördlichen Turmeingang. Wir vier waren die ersten von insgesamt vier Kolonnen, denen an diesem Tage das phänomenale Erlebnis dieses einmaligen Rundblicks zuteil werden sollte. Nun warteten wir nur noch auf den Oberbürgermeister der Stadt Ulm, der uns vieren seine besten Glückwünsche für den Aufstieg mitgeben wollte. Und natürlich auf die lokale Presse, welche über dieses Ereignis jedes Jahr ausführlich berichtet.

Zwei erfahrene Führer gebe es für jeden Steiger, erfuhr ich dann, was mich ein bißchen verwunderte; denn mein Krankengymnast hievt mich immer alleine in seine Praxis hoch. Das Gerät funktioniert so, daß man auf einem Stuhl sitzt unter dem zwei Planeten-artig sich umeinander drehende Radpaare eine Stufe nach der anderen erklimmen. Hinauf geht es rückwärts, hinunter vorwärts. Bedient und dirigiert wird der Stuhl von hinten an zwei hohen Griffen, der Führer ist also immer hinter und über dem Fahrgast. Deshalb hat dieser das zweifelhafte Vergnügen, den Blick in den überwundenen oder noch zu überwindenden Abgrund unverstellt vor sich zu haben.

Ich wurde als erster auf die Reise geschickt. Sogleich begriff ich, warum hier zwei Männer einen Treppensteiger bedienen müssen - einer oberhalb, der andere unterhalb: die Richtung der Wendelung wechselt nämlich nach den ersten 60 Stufen, und für diese komplizierte Stufenkombination ist der Treppensteiger nicht eingerichtet, da muß das Gerät zusammen mit dem Passagier gehoben und umgesetzt werden. Aber auch dann, wenn die Wendelung nur noch gegen den Uhrzeigersinn bis oben weitergeht, hat der untere Helfer viel zu arbeiten. Die Wendeltreppe ist im oberen Teil nämlich derart schmal, daß der Steiger immer ganz nahe am "Auge" der Treppe entlang fahren muß. Und damit er dabei von den Stufen, die dort ja ganz schmal sind, nicht abrutscht, und damit bei jeder Stufe das innere und das äußere Rad gleichmäßig an der Kante anliegen, muß der untere Führer stets den Steiger gegen die Treppe drücken. Was das für eine Arbeit ist, konnte ich an den Schweißperlen ermessen, die meinem Helfer bereits nach den ersten 100 Stufen auf der Stirne standen.

Nun, meine beiden, Thomas und Patrick, waren ein gut eingespieltes Team, das merkte ich gleich, und als ich dann auch noch das Technische begriffen hatte, konnte ich meine Aufmerksamkeit auf meine eigenen Gefühle lenken. Oft war ich mit auswärtigen Gästen auf den Münsterturm gestiegen, als ich noch Fußgänger war. Das ist nun schon 15 Jahre her. Und in all diesen Jahren hatte ich immer geglaubt, daß die Münsterturmbesteigung zu den vielen Dingen gehört, von denen sich ein Rollstuhlfahrer verabschiedet haben muß, selbst wenn er nicht leicht klein beigibt und andere schier unmachbare Dinge mit dem Rollstuhl vollbracht hat. Natürlich, Türme mit Aufzügen gibt es überall. Fernsehtürme zum Beispiel. Was es aber für eine besondere Freude für mich als Rollstuhlfahrer bedeutet, in meiner Heimatstadt gerade auf dem Münsterturm dem Erdniveau zu entkommen, kann vielleicht nur ein Ulmer ermessen, denn die Ulmer lieben ihr Münster über alles. "Das ist die Spitze im Süden" sagen sie in Anspielung auf ihr Münster gerne, wenn sie sich selbst loben wollen, und ganz dementsprechend weitete sich jetzt auch meine Brust und schlug mein Herz schneller.

Dabei hatte ich gar nichts selbst dazu getan. Nein, Lob und Anerkennung gebührte dem Team unter der Anführung von Herrn Bloching, der, selber ein alter Ulmer, sich vor Jahren die Aktion ausgedacht hat. Lob auch für die Münsterbaumeisterin, die sich von dessen Idee hatte hinreißen lassen, und schließlich an Haas & Alber, die Steigerlieferanten! Einen Tag Vorarbeit und einen Tag Nacharbeit mußte das Team leisten, damit am heutigen Tag alles reibungslos klappt. Beispielsweise reicht eine Batterieladung nicht für alle 392 Stufen hinauf und hinunter, Deshalb hatte mein 'oberer' Führer, Patrick, am Vortag bereits 16 vollgeladene Akkus auf dem 1. größeren Absatz unterhalb der Glockenstühle gelagert. Hier waren wir nach etwa 10 Minuten angelangt und machten 'Boxenstopp'. Es ging fast so schnell wie bei Schumi, und mit voller Kraft konnten wir nach einer kurzen Traverse in die eigentliche 'Zielwendel' einbiegen. Die nun hatte den Vorteil, daß es bei jeder Umdrehung auf der Westseite einen schmalen vertikalen Durchbruch gab, durch den ich auf den Münsterplatz blicken konnte.

Immer kleiner wurden mit jeder Wendel die vielen Touristen, schon konnte ich von oben über die Dächer der Münsterplatzbebauung blicken, eine kleine Pyramide sah ich da auf dem Dach eines neuen Kaufhauses, das es vor 15 Jahren noch nicht gegeben hatte, ein neues Parkhaus dominierte am Bahnhof die Silhouette.... Aber auch dieses verlor mit jeder neuen Wendel, die wir geschafft hatten, an Bedeutung. Schließlich - die neuen Batterien zeigten schon wieder erste Schwächeanfälle - waren wir auf dem Viereckkranzumgang bei 70 Metern angelangt, der Höhe, mit der der Münsterturm das ganze Mittelalter hindurch imponiert hatte, bevor das 19. Jahrhundert den noch um einige Meter überhöhten ursprünglichen Plan vollendete, so daß die Spitze sich heute bis zu 161 Metern in den Himmel erhebt. Diese, sozusagen moderne Höhe wollten wir Rollis jedoch nicht erobern. Gehfähige Turmbesteiger dürfen zwar bis auf eine Plattform in 142 Metern Höhe, aber die Wendeltreppe, die dort hinaufführt, ist so eng, daß selbst unsere schmalen Treppensteiger dafür zu breit sind.

Auf der mittelalterlichen Höhe empfing uns die Baumeisterin, sie hatte uns auf einer anderen Treppe überholt (natürlich kennt sie alle Schleichwege und Hintertreppen wie ihre Hosentasche!). Erst einmal in die gotische Türmerstube zum Türmer Dieter, der schnell noch extra für uns den Eingang von Taubenmist frei fegte. Als Besonderheit gab's für uns Rollis heißen Kaffe, Butterbrezeln und einen Eintrag ins Turmbuch.

Jetzt aber wollten wir hinaus auf die Terrasse um zu schauen; deshalb waren wir schließlich heraufgekommen! Ein bißchen schade doch, daß man als Rollstuhlfahrer so klein ist, ich konnte nicht gut über die Brüstung schauen (die drei Damen hatten noch ihre Stehfähigkeit und konnte sich am Geländer hochziehen) "Warum haben Sie denn Ihren tollen Liftrollstuhl nicht mitgebracht, mit dem Sie sich um 60 cm größer machen können?" fragte mich da die Baumeisterin. "Ja meinen Sie das im Ernst?" fragte ich dagegen, "den habe ich dabei, unten im Auto." - "Dann geben Sie uns den Autoschlüssel, den werden wir gleich mit der Winde hier oben haben."

Fünf Minuten später hatte ich meinen Liftrollstuhl unter mir und jetzt konnte ich die Aussicht genießen! Vom Ulmer Spatz auf dem Kirchenschiff über die kleinen Osttürme bis nach Oberelchingen, vom Münsterplatz über das Stadthaus und die Altstadt bis weit ins Bayrische, über die Fußgängerzone und den Bahnhof bis zum Kuhberg, über das Justizgebäude und den Michaelsberg bis zur Wilhelmsburgkaserne, in alle vier Himmelsrichtungen konnte mein Blick schweifen, denn alle vier sonst verschlossenen Erker wurden uns aufgesperrt. Schade, daß die Sicht heute nicht bis zu den Alpen reichte. Aber sonst sah ich noch vieles, die schönen kleinen Figuren im Maßwerk z.B., die vielen Dachumgänge, die Tauben, die elegant zwischen den Osttürmen hindurchstreichen (in dieser Höhe sind die rauben viel zierlicher als die fetten Fußgängertauben, die sich unten von den Touristen füttern lassen). Der südliche der beiden Osttürme ist an der Spitze eingerüstet und man kann hier vom Hauptturm aus gut beobachten, wie die modernen Steinmetzen in luftiger Höhe die Steine sanieren. Dieses Millionen-teure Projekt wird in diesem rotarischen Jahr von den drei Ulmer Rotary-Clubs in einer gemeinsamen Aktion gefördert werden. Dazu hatte Freundin Rommel für schwindelfreie "rotarische" Freunde schon eine Turmbesteigung organisiert, an der ich damals als Rollstuhlfahrer nicht teilnehmen konnte. Schön, daß ich jetzt den Spezialausblick auf die Arbeiten doch noch geliefert bekomme!

Um 12 Uhr gab's dann das gewaltige Mittagsläuten, das mich daran erinnerte, daß ich längst wieder unten sein sollte! Tatsächlich waren alle drei Damen mir schon voraus und nun ging's auch für mich an den Abstieg. Mein Lift-Rollstuhl schwebte bereits an der Winde nach unten. Hinunter geht alles doch etwas einfacher als hinauf Die Umsetzungen an den mir nun schon bekannten Stellen gingen leichter, keine Batterien mußten mehr gewechselt werden und auch die Männer mußten nicht so arg schwitzen. Unten warteten dann auch schon die nächsten Anwärter, daß die Treppe für den Aufstieg der zweiten Kolonne frei werde. Ein Dank nochmals an alle Helfer und die Baumeisterin! Dann war ich wieder ein Erdenmensch, der möglichst schnell an seinen Arbeitsplatz strebte.

Reinhardt Rüdel (RC Ulm Neu-Ulm)