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Prof. Dr. Reinhardt Rüdel
Jg. 1937

Erinnerungen anläßlich der Bleyle-Pleite


Vor einiger Zeit konnte man in der Zeitung lesen, daß eine gute, alteingesessene schwäbische Firma zu existieren aufgehört habe, nämlich Bleyle, Wirk- und Strickwaren. Ich weiß nicht, ob schlechtes Management die Firma in den Ruin geführt hat, oder ob die Pleite eine Folge der jetzt grassierenden Globalisierung ist, ich kann nur sagen, daß ich eine gewisse Genugtuung darüber empfand, daß es nun endlich aus und vorbei ist mit diesem Namen, der für mich in meiner Kindheit mit so vielen schlechten Gefühlen verbunden war. Dabei ist das doch alles schon so lange her, und ich habe gar keine Ahnung, was Bleyle in den letzten Jahren seiner Existenz so alles produziert hat.....

Das Haus Bleyle, rund 1000 km von der nächsten Meeresküste entfernt, fertigte u.a. Matrosenanzüge. Vielleicht hat es irgendwann einmal die Besatzung eines richtigen Kriegsschiffes der kaiserlichen Marine mit Uni-formen versorgt, ich möchte das nicht absolut ausschließen, andererseits käme es mir schon sehr merkwürdig vor, wenn die Küstenanrainer damals ihre Spezialbekleidung ausgerechnet von einem süddeutschen Betrieb hätten herstellen lassen. Nein, ich glaube, die Matrosenanzüge, die Bleyle herstellte, waren wohl immer für die Kinder von treudeutschen Eltern gedacht, die ihre Sprößlinge im Sinne des letzten deutschen Kaisers kleiden wollten. Bekanntlich war der auf seine Flotte ganz versessen und hätte am liebsten alle deutschen Jungens zu Kadetten gemacht.

Nun bin ich rund 20 Jahre nach der Abdankung Wilhelms II. geboren und meine Mutter war wahrlich sonst keine Verehrerin des Hohenzollernhauses. Wahrscheinlich fand sie diese dunkelblauen Anzüge einfach schmuck und verpaßte sie deshalb ihren Söhnen. Ich selber fand zwar die Tracht albern, aber das wäre noch zu ertragen gewesen; denn sie stellte ja die typische Sonn- und Feiertagskleidung dar, mit der man nie hätte in die Schule gehen müssen. Viel schlimmer war, daß die Bleylehosen so schlimm kratzten. Die ganzen Oberschenkel waren nach einer einzigen Stunde Tragezeit innen wund, so daß das Jucken ständig zunahm.

Die Bleylehosen waren nämlich kurz, lange Hosen gab es für kleine Buben, wie mich damals gar nicht. Jedenfalls für mich gab es sie nicht. Für meinen großer Bruder schon. Er war fast 3 Jahre älter als ich und daher schon bei der Hitlerjugend. Damit war er fein heraus, denn die Mutter bekam extra Kleiderpunkte für eine Überfallhose für ihn. Das war überhaupt das Schickste, was man sich an Hosen denken konnte. Vor allem hatten Überfallhosen breite Gürtelschlaufen für das HJ-Koppel mit dem dicken Aluminium-Schloß, auf dem „Blut und Ehre„ stand. Bleylehosen dagegen hatten einen eingenähten Gummizug, wie Unterhosen, nur fester einschnürend.

Und da es damals in den Wintern immer sehr kalt war, mußte man auch lange Strümpfe zu den Bleylehosen tragen, die waren mir vielleicht noch verhaßter als die Hosen. Die langen Strümpfe waren kackebraun, aus Wolle, und auch sie waren kratzig, aber nicht so schlimm wie die Hosen, weil man sich an den Strümpfen nicht so scheuerte. Das schlimmste an den Strümpfen war die Halterung. Sie wurden nämlich an Strapsen befestigt, die vorne und an der Außenseite des Beines aus der Bleylehose herauskamen. Und woran waren die Strapse befestigt? An einem Strapsgürtel womöglich? Nein, an einem Leibchen! Ich erinnere mich, daß ich oft die Strapse aufgemacht habe, sobald ich außer Sichtweite meiner Mutter war. Die Strümpfe wurden dann bis unter die Knie gerollt, was auch nicht gerade anmutig ausgesehen haben muß. Aber wir fanden es alle besser als die hochgezogenen Strümpfe.

Also, das Leibchen muß man sich wie einen flachen Büstenhalter vorstellen. Aus weißem, doppelten Leinen gefertigt, war es vorne mit drei großen weißen Knöpfen zu verschließen, metallenen Scheiben, die mit dünner Leinwand überzogen waren. Man zog es über das Unterhemd an, dann reichte es nicht ganz bis zum oberen Rand der Unterhose hinab. Hier stellte sich beim Anziehen eine weltanschauliche Frage: Sollte man die seitlichen Strapse unter oder über der Unterhose führen? Beim Strapshalter der Damen sitzt ja der Ansatz der Strapse etwa in der Leisten-beuge, so daß es beim Sitzen keine Probleme gibt. Beim Leibchen mit dem weit höheren Straps-"Ursprung", wie die Anatomen sagen würden, tendierten beim Sitzen die Gummibänder wie eine Bogensehne die Leistenbeuge zu überspannen. Dies ließ sich vermindern, wenn man die Strapse innerhalb der Unterhose trug, man hatte sich aber dann den Nachteil ein-gehandelt, daß sie bei jedem Schritt am Oberschenkel schabten. Ich war lieber Außenträger.

Waren die frisch gewaschenen und ein wenig gestärkten Leibchen vielleicht noch einigermaßen schmuck, so waren die Strapse wirklich ekelhaft. Graues, zollbreites Gummiband, manchmal längsgestreift, mit einer regelmäßigen Folge von Knopflöchern in der Mittelachse, damit man es am Leibchen anknöpfeln konnte. Wenn das entscheidende Loch ausgeleiert war, konnte es schon passieren, daß der Gummi vom Knopf sprang. Dann mußte man mit der einen Hand das Gummiband der Bleylehose weiten, damit man mit der anderen Hand in der Tiefe nach dem entschwundenen Straps suchen konnte (Man konnte auch den Straps von unten durch das hochgeschobene Bleylehosenbein versuchen nach oben zu führen, aber das führte gerne zu strafenden Blicken).

Auch am unteren Ende der Strapse gab es häufig Probleme. Das ganze Gelumpe war schließlich schlechte Kriegsware und so riß häufig der Gummiknopf der unter dem Strumpf in die Öse gleiten muß um ersteren zu halten, bald war er dann auch verloren. Fand man ihn nicht wieder, half man sich mit einem Pfennig. Wer den Pfennig nicht ehrt, liegt beim Strapsriß verkehrt, konnte man damals sagen.

Wie gesagt, war die ganze Vorrichtung dazu da, damit wir armen Buben auch im Winter mit kurzen Hosen herumlaufen konnten. Meistens war man aus den Strümpfen schon ein bißchen herausgewachsen, so daß sie nicht bis an den Hosenrand reichten. Das erzeugte dann den berühmten rot-blauen Streifen am Bein, wenn zu der Rötung vom Scheuern noch die Bläue der Kälte hinzutrat. Verrückt das ganze! Wer hätte je schon einen Matrosen mit kurzen Hosen und langen Strümpfen gesehen, die durch einen rot-blauen Streifen Haut voneinander getrennt sind!

Oberhalb der Hose war der Matrosenanzug nicht viel besser. Hier wurde der kratzige Matrosenpullover über Unterhemd und Leibchen gezogen, und da muß ich nun ein Wort für meine Mutter einlegen. Sie hatte für mich tatsächlich Hemdchen mit halbem Arm aufgetrieben, so daß der Pulli mit seinem lächerlichen Hinterlappen wenigstens nur am Hals und nicht auch noch an den Schultern kratzte.

Das komischste an der ganzen Montur war die Krawatte. Sie bestand aus einem schwarzen Seidentuch, das zu einem strammen Knoten gebunden war, so daß zwei gleich lange Enden mit feinen Häkchen in zwei Ösen an dem V-Ausschnitt des Pullis eingehängt werden konnten. Einmal habe ich – neugierig wie ich war – einen solchen Knoten aufgebunden, keiner konnte ihn mehr schürzen, wie es sich gehörte. Leider führte dies nicht dazu, daß ich keinen Knoten mehr tragen mußte, denn meine Mutter hatte, vorausschauend wie sie war, schon eine zweite Krawatte mitgekauft.

Dann gab es sogar noch einen züchtigen Innenlappen, mit dem man den unteren Teil des Ausschnittes von innen verhängen konnte. Den hatte ich bald verloren, und der war nicht so leicht ersetzbar, so daß von da an die leidige Diskussion entfiel, ob der Lappen unbedingt angezogen werden müsse.

Na, und zum krönenden Abschluß gab es natürlich noch die Matrosenmütze mit der Aufschrift "Marine" und zwei schwarzen Bändern hinten. Dieses schreckliche Ding konnte ich jedoch von mir dauerhaft abwenden, nur für das Festtagsfoto mußte es einmal aufgesetzt werden.
 


Prof. Dr. Reinhardt Rüdel, März 1999, reinhard.ruedel@uniklinik-ulm.de