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Hans Scherb, Jg. 1934 


 

Wie ich einen Grauschimmel gewann und wieder verlor

Als im Frühjahr 1945 zurückflutende deutsche Infanterie durch unser Dorf hastete, begann für uns elfjährige Buben eine aufregende Zeit.

Wir waren damals aus der zerbombten Stadt Ulm in eine Ortschaft in der späteren französischen Zone verlegt worden, wo ich auch zur Schule ging. Auf dem Rückzug hinterließen die deutschen Verbände lästiges Material am Straßenrand, das uns natürlich brennend interessierte. Wir fanden allerlei Ausrüstungsgegenstände wie Tornister, Ferngläser, Gasmasken u. a., leider auch scharfe Waffen, die für einige von uns üble Folgen hatten.
Das Aufregendste aber waren die freigelassenen Pferde!
Es waren beileibe keine rassigen Reitpferde, sondem eher kleinwüchsige solide Zugpferdchen, die die Trosswagen gezogen hatten. Es machte uns keine Mühe, die zahmen, an Menschen gewöhnten Tiere einzufangen und bald hatten die meisten von uns ein eigenes "Reitpferd". Die meist gutmütigen Tiere ließen sich von uns füttern, pflegen und vor allem reiten. Zaumzeug und Zügel ließen sich leicht beschaffen, Sättel gab es keine. An deren Stelle trat eine alte Wolldecke, die mit einem Gurt befestigt wurde, damit wir überhaupt auf den für uns immer noch sehr hohen Pferderücken klettern konnten. Ich hatte einen etwas beleibten Grauschimmel ergattert, mit dem ich einige Wochen sehr glücklich war.
Er war nicht der Schnellste, jedoch willig und zuverlässig, und ich kam mir vor wie Old Shatterhand, wenn ich durch die Gegend ritt - die Schule war kurzfristig geschlossen - oder im Trab bzw. sanftem Galopp mit verhängten Zügeln durchs Dorf "sprengte".
Meine Freunde und ich fühlten uns in den wilden Westen oder in die Ritterzeit versetzt und genossen das sehr. Futter gab es auf nicht genutzten Grünflächen und Feldrainen mehr als genug für unsere anspruchslosen Lieblinge.

Nach einigen Wochen war der Spuk vorbei und eine der schönsten Episoden meiner Kindheit zu Ende. Nachdem die französischen Truppen eingerückt waren, wurden die bisherigen französischen und belgischen Kriegsgefangenen im Dorf befassen. Weil sie vorher ordentlich behandelt worden waren, ließen sie die Zivilbevölkerung in Ruhe, was auch uns Buben zugute kam. Neben der Besatzungsmacht - und von ihr mehr oder weniger geduldet - trieben sich befreite ehemalige Zwangsarbeiter aus den nahegelegenen Kleinstädten in der Gegend herum und machten sich durch Diebstähle und auch bewaffnete kleinere Überfälle unbeliebt. Eine Gruppe dieser meist aus dem Osten stammenden entwurzelten Menschen fiel eines Tages über unsere friedlich weidende kleine Herde her und bemächtigte sich der Tiere. Ich wollte meinen Schimmel nicht freiwillig hergeben und krallte mich mit beiden Händen an den Arm des betreffenden Mannes. Der schleuderte mich wie eine lästige Fliege auf die Wiese, so daß mir Hören und Sehen verging. Nachdem er mich noch fluchend - so klang es jedenfalls - bedroht hatte, sank mein Mut und machte Tränen Platz. Durch diesen Tränenschleier mußte ich ohnmächtig mitansehen, wie unsere Pferdchen weggeführt wurde und ein schöner Traum zu Ende ging. Meine Mutter tröstete mich zwar, schien aber doch über diese Lösung erleichtert, denn ich hatte schon Pläne im Kopf, wie ich den Schimmel nach Ulm reiten und dort unterbringen wollte.
Die Landwirte des Dorfes und der Gegend hatten sich natürlich auch mit Arbeitspferden aus Heeresbeständen eingedeckt, die nach einigen Wochen gemustert und registriert wurden. Die französische Militärregierung beließ diese Pferde bis nach der Ernte den deutschen Bauern, was ich damals schon als faire Geste betrachtete; danach wurden die Tiere nach Frankreich abtransportiert.
 



Hans Scherb, Dezember 1998