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Mein letztes Familienfest.

Nein, es hat niemand gesehen, daß ich beim Verlassen des Gartens geweint habe. Ich bin allein vorausgegangen, aus dem kleinen, hölzernen Vorbau des Gartenhäuschens, durch den Garten auf die Straße. Es sollte auch niemand sehen! Wie hätte ich es denn erklären können? Verstand ich doch selbst nicht diesen Schmerz, diese tiefe Traurigkeit, die mich plötzlich überfiel, die eigentlich völlig ungewöhnlich für mich ist. Ich war doch hier der große Held! Ich hatte es allein gewagt "abzuhauen" aus der "Ulbricht-Republik" - war nun als reicher Westbesuch da, hatte viel mehr gesehen und erlebt als alle anderen, genoß Reise- und Pressefreiheit und hatte eine Riesenauswahl an Essen, Kleidung und überhaupt allen Verbrauchsgütern.

Wir gingen nach Hause. Nach Hause zu Onkel Willy in die Bahnhofstr. 7 in Pößneck/Thür. Nach Hause? Ja, ein Zuhause für mich in den nächsten ein oder zwei Tagen. Dann mußte ich wieder zurück in den "Goldenen Westen'' - beneidet von allen Zurückbleibenden.

Wir hatten auf der kleinen Terrasse des kleinen Gartenhäuschens Kaffee getrunken und Kuchen gegessen, den Tante Hede gebacken hatte zu Ehren des 90. Geburtstages ihres Mannes, dem Bruder meiner Mutter. Der Garten war immer wichtigster Bestandteil ihres Lebens gewesen. Der Garten und die Sieben Zimmer-Wohnung ganz oben in einem Haus ohne Fahrstuhl, mir 96 Stufen die wenigstens einmal jeden Tag erwähnt wurden. Kinder hatten sie nicht, weshalb sie die Riesenwohnung im Krieg mit Ullmanns, einem ausgebombten Ehepaar aus Hamburg , teilen mußten. Sie hatten Glück, sie verstanden sich sehr gut, vor allem wohl, weil auch Ullmanns ausgeprägte Gegner Hitlers waren - die Einzigen, die ich vor 1945 kennengelernt hatte!

Es war ein ganz gewöhnlicher Nachmittag im Mai. Nicht kalt, nicht zu warm. Wir führten eine neutrale, harmonische Unterhaltung, nicht besonders lustig, aber angeregt. Mein Mariechen aus Meerane war da und die Cousine aus Dresden. Beide hatte ich mit meiner "Ente" abgeholt und hierher gebracht. -Dann waren da noch die Gartennachbarn. Er hatte am Vormittag den Rasen meines Onkels gemäht, als Geburtstagsgeschenk. Der Rasenmäher hatte das Grundgestell eines Sportkinderwagens, er war sebstgebastelt. Auf meinen erstaunten Gesichtsausdruck, als ich seinen hellblau lackierten Gartenzaun sah, der grausig von den anderen dunklen, rissigen, morschen Holzzäunen abstach, erklärte er mir: " brauchen se gar nich so zu gucken, die Farbe ist gemaust (gestohlen). Ich orweit nämlich

inner Lackfabrik un das geht bloß alles zu eich nieber for Devisen. Mir kriechen sowas nich."

Ich genoß das Familienfest, es war für mich etwas ganz besonderes, ungewöhnlich, inzwischen total ungewohnt: diese Normalität, dieses selbstverständliche Dazugehören, dieses sebstverständliche Angenommensein, diese Menschen, die meine Verwandten waren -der Rest der wenigen Verwandten die ich je hatte. Ich fühlte mich wohl, daheim. Ein Gefühl daß ich seit meiner Flucht in den Westen nicht mehr gehabt hatte. Und früher? -Da war das alles selbstverständlich, nie so bewußt wahrgenommen worden. Ich begriff plötzlich, was es bedeutet irgendwo daheim zu sein. Beim Verlassen dieses einfachen kleinen Gartens, mit seiner heimeligen Athmosphäre wurde mir der Preis bewußt, den ich für meine westliche Freiheit bezahlt hatte.

Heute fünfundzwanzig Jahre später, kommt zu dieser Erinnerung noch eine schmerzlichere Erfahrung hinzu: Es war mein letztes Familienfest auf dem ich mich uneingeschränkt wohlfühlen durfte.

Eva Schott - Überlingen - Oktober 1999