Zurück zur Zeitzeugen Homepage

Flucht von Deutschland nach Deutschland

Niemandsland - was ist das? Ein Schlachtfeld zwischen zwei Völkern Oh nein! Es ist ein 5km breiter Streifen Land mitten durch -Deutschland, u.a. zwischen Thüringen und Hessen. Wer hier wohnt, arbeitet oder einen Besuch machen will, braucht eine Sondergenehmigung.

Ich hatte diese Genehmigung weil ich hier und nur hier einen Arbeitsplatz gesucht und gefunden hatte. Meine Berufsausbildung war beendet, bzw. ich hatte sie beendet, weil die Weiterbildung zum Ingenieur den Zwang zur politischen Mitarbeit und Eintritt in die Partei (SED) bedeutet hätte. Was hatte ein junger, unternehmungsfreudiger, unabhängiger Mensch 1951 anderes im Sinn als wegzugehen, weg in den freien Teil Deutschlands?

Stacheldraht, Schießapparate, Bluthunde gab es noch nicht, "nur" Schlagbäume und Streifengänge von "Vopos" und Russen. Täglich waren Gruppen oder Einzelpersonen zu beobachten, die sich mit Taschen und Rucksäcken in Richtung "Grenze" bewegten. Nicht selten kamen sie etwas später in Begleitung von Vopos oder Russen zurück. Manchmal, so erzählte man sich, ließen sie die Russen laufen aber die Deutschen, so sie das Pech hatten, ihnen in die Hände zu fallen, brachten sie zurück. -Die Strafe für den ersten Fehlversuch bestand in einem Tag russ. Kommandantur scheuern. Beim zweiten mal wurde man drei Tage eingesperrt und das dritte mal kostete es den Personalausweis.

Nun, das waren "noch Zeiten"! Man weiß ja wie es sich weiterentwickelt hat zum äußerst lebensgefährlichen Unterfangen. Zunächst wurden alle "unzuverlässigen Bürger, wie die Familie meines Chefs u.v.a., aus diesem "Niemandsland" entfernt. Da hatte ich aber bereits das Weite gesucht. Vorher aber habe ich noch einige meiner ehemaligen Kollegen sicher über die "Grüne Grenze" gebracht. Ich war ja inzwischen geländekundig und wußte, daß ein nur teilweise bewachter Schleichweg existiert. Zudem hatte ich in der Badehose (gebadet wurde in der zwar kalten, aber damals noch glasklaren Werra) die Bekanntschaft eines jungen Mannes gemacht, der sich als Volkspolizist herausstellte.

Für Interessierte: der Ort hieß Gerstungen, unweit Eisenachs und der Wartburg.

Wie ging es weiter? Mein "Fluchtfahrzeug" war das Fahrrad. Daran hing eine mittlere Ledertasche deren Griff gleich hinter der Grenze abriß. Ein hessischer Schuster nähte ihn an und verlangte kein Geld dafür, wofür ich ihm noch heute dankbar bin, denn meine Barschaft betrug 15 Westmark.

Auf der Autobahn, das war damals noch möglich, fuhr ich bis Hersfeld. Dort bestieg ich einen Zug nach Frankfurt, wo ich am Abend bei Dunkelheit ankam. Auf dem großen Bahnhofsvorplatz hatte man einen Luftschutzkeller zum Hotel umfunktioniert. Das Zimmer kostete 4, -DM. Es war winzig klein. Ob es außer Bett auch einen Schrank und Waschgelegenheit hatte, weiß ich nicht mehr. Es war auch völlig nebensächlich. Aber zwei Dinge weiß ich noch sehr genau. Zunächst der überwältigende Eindruck dieser lichtüberfluteten Großstadt.

Glühenden Herzens, voller Spannung stieg ich meine Keller-Hotel-Treppe hoch und stand inmitten dieser glänzenden Pracht. Man bedenke - ich kam aus grauen, verdunkelten Städten - erst wegen des Luftkrieges und danach wegen Stromersparnis. 22 Uhr wurde jede Straßenbeleuchtung abgeschaltet und davor war meistens Stromausfall. Zunächst war da ein Kiosk - auch was Neues - der mir in Form von Kakao mein Abendbrot liefern sollte. Kaum hatte ich den Becher an die Lippen gesetzt, als ein dunkelhäutiger Soldat neben mir stand. Er bestellte ein Bier und starrte mich an. Unverholen, eindeutig. Ich liess mein "Abendbrot" stehen und ging weg. Er ließ sein Bier stehen und lief neben mir her. "Wo du wohnen"'? "Ich weiß nicht wo schlafen". "Will nur schlafen, bin müde. Wenn aber nicht nur schlafen du bekommen zwanzig Mark."

Ich schwieg. Ging im Kreis zurück Richtung Kellerhotel. Als er das merkte, stoppte er ein Taxi und versuchte mich mit Gewalt hinein zu ziehen. Ich riß mich los und lief die Kellertreppe hinunter in mein Zimmer. Gleich danach hörte ich eine mir wohlbekannte, tiefe, rollende Negerstimme an der Rezeption. Ich steckte den Kopf zur Tür heraus und sah seinen Rücken. Der Portier aber sah mich, kam und fragte, ob der Herr zu mir gehöre. Ich sagte was geschehen war und erhielt den Rat lieber nicht mehr rauszugehen. Zum Soldat sagte er sehr ärgerlich: "Sie wissen ganz genau, daß sie hier nichts zu suchen haben!" Damit war mein erstes Großstadterlebnis im Westen beendet.

Am nächsten Morgen spazierte ich noch etwas herum, besichtigte wenigsten den "'Römer" und fuhr dann per Fahrrad weiter nach Heidelberg. Rechtzeitig vor Dunkelheit kam ich an und fragte sofort nach der Jugendherberge.

Nun erlebte ich meine zweite große Westenttäuschung. War ich doch ganz sicher gewesen hier für wenig Geld übernachten zu können - (so wie ich ganz sicher war, daß ganz Westdeutschland großes Mitleid mit uns armen Brüdern und Schwestern in der Sowietzone hatte) - mußte ich nun erfahren, daß eine Übernachtung nur mit gültigem Jugendherbergsausweis möglich sei. Ich konnte es nicht fassen, brach in Tränen aus. Auch die Umstehenden begriffen es nicht, redeten sogar für mich auf den Herbergsvater ein, der aber blieb eisern.

Man riet mir zur Polizei zu gehen. Ich tat es. Dort glaubte man mir nicht. Einer wollte zusammen mit mir zurückgehen, aber das wollte ich nicht mehr. Da rief er in der JH an, kam zurück und sagte "Es stimmt, der läßt sie nicht übernachten ohne Ausweis". Nun riet man mir zur Bahnhofsmission zu gehen. Ich ging da hin. Um 22 Uhr wurde zugeschlossen, die Schuhe mußten vor der Tür stehen. Im Nachbarbett lag eine junge Frau aus Heidelberg. Sie war bei Amerikanern Hausangestellte, im Stellungswechsel begriffen. Sie zeigte mir am nächsten Tag ihre Heimatstadt bevor ich weiterfuhr, bei herrlichem Herbstwetter die Weinstraße entlang. Es war Weinlesezeit. Per Fahrrad fuhr ich meinem Ziel, Dietlingen bei Pforzheim entgegen. Dort erwartete mich ein Bekannter. Er war einer von denen, die vorher über die Grenze geschleust hatte. Im Nachbardorf Ellmendingen hatte er mir ein Zimmer besorgt. Zimmer zu kriegen war sehr schwierig, in Pforzheim total unmöglich, weil völlig zerbombt.

Das Zimmer befand sich in einem kleinen Neubau aus Holz. Es kostete DM 40,- war ohne Heizungsmöglichkeit und ohne Wasser, oder gar Kochgelegenheit. Wasser, kalt, mußte ich in der Küche meiner Vermieterin, Frau Augenstein (zweidrittel der Dorfbewohner hatte diesen Namen - ohne daß sie miteinander verwandt waren - sie sahen sich nur alle sehr ähnlich) - holen.

Nach einer Woche erklärte mir die alleinstehende alte Dame, daß sie ins Krankenhaus müsse und die Küche abzuschließen gedenke. Auf meine schüchterne Bitte, sie wegen des Wassers doch bitte offen zu lassen, antwortete sie empört, daß sie doch mit mir wildfremden Person im Haus nicht ihre Küche offen lassen könne.

Innerhalb der ersten drei Tage hatte ich mich vorschriftsmäßig polizeilich angemeldet. Als ich etwas später wieder das Rathaus aufsuchte für einen Antrag auf Ausstellung eines Personalausweises, betrat ich einen Raum, in dem sich einige Herren versammelt hatten. Noch bevor ich Gelegenheit hatte "Guten Tag" zu sagen, donnerte mich einer von ihnen an: "Wie kommen sie denn nach Elllmendingen? Ich sehe sie hier auf der Straße herumlaufen und sie belegen hier einfach ein Zimmer, wo ich sie doch überhaupt nicht kenne." Ich antwortete, daß ich mich vorschriftsmäßig angemeldet hätte, aber mir dabei niemand gesagt hat, daß ich mich bei ihm vorstellen müßte und daß ich das von woandersher nicht so kennen würde. Darauf er: "Gehen sie doch hin wo sie haben durchgehen müssen."

Bleibt noch zu erwähnen, daß ich mir am zweiten Tag meiner Ankunft eine Arbeitsstelle in Pforzheim gesucht habe und am dritten Tag die Arbeit aufnahm.

Als ich am Ende des Jahres die einbehaltene Lohnsteuer für zweieinhalb Monate zurück erhielt, fand ich das unerhört großzügig.

So bescheiden waren wir Ost-, nein besser Mitteldeutschen einmal!

Eva Schott - Überlingen / Oktober 1999