Stefan Schwob, Jg. 1930
H U N G E R
Hunger ist ein starkes Verlangen nach Nahrung und das hatte ich ab Ende des 2.Weltkrieges und Ende Mai 1945 für längere
Zeit ständig. Ich war damals 14 ½ Jahre alt nun bekam ich den grausamen Hunger am eigenen Leib zu spüren. Mit dem
Pferdegespann kam ich mit meinen Eltern und Geschwistern aus der Steiermark nach dreiwöchiger Reise im Haus meiner Eltern
in Slawonien an. Am gleichen Tag gab der Volks-Befreiungs-Ausschuß (NOO) durch Trommelschlag bekannt, dass wir nur diese
Nacht in unserem Haus verbringen dürfen und uns am nächsten Morgen bereithalten müssen, damit man uns in die Kreisstadt
Djakovo in ein Sammellager für Deutsche bringt. Nach den AVNOJ (Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens)
Beschlüssen wird das Vermögen aller Deutschen konfisziert und alle staatsbürgerlichen Rechte aberkannt (Kollektivschuld,
weil wir Deutsche sind).
In einer ehemaligen deutschen Mühle hat man uns eingepfercht, alle Deutschen aus dem ganzen Landkreis. Die Bewachung durch
die Partisanen war streng, es gab kein Entkommen- wohin auch? Die Verpflegung war miserabel und so begann für mich die
Hungerzeit, die Internierung und Unfreiheit. Nach acht Tagen brachte man alle, etwa 300 Personen teils zu Fuß, teils mit
der Bahn nach Tenje bei Essegg. Wegen Überfüllung des Lagers und einer Übernachtung im Freien, brachte man uns nach
Josefsfeld (Josipovac). Auch hier war es überfüllt und danach brachte man uns in das Arbeitslager nach Valpovo. Die
Verpflegung war sehr schlecht - das war gar keine Verpflegung!
Morgens gab es Schlehendornentee, natürlich ohne Zucker. Mittags eine Bohnen-, Erbsen- oder Kartoffelsuppe, in der nur
wenig kleine Kartoffelstückchen oder Bohnenschalen mit sehr wenig Nudeln herumschwammen. Mit ein wenig Einbrenne hat man
die Suppe trüb gemacht und das alles ohne Salz und Fett. Das einzige Fleisch in der Suppe waren die Käfer und Würmer aus
den alten Bohnen oder Erbsen.
Zum Essenfassen habe ich mich mehrmals angestellt, obwohl es nur eine Wassersuppe war. Es gab auch ein kleines Stückchen
Brot, doch es mußte für den ganzen Tag reichen. Es war aus Mais- oder Gerstenschrot, ohne Salz und halb roh. Ich aß zur
täglichen Ration Grashalme und Blätter vom Maulbeerbaum. Ein Sprichwort sagt: "Durst ist schlimmer als Heimweh", das kann
ich nur bestätigen, denn ich litt auch sehr an Durst. Trinkwasser gab es nur am Morgen und am Abend einen halben Liter pro
Person. Für etwa 3000 Personen waren nur zwei Brunnen vorhanden und das bei einem heißen Frühlings- und Sommerwetter 1945.
Wasser ist auch ein Lebensmittel und das hat man uns versagt!
Der Lagerkommandant Josip Globocnik, 23 Jahre alt, war ein „Deutschhasser" und er bestrafte diejenigen, die unter der Zeit
Wasser holten, mit drei Stunden „in die Sonne schauen". Dazu wurden sie an einen Pfahl gebunden und ein Stück Holz wurde
ihnen zwischen Unterkiefer und Brustbein eingeklemmt, damit der Kopf nicht zur Seite geneigt werden konnte. Das habe ich
sehr oft selbst mit ansehen müssen.
Ich bin dann schwer an Ruhr erkrankt und bin bis zum Skelett abgemagert. Ich glaubte damals nicht, dass ich dieses
Todeslager überleben würde. Zudem setzten mir die Läuse, Flöhe und Wanzen in den ehemaligen RAD Baracken sehr zu. Der
ständige Hunger, Durst und der salzlose Fraß ließ nur einen schmalen Grat zwischen Leben und Tod zu. Mehr als tausend
Menschen sind in diesem Hungerlager gestorben.
Das Arbeitslager Walpach schickte dann sieben Familien in eine Ziegelei zur Arbeit nach Donji Miholjac. Auch unsere
Familie war dabei. Ohne Stacheldraht und Bewachung, mit gutem Wasser und freier Luft zum Atmen ging es uns besser. Die
Verpflegung war ordentlicher, es wurde mit Salz gekocht und es gab auch etwas Zucker und besseres Brot. Wir konnten im
sauberen Wasser baden und es gab kein Ungeziefer. Mein Vater hat auch mich als Arbeitskraft gemeldet, so bestand die
Familie aus drei Arbeitern und drei Kindern.
Als ich mich langsam erholte, mußte ich zur Arbeit. Zwei kroatische Ziegeleiarbeiter haben die Steine gestampft und ich
mußte sie als „Piccolo" (so nannte man mich) aus der Form herauskippen.
Nach etwa vier Wochen schickte man uns ins Arbeitslager Walpach zurück und nach ein paar Tagen in das Vernichtungslager
Krndija. Dieses ehemals rein deutsche Dorf, stand leer da. Jetzt wurde ihm eine neue Bestimmung zugewiesen, wo bis zu
4000 Inhaftierte hungerten. Der „Fraß" war der gleiche wie in Walpach, alles ohne Salz und Fett gekocht. Die
Wachmannschaften sagten zu uns: "Wir bringen euch nicht um, der Kessel wird euch umbringen!" - also der Hunger!.
Uns größere Kinder haben sie oft zusammengeholt. Wir mußten Schlehenreisig und Eichenrinden für den Tee im Wald holen.
Durch diese Waldgänge entwickelte sich ein Zutrauen zu den Partisanen. Wir Buben kamen in ihren Speiseraum und nachdem
sie gegessen hatten, durften wir die Reste aufessen und die Teller ausschlecken. Wir hatten deshalb kein Schamgefühl,
der Hunger war immer der Stärkere. Eines Tages stellten sie uns Buben an die Wand, luden die Gewehre durch, sechs Posten
zielten auf sechs Buben und sagten:" Jetzt werdet ihr erschossen!". Sie ließen zwar von uns ab, aber ich ging nie wieder
zu den Posten. Es gab mehrmals Erschießungen, auch Jugendliche wurden erschossen.
Mein gleichaltriger Cousin und ich verlegten uns auf das Betteln in den umliegenden Dörfern und bis in unseren 25 km
entfernten Heimatort - der Hunger hat uns getrieben. Manchmal konnten wir mehr, manchmal weniger ins Internierungslager
einschmuggeln.
In diesem Todeslager starben an Hunger, Typhus und Erschießungen 1300 - 1500 Menschen, darunter auch 17 Personen aus
meinem früheren Heimatort und auch meine Großmutter. Alle Toten wurden ohne Sarg in ein Massengrab verscharrt.
Im Herbst 1945 kam ich zu einem Bauern in meinen früheren Heimatort. Dort mußte ich alle anfallenden Arbeiten in Haus,
Hof, Stall, Feld, Weinberg und in der Baumschule erledigen. Essen durfte ich mit dem Bauern, der Bäuerin und dessen
Tochter am Tisch, aber nur soviel, wie ich auf den Teller bekam - gereicht hat es nie! Ich half deshalb dem Bauern den
Wein und Schnaps zu trinken. Die große Hungerszeit war auf jeden Fall für mich vorbei.
Stefan Schwob, Mai 2000