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Hermann Stark, Jg. 1929


Hermann Stark als 13-jähriger

"...,denn die Fahne ist mehr als der Tod."


Das "Fähnlein" der zehn- bis vierzehnjährigen Hitlerjungen - "Pimpfe" genannt - marschiert an einem Sonntagmorgen Mitte Juni 1942 zu einem gemeinsamen Treffen aller "Pimpfe" der Region in unsere nahegelegene Kreisstadt. Voraus geht der Spielmannszug mit neun Fanfarenbläsern, vier Sturmtrommlern und zwei Landsknechtstrommlern. Das "Fähnlein" besteht aus vier Jungzügen mit jeweils drei Jungenschaften, die sich wiederum aus 12 "Pimpfen" als kleinste Einheit zusammensetzen. Diese Organisationsstruktur ist dem militärischen Aufbau einer Kompanie nachgestaltet. Die Schulung und der Drill der Hitlerjugend entsprechen einer militärischen Ausbildung.

Mythen und Legenden der germanischen Kultur, sowie deutsche Helden aus dem ersten Weltkrieg (1914-1918), insbesondere aber des damalig stattfinden Krieges, verflochten sich bei uns Jungen mit Karl-May-Romantik und Abenteuerlust. Meldungen über Heldentaten und über die Verleihung hoher Auszeichnungen, auch an einfache militärische Dienstgrade, vermittelten uns "Pimpfen" das Hochgefühl, zu diesem Volk der "Helden" zu gehören. Unser Bestreben, diesen Vorbildern nachzueifern, ist verständlich und wird von den Machthabern gewünscht. Unser Ehrgeiz ist es, unseren Dienst in der Hitlerjugend als "Pimpfe" zu erfüllen, damit wir den an uns gestellten Erwartungen und Forderungen ganz entsprechen. Adolf Hitlers Ausspruch, seine Jugend sei "hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, schnell wie Windhunde", ist bei Schulungen immer ein Bestandteil der Unterweisung und prägt sich im Laufe der Zeit unauslöschlich in unsere jugendliche Phantasie ein. Deshalb kann uns auch beim frühzeitigen Abmarsch aus unserer Kleinstadt die über Nacht hereingebrochene "Schafskälte" in unseren leichten Uniformen nichts anhaben.

Die Fanfaren schmettern und die Trommeln wirbeln den Takt dazu. Das anschließende Lied auf unseren Lippen: "Unsere Fahne flattert uns voran...
denn die Fahne ist mehr als der Tod ..." vermittelt uns "Pimpfen" ein Gefühl der Stärke, der Unempfindlichkeit, der Dazugehörigkeit und der Zusammengehörigkeit. Einfach das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, denn es stimmt ja: "Unsere Fahne flattert uns voran..."

Nach einem zweistündigen Marsch erreichen wir die zehn Kilometer entfernte Kreisstadt, wo zum gleichen Zeitpunkt, wie abgestimmt, die anderen "Fähnlein" mit ihrem Spielmannszügen und Fahnen eintreffen. Je vier Fähnlein sind in einem "Stamm" zusammengefaßt und formieren sich in vorher abgesprochenen Straßenzügen zu Marschblöcken, die wiederum gemeinsam zum zentral gelegenen Versammlungsplatz marschieren. Je nach Landkreisgröße bilden vier bis fünf "Stämme" einen "Bann", der jeweils das Verwaltungsgebiet eines Landkreises umfaßt und von einem "Bannführer" geleitet wird. Der "Bannführer" ist der einzige "Erwachsene" in der Führungsstruktur. Die Stammführer sind in der Regel Oberschüler zwischen 15 und 18 Jahren bzw. junge Leute, bis sie zur Wehrmacht eingezogen werden. Die Fähnleinführer, oft nicht älter als ihre Untergebenen, das sind 140 bis 150 "Pimpfe", sind im Altere von 13 bis 15 Jahren. Der Aufmarsch in der Kreisstadt von weit über 1000 "Pimpfen", die Fahnen, die Musik der Spielmannszüge, die Lieder und besonders die Ansprachen des Bannführers und anderer Parteifunktionäre vermitteln uns einen Eindruck von den Aufmärschen und Reden, die wir von den Wochenschauen in Kino her kennen.

Der Ablauf des ganzen Tages wirkt auf uns wie hypnotisierend, ganz besonders natürlich auf die Jugendlichen Führer. Nach 26 Kilometern Fußmarsch, die sich über den ganzen Tag verteilten, erreichen wir gegen 18 Uhr unsere Kleinstadt. Wir "Pimpfe" vom Spielmannszug sind von den Strapazen des Tages besonders ermüdet; haben wir doch den ganzen Tag unsere Instrumente getragen und immer wieder gespielt. Unser gleichaltriger Fähnleinführer, immer noch erfüllt von Begeisterung, will natürlich mit klingendem Spiel, wie beim Auszug am Morgen, mit seinen "Pimpfen" in den Ort einziehen. Beim Erreichen der ersten Häuser erfolgt der Befehl zum Abspielen des Ferbeliner Reitermarsches. Stattdessen erklingt jedoch die Melodie, die der Müdigkeit aller Jugendlicher zu diesem Zeitpunkt entspricht.

Die im Tal aufkommende Hitze am frühen Nachmittag, die mangelnde Flüssigkeitszufuhr und der anschließende zweistündige Heimmarsch hat unsere letzten Kraftreserven mobilisiert. Unser Einsatz der Fanfaren und Trommeln entspricht nicht den Erwartungen unseres Fähnleinführers. Nach dem Schlußappell am Marktplatz können alle "Pimpfe" heimgehen. Nur der Spielmannszug, nunmehr unter dem alleinigen Kommando des Fähnleinführers, marschiert zum Sportplatz zum "Strafexerzieren". Unser jugendlicher Fähnleinführer in Alter von 14 Jahren kann in seiner politischen Verblendung, aufgrund seiner mangelnden Ausbildung und fehlender Einsicht nicht erkennen, daß wir 12- bis 14-jährigen "Pimpfe" an diesem Tag am Ende unserer Kräfte sind.

Eine Mutter beobachtet diesen Marsch zum Sportplatz und ahnt vielleicht, was ihrem Sohn und seinen Freunden bevorsteht. Nach kurzer Zeit erscheint diese Mutter mit Courage auf dem Sportplatz und macht den unwürdigen Treiben des jugendlichen Anführers, gepaart mit dessen Verblendung, Engstirnigkeit und Egoismus, ein Ende. Der unwürdige Abschluß dieses mit viel Freude und Enthusiasmus begonnen Tages hatte für alle Beteiligten im nachhinein keine persönlichen Folgen und geriet bald in Vergessenheit.

Nachwort:

Nicht ohne Folgen blieben jedoch die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges (1939-1945) auf diese Jugendgeneration.
Der Fähnleinführer wurde zum Jahreswechsel 1944/1945 zum Kriegsdienst einberufen und durch einen Granatvolltreffer getötet.
Die Kräftigsten des Jahrganges 1929 wurden noch im April 1945 als letztes Aufgebot zum Kriegsdienst herangezogen.
Der Verfasser dieses Berichtes kehrte am 13. Mai 1945 aus zweimaliger Gefangenschaft (russischer und tschechischer), der er sich durch Flucht immer wieder entziehen konnte, in sein Elternhaus als noch nicht Sechzehnjähriger zurück. Im Jahre 1946 verloren diese Jugendlichen mit ihren Angehörigen ihre Heimat durch Vertreibung und wurden in alle Winde zerstreut.

Der Traum von einem großdeutschen Reich mit einer glorreichen Zukunft endete für diese verführte Jugend in Enttäuschung und Verbitterung.
Die Nachdenklichkeit sollte bleiben.



Hermann Stark, Juli 1998