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Wolfgang Walther,
Jg. 1929
Erlebte Grenzen
1939-1949
(Ausweisfoto vom Mai 1945)
In meiner Jugendzeit waren die Landesgrenzen häufigen Veränderungen unterworfen.
Die Politik des Dritten Reiches, der Kriegsverlauf und dessen Ende wirkten sich aus.
1939
In der Vorkriegszeit war ich noch keine 10 Jahre alt. Nach meiner Erinnerung bildeten die Reichsgrenzen damals eine Art von Wendemarken für familiäre Ferienfahrten. Zwar waren Auslandsreisen nicht verboten, für die "normale deutsche Familie" war es jedoch üblich, den Urlaub innerhalb des Reiches zu verbringen. Mit dem sogenannten "Anschluss" Österreichs hatte der verfügbare Erholungsbereich 1938 ohnehin eine beträchtliche Ausweitung erfahren.
Für uns Kinder waren die Reichsgrenzen etwas Selbstverständliches, und der Anblick einer bewachten Grenzstation gab uns das Gefühl, in einem geschützten Lande zu leben.
1939-1945
Im September 1939 führte der Kriegsbeginn zur rigorosen Schliessung dieser Grenzen, sodass auch neutrale Länder wie die Schweiz ab diesem Zeitpunkt nur noch mit besonderer Genehmigung aufgesucht werden konnten. Die Westgrenze gegenüber Frankreich war überdies durch den WESTWALL gesichert, eine nationale Verteidigungsanlage, die in der MAGINOT-LINIE auf französischer Seite ihr Gegenstück fand.
Mit dem Vorrücken deutscher Truppen in fremde Länder wurden unsere Grenzvorstellungen dann ständig verändert. Zunächst erfolgte die Besetzung von Polen, angeblich, um die dortige deutsche Minderheit zu schützen. Rasch aber zeichnete sich ab, dass hier auch gravierende Grenzverschiebungen beabsichtigt waren, um "altes deutsches Land zurückzuholen". 1940 begann die Eroberung Frankreichs, wobei die französischen Grenzbefestigungen über Belgien und Holland umgangen wurden.
Grenzüberschreitungen im Norden schlossen sich an, die zur teilweisen Besetzung der neutralen Staaten Dänemark und Norwegen führten. Als neue militärische Westgrenze entstand dort der ATLANTIKWALL, der eine befürchtete Invasion Englands verhindern sollte.
Griechenland und die Balkanstaaten wurden besetzt, und schliesslich drangen deutsche Truppen ab 1941 in die Sowjetunion ein.
Viele Staatsgrenzen erfuhren damals "Korrekturen", da das Deutsche Reich nach der Eroberung einzelner Länder in der Regel auch Gebietsansprüche geltend machte. Für uns Kinder war es in der ersten Kriegshälfte Ehrensache, auf grossen Karten laufend die Fähnchen umzustecken, die den Vormarsch unserer Soldaten markierten. Es entstand eine zweite Grenzkategorie, die des (zunächst wachsenden) deutschen Machtbereiches. (Beim späteren deutschen Rückzug, etwa ab 1943, wurden die Fähnchen allerdings nicht mehr umgesteckt!)
1945
Mit Kriegsende gab es für unsere Grenzerfahrungen eine neue Dimension, der Bewegungsspielraum jedes Einzelnen wurde auf ein Minimum reduziert. Dabei traf uns nicht nur die ziemlich willkürliche Begrenzung der Besatzungszonen. Nach dem "Zusammenbruch" Anfang Mai 1945 war es auch verboten, die Grenzen der eigenen Stadt ohne Genehmigung zu verlassen. Diese Erfahrung musste ich in meiner Heimatstadt Urach machen. Da die Schulen bis zum Herbst geschlossen blieben, versuchten viele von uns, zunächst einmal bei der Landwirtschaft unterzukommen. So fand ich in einem Gestütshof, etwa 3 km von Urach entfernt, eine Stelle als landwirtschaftlicher Helfer. Um vom Arbeitsplatz ungehindert nach Hause und zurück wandern zu dürfen, benötigte ich jeweils einen LAISSER PASSER, einen Passierschein des französischen Stadtkommandanten. Auch für Besuche bei Verwandten oder Bekannten im Uracher Umfeld, also innerhalb derselben Besatzungszone, musste man einen solchen Passierschein beantragen und begründen.
1945-1949
Gegen Ende des Jahres 1945 reduzierten sich die Grenzprobleme auf die Übergänge zwischen den Besatzungszonen. Hier waren allerdings noch viele Schikanen und Tragödien zu verzeichnen, bis die Souveränität auch im innerdeutschen Reiseverkehr auf die Bundesrepublik überging. Zwar führte 1947 die Bildung der BI-Zone, d.h., die verwaltungsmässige Vereinigung des britischen und des amerikanischen Besatzungsgebietes, zu gewissen Verbesserungen, die Grenzschwierigkeiten zwischen der französischen und der BI-Zone blieben jedoch noch 2 Jahre bestehen. Da die erforderlichen Passierscheine oft gar nicht oder nicht rechtzeitig ausgestellt wurden, musste die Grenze häufig "unberechtigt" überquert werden. Wurde jemand dabei erwischt, blieb es der Willkür der Franzosen überlassen, ob er zunächst einmal eingesperrt wurde oder nicht. Da auch nirgends verbindlich geregelt war, was man mit über die Grenze nehmen durfte, war stets zu befürchten, dass man bei dortigen Kontrollen - selbst mit Passierschein - alles abliefern musste, was einem beispielsweise hilfreiche Verwandte in der wirtschaftlich besser versorgten amerikanischen Zone zugesteckt hatten.
Es gab natürlich zahllose Tricks, um das Grenzrisiko zu reduzieren. Als Internatsschüler in Maulbronn (amerikanische Zone) pendelte ich zwei Jahre lang an einzelnen Wochenenden zwischen meinem Schulort und meiner Heimatstadt Urach (französische Zone). Für die Bahn bildete Bempflingen die Zonengrenze. Alle Züge mussten hier so lange warten, bis sämtliche Fahrgäste kontrolliert waren. Wer vermeiden wollte, ohne Passierschein "geschnappt" zu werden, hatte folgende Möglichkeiten : entweder er verliess seinen Wagon über die hintere (offene) Plattform, sobald die Soldaten die vordere betraten, und kroch auf der Bahnhof-abgewandten Seite dem Zug entlang, um dann in einen bereits kontrollierten Wagon einzusteigen. Dieses Manöver glückte allerdings nur, wenn keine 2.Kontrollgruppe unterwegs war.
Die einfachere Methode bestand darin, unter einen der Holzsitze zu kriechen und sich mit den langen und weiten Röcken sitzender Bauersfrauen kaschieren zu lassen. Dieses Versteck setzte jedoch einen relativ kleinen Körperbau voraus, da die eingebauten Bänke nicht sehr grosszügig bemessen waren. Erwähnenswert ist dabei, dass die Solidarität unter den Fahrgästen gegen die "Grenzschikanen" der Besatzer eine Denunziation in aller Regel nicht zuliess.
Obwohl ich als Schüler über einen langfristigen Passierschein verfügte, habe ich wegen meines Gepäcks gelegentlich Ängste ausgestanden, so z.B. mit einem Sack voll Bucheckern. 1946 war ein "Bucheles-Jahr", angesichts der trostlosen Verpflegung ein echtes Geschenk des Himmels! Einen Herbst lang wurden von allen, die noch halbwegs krabbeln konnten, Bucheckern gesammelt, einige schafften mehrere Zentner. 7 Pfund "Buchele" ergaben 1 Liter Öl - wenn man sie in der amerikanischen Zone pressen liess. Die Franzosen jedoch verlangten in ihrer Zone 12 Pfund für 1 Liter, jeweils 5 Pfund gingen als Wiedergutmachung nach Frankreich. Diese Abschöpfung sahen viele Bürger nicht ein, und so begann der Bucheckern-Schmuggel über die Grenze. Auch ich transportierte das Sammelgut meiner Familie in die amerikanische Zone und brachte von dort das Öl zurück, unerwischt. Es war ein Alptraum, an der Grenze eventuell alles zu verlieren, was aus wochenlanger Arbeit stammte.
Wesentlich lockerer ging es an der Zonengrenze bei Suppingen zu. Da ich ab 1947 ein Internat in Blaubeuren besuchte, benützte ich die heutige B28, wenn ich meinen Eltern in Urach gelegentlich einen Besuch per Fahrrad abstatten wollte. Die Grenze befand sich bei einem Waldstück, das zwischen Suppingen und dem jetzigen Albhof liegt. Hier gab es weder einen Schlagbaum noch eine ständige Kontrolle, vielmehr wurde dieser Übergang durch berittene Soldaten überwacht, die (ab und zu) überraschend aus dem vorerwähnten Wäldchen auftauchten. Auf dieser Strecke hatte ich kaum eine Beschlagnahme zu befürchten, da das Gepäck auf meinem Fahrrad in der Regel aus schmutziger Wäsche bestand, die ich zum Waschen nach Urach und wieder zurück transportierte.
Es ist keine Frage, dass diese Zonengrenzen die verhasstesten Grenzen waren, die ich erlebt habe. Sie dokumentierten für uns alle den verlorenen Krieg, dessen Vorgeschichte, Verantwortung und Auswirkungen wir als Jugendliche zu jener Zeit erst allmählich zu begreifen lernten.
Wolfgang Walther, Mai 2000